Anzeige

Sechs Frauen erzählen von ihrem Elternhaus

Vorstadtsiedlung, Kinderheim, Wohnwagen: Das Elternhaus ist der Ort, der uns prägte, gegen den wir rebellierten - und den wir nie vergessen.

Sabine Vitua, 50, Schauspielerin

image

Elternhaus: Kinderheim Johannesstift in Spandau

Als ich klein war, war meine Mutter die Leiterin vom Kinderheim. 86 Waisen lebten hier. Meine Mutter und ich wohnten in einer kleinen Wohnung im Mitarbeitertrakt. Aber das machte nichts, das Gelände war ja riesig, und es war immer viel los. Ich fühlte mich nie allein. Wir Kinder sind zusammen durch das Haus und die umliegenden Wiesen und Wälder getobt, haben jede Ecke und jeden Winkel des großen Hauses ausgekundschaftet. Trotzdem überkommen mich zwiespältige Gefühle, wenn ich an diesen Ort zurückkehre.

Einerseits war ich privilegiert gegenüber den anderen, die ohne leibliche Eltern aufwuchsen. Andererseits gehörte ich auch nicht richtig dazu. Als Scheidungskind hatte ich weder eine intakte Familie, noch war ich Gleichgesinnte zwischen den Waisenkindern. Immer war da dieses Gefühl der Ausgegrenztheit, obwohl niemand mir gegenüber feindselig war. Die meisten Kinder um mich herum hatten niemanden mehr, keine Mutter, keinen Vater, ja oft noch nicht einmal entfernte Verwandte. Sie waren auf sich allein gestellt. Von Zeit zu Zeit überfiel mich eine große Sorge, dass mir das auch passieren könnte. Keine Mutter zu haben war eine zutiefst traurige Vorstellung für mich.

Anja Wüscher, 34, Arzthelferin

image

Elternhaus in Franken

Oft habe ich Sehnsucht nach diesem Ort und meinen Eltern. Wenn ich nicht hier bin, telefoniere ich fast täglich mit ihnen. Als die beiden im letzten Jahr das Haus renovierten und viele Möbel ausrangierten, wurde ich sehr wehmütig, denn an jedem einzelnen Teil hing eine Erinnerung, ein Stück meiner Kindheit. Ich hatte Sorge, dass nun alles ganz anders, eben fremd, aussehen würde. Als ich die neuen Möbel sah, war die Sorge dann verflogen. Meine Eltern bauten das Haus vor über 25 Jahren auf einem Hügel in Schwanfeld mit Blick ins Tal.

Das Esszimmer ist der Treffpunkt der Familie, hier sitzen wir stundenlang zusammen, essen und reden. Der Raum ist wie ein offenes Achteck geschnitten, der jeweils eine Verbindung zu den anderen Räumen im Erdgeschoss hat. Meine Mutter liebt Ecken. Also wurde das Haus um dieses Achteck geplant und anschließend gebaut. So sind meine Eltern: Die Herzensangelegenheiten kommen zuerst. Der Mittelpunkt des Hauses war auch das Zentrum meiner Kindheit. Es beruhigt mich noch heute, wenn ich am Esstisch sitze und auf das Dorf blicke, in dem ich aufgewachsen bin. Mein allergrößter Wunsch ist es, irgendwann mit meinem Mann und meiner Tochter hier einzuziehen.

Franziska Meletzky, 39, Regisseurin

image

Elternhaus in Leipzig

Noch heute spielen die meisten meiner Träume in diesem Plattenbau. Vielleicht weil es diese übersichtliche, in sich geschlossene Welt war. Das Leben hier war wie auf einem Schiff. Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen lebten in diesem Mikrokosmos: Ingenieure, Professoren, Bauarbeiter. Ich wohnte mit meinen Eltern im zweiten Stock in einer hellen Dreizimmerwohnung, in der es nach frischer Wäsche und dem Parfüm meiner Mutter roch. Meine Eltern leben inzwischen woanders, und nur ganz selten verschlägt mich der Zufall hierher, an den Ort meiner ersten Abenteuer als Indianerhäuptling und Mopedbraut. Im Som- mer feierten wir ausgelassene Feste auf dem Wäscheplatz, im Winter im Trockenraum im Keller, zwischen den Schlüpfern von Herrn Trothe und Frau Marklein. Es gab damals weniger Berührungsängste als heute. Der Dachdecker lachte ausgelassen mit dem Professor, und der Lehrer tanzte zu später Stunde rund um den Abfluss im Wäschekeller. Viele Eindrücke von damals verarbeite ich heute in meinen Komödien.

Pia Uhlemann, 46, Grafikerin

image

Elternhaus: Burg Adelebsen in Niedersachsen

Unzählige Erinnerungen kommen in mir hoch, wenn ich hier stehe. Ich war seit vielen Jahren nicht mehr an diesem Ort, und jetzt fühlt es sich an, als würde sich eine Lücke in mir schließen. Als hätte ich diesen Ort schon lange vermisst, ohne dass mir das klar war. Meine Geschwister und ich hatten eine ausgelassene, freie Kindheit auf dieser Burg. Wir wohnten in einem großen Nebenhaus, das mehr Zimmer hatte, als wir eigentlich gebraucht hätten. Mein Vater arbeitete als Chauffeur für den Grafen, meine Mutter war Hausfrau. Viele stellen sich vor, dass wir den ganzen Tag Ritter und Burgfräulein gespielt hätten. Haben wir aber nicht. Es war unsere Zeit, die nichts mit Vergangenheit, sondern nur mit Gegenwart zu tun hatte.

Wir spielten in den Gewölben der Burg und dem über tausend Jahre alten Turm. Wir liefen durch die Wildnis im Park zwischen uralten Bäumen und mittelalterlichen Gemäuern. Manchmal hatten wir das Gefühl, die ganze Welt gehörte uns. Als ich dann in die Schule kam, war es, als hätte mich jemand aus einem Märchen geweckt. Unter den Schülern ging es viel um Konkurrenz, um Neid. So war die Realität außerhalb der Burg. Seither habe ich in vielen Städten und Wohnungen gelebt. Aber irgendetwas hat mich doch wieder in alte Gemäuer gezogen. Seit letztem Jahr lebe ich mit meinem Mann auf der Schweppenburg am Rhein.

Regine Strathmann, 51, Seniorenbegleiterin

image

Elternhaus in Hamburg

Ein Zimmer im Haus meiner Eltern hat für mich immer noch eine ganz besondere Anziehungkraft: das Arbeitszimmer meines Vaters im Erdgeschoss. Dort saß er stundenlang an seinen Tonbandgeräten, zwischen zehntausend Schallplatten, mehreren Stereoanlagen und unzähligen Kabeln. Er war Musikredakteur beim NDR und arbeitete von zu Hause aus. Aufgrund einer Kriegsverletzung hatte er sein Augenlicht verloren, und meine Mutter und wir Geschwister mussten ihm im Alltag oft unter die Arme greifen. Ich machte sogar einen Lötkurs, um Stecker reparieren zu können, und half ihm beim Verkabeln, wenn er seine Sendungen vorbereitete.

Mein Vater lebt heute nicht mehr, aber immer wenn ich nach Hause komme, ist es, als säße er noch hinter seiner Tür und überlegte, wie er die Seemannslieder aneinanderreihen könnte. Aus irgendeinem Raum kam bei uns immer Musik, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wir Kinder spielten alle ein Instrument, und ich habe gern gesungen. Wenn Besuch kam, rollten meine Eltern den Teppich im Wohnzimmer beiseite, und dann wurde getanzt. Wir hatten eine glückliche und unbeschwerte Kindheit. Wenn meine Mutter nicht mehr ist, weiß ich nicht, was ich mit dem Haus machen soll. Ich könnte es nicht verkaufen. Nein. Niemals.

Vanessa Markmann, 23, Schaustellerin

image

Elternhaus in Frankfurt

Unser Wohnmobil war wie eine Schutzhülle für mich, und doch habe ich mich hier immer frei gefühlt. Es ist nur 56 Quadratmeter groß, aber für ein Wohnmobil ist das riesig. Die anderen Schaustellerkinder kamen am liebsten zu mir, denn ich hatte ein eigenes Zimmer. Wir mussten uns nicht in U-förmige Sitznischen quetschen, sondern lagen auf der Couch im Wohnzimmer. Wenn wir zu den Jahrmärkten fuhren, saß ich stundenlang vorn bei meinem Vater. Für die meisten Kinder ist das ja ein Gräuel, für mich war es das überhaupt nicht. Ich fand es immer aufregend, neue Orte zu erobern, neue Kinder kennen zu lernen. Aber irgendwann wurde mir das Leben mit meinen Eltern und meinem Bruder doch zu eng, ich musste da raus. Heute habe ich meinen eigenen Wagen, das ist nicht immer leicht als Frau. Aber ich bin im Jahrmarktstrubel groß geworden, zwischen Endlos-Musikschleifen, Lichterketten, vielen Menschen und dem Geruch von gebrannten Mandeln. Das ist mein Zuhause. Das liebe ich.

Text: Andin Tegen Fotos: Marcus Höhn BRIGITTE Woman, 09/11

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel