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Verkehrte Welt

Altes Paar an See
© Ruslan Huzau / Shutterstock
Auf einmal wirken sie klein und zerbrechlich. Wenn wir merken, dass unsere Eltern alt werden, zerreißt es uns das Herz. Denn wir ahnen: Bald brauchen sie unsere Fürsorge.

Es war nur ein kurzer, leiser Moment der Irritation, keine dramatische Erschütterung, und trotzdem wusste ich, dass für mich eine neue Zeitrechnung angefangen hatte. Meine Eltern besuchten uns in Berlin. Sie waren eine Weile lang nicht hier gewesen und wollten mit der S-Bahn zur Museumsinsel fahren. Ich begleitete sie zum Bahnsteig, und plötzlich erschien mir meine Mutter im Menschengewimmel klein und verloren. Mein Vater starrte ratlos auf den Fahrkartenautomaten. Ich drängte mich vor den Mann, der mir jahrelang geduldig die Welt erklärt hat, und zog schnell für ihn die Fahrscheine. Als ich die Stationen wiederholte, an denen sie aus- und umsteigen mussten, verfiel ich in denselben schrecklichen Oberlehrerinnentonfall, bei dem ich mich manchmal ertappe, wenn ich meiner Tochter zum dritten Mal dieselbe Mathematikaufgabe erkläre. In diesem Moment spürte ich, dass sich in unserem Familiengefüge etwas unwiderruflich verschoben hatte.

Abends kamen meine Eltern zurück, gut gelaunt und aufgekratzt. Mein Vater verkündete triumphierend, er habe eine noch schnellere Verbindung gefunden, die er mir mal eben erklären wolle. Meine Mutter gab mir Haushalts- und Erziehungstipps. Die alte Ordnung war wieder hergestellt - scheinbar. Das Erstaunliche: Ich fühlte mich erleichtert. Ich, die ich jahrelang mit den beiden um meine Eigenständigkeit gerangelt und gekämpft hatte, fand es plötzlich tröstlich, wohl gemeinte Ratschläge zu bekommen.

Eltern sind nicht unsterblich: Sie werden alt und fühlen sich oft auch so

Es gibt viele kleine Anzeichen dafür, dass die Eltern alt werden. Wir merken, dass sie vieles vergessen oder es anstrengend finden, Gäste zu bewirten. Sie brauchen ihren Mittagsschlaf und nehmen sich eine Putzhilfe, obwohl sie noch vor einem Jahr behauptet haben, dass ihnen niemals eine fremde Person dafür ins Haus käme. Sie überlassen uns widerspruchslos die Küche, in der wir jahrelang keinen Handgriff machen durften, klagen über Schmerzen im Knie, Kurzatmigkeit beim Trep pensteigen und Appetitlosigkeit.

Natürlich passiert das nicht alles gleichzeitig, sondern peu à peu. Zuerst fällt es uns kaum auf - einen schlechten Tag hat ja jeder mal. Dann reden wir uns ein, es sein eine Phase, die vorübergeht. Wir denken, wenn sie "sich etwas zusammenreißen würden", könnten sie ihr Leben doch genießen, und schämen uns für diesen Gedanken. Wir reagieren mit Abwehr, fühlen uns auf eine subtile Weise bedroht und sagen: "Gut seht ihr aus", obwohl wir erschrocken sind, weil wir auf einmal die vielen Falten am Hals unserer Mütter bemerken und unsere Väter verstörend klein wirken. Es ist, als hätten wir lange durch sie hindurchgesehen. Wir wollen nicht wahrhaben, dass der Countdown läuft. Denn dann würden wir auch unsere eigene Lebensuhr hören, die immer lauter und schneller tickt.

Fast unmerklich werden meine Eltern langsamer, ihr Radius verkleinert sich, ihr Blick richtet sich in die Vergangenheit. Meine Eltern wollen über früher sprechen, ich über das Jetzt und die Zukunft. Sie lieben es gemütlich, mein Tempo ist hoch. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages nach einem Wochenendbesuch den vorwurfsvollen Satz "Was? Du fährst schon wieder?" vermissen würde. Dass er letztes Mal ausblieb, hat mich irritiert. Wieder so ein Zeichen.

Es ist paradox: Innerlich sind meine Eltern mir näher als je zuvor, vor allem seit ich selbst Mutter bin. Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, morgens einem Schulmädchen fröhlich nachzuwinken und dabei ängstlich zu denken: "Hoffentlich passt sie auf, wenn sie über die Straße geht." Es sind diese kleinen Momente, in denen ich mich auf einmal in meine Mutter hineinversetzen kann, was mir lange nicht gelingen wollte.

Die Welten von Kindern und Eltern driften auseinander

Doch während diese stille Annäherung geschieht, driften unsere äußeren Welten immer weiter auseinander. Ich fliege heute nach München und nächste Woche nach Zürich, meine Mutter dagegen mag keine Autofahrten mehr, die länger als zwei Stunden dauern. Seit unsere Tochter größer ist, liebäugele ich wieder mit Fernreisen, meine Eltern aber sitzen am liebsten zu Hause auf ihrer sonnigen Terrasse. Ich mache Yoga und jogge dreimal die Woche, mein Vater kann wegen seiner Arthrose nur mühsam laufen und tut alles, um seinen Schmerz zu verbergen. Er will vor seinen Kindern nicht schwächeln. Dezente Hinweise auf neue Behandlungsmethoden wehrt er ab. "Ach was, alles nicht so schlimm, wie es aussieht." Am liebsten möchte ich ihn zur Ärztin schleppen, so wie er mich früher zum Kinderarzt begleitet hat. Es kommt mir manchmal vor wie "Verkehrte Welt".

Wenn die Eltern uns die ersten deutlichen Signale geben, dass sie ihren Schwung verlieren, fühlen wir uns in den besten Jahren, sind voller Pläne und schwer beschäftigt. Sie hingegen spüren, dass sie den größten Teil ihrer Lebenszeit hinter sich haben, und denken in kürzeren Abschnitten. Wenn ich meine Mutter frage, ob sie schon Pläne gemacht habe für ihre goldene Hochzeit nächstes Jahr, wehrt sie ab: "Mal sehen, wie es uns dann geht." Was sie mir zwischen den Zeilen damit sagt, will ich nicht hören. "Aber abgesehen von ein paar Zipperlein seid ihr doch fit", entgegne ich und überspiele damit meine Sorge, sie könnte überraschend schnell abbauen. Manchmal lasse ich diese Angst an mich heran. Für den Bruchteil einer Sekunde. Es fühlt sich an wie ein schweres Unwetter, das langsam auf mich zukommt mit der Kraft, mich zu Boden zu werfen. Bevor es näher kommt, hänge ich schnell Wäsche auf, telefoniere, tue irgendwas, um mich abzulenken.

Noch vor zehn Jahren habe ich keinen Gedanken an das Alter meiner Eltern verschwendet. Es gab nur das abstrakte Wissen: Wir werden alle irgendwann alt. Heute spüre ich einen Stich, wenn ich meinen Vater humpeln sehe. Gern würde ich eine Salbe erfinden, die seine Schmerzen verschwinden lassen. Ich bin 44 und stelle fest, dass ich meine Eltern all die Jahre auf eine kindliche Weise für unsterblich gehalten habe. Haben sie nicht erst vor Kurzem ihren 50. Geburtstag gefeiert? Wie kann es sein, dass sie plötzlich 75 sind? Wo war ich in der Zwischenzeit? Mit mir beschäftigt, mit der Suche nach mir selbst, dem richtigen Job, dem richtigen Mann . . . Meine eigenen Veränderungen haben mich so absorbiert, dass ich ihre aus dem Blick verloren habe.

Ich bin nicht die Einzige, der es so geht. Auch meine Freundinnen reiben sich verwundert die Augen, wenn ihre Mütter nach einer längeren Pause zu Besuch kommen. Schwupps, sind 25 Jahre vorbei und - als würde uns ein Schleier vor den Augen weggezogen - merken wir, dass sich etwas radikal geändert hat. In der Kindheit wirkten unsere Eltern unendlich stark, allwissend und unverwundbar. Sie konnten Krankheiten wegzaubern, böse Geister vertreiben, sogar Ungeheuer unterm Bett verscheuchen.

Sie hatten auf alles eine Antwort. Und während wir uns abgenabelt, verliebt, entliebt, immer wieder neu erfunden und an neuen Orten eingerichtet haben, ist das innere Bild, das wir von den Eltern mit uns herumtragen, gleich geblieben. Darauf sind sie ewig jung. Doch das Bild bekommt Risse. Uns wird klar, dass sie es bald sind, die Schutz und Fürsorge brauchen. Etwas in uns rebelliert gegen diese Rollenumkehr. Es gibt einen Teil in uns, der Kind bleiben möchte. Auch wenn wir längst erwachsen sind, ist es ein gutes Gefühl, die Eltern im Rücken zu haben. Einfach zu wissen, dass sie da sind. Solange unsere Eltern leben, bleiben wir Kinder, auch wenn wir schon längst selbst welche haben.

Das Leben ist voller Ungleichzeitigkeiten

Manchmal werde ich darüber melancholisch und gleichzeitig ein wenig trotzig, weil es mir nicht gefällt, dass das Leben voller Ungleichzeitigkeiten ist. Ich befinde mich genau in der kurzen Lebensphase, in der eine Begegnung mit den Eltern auf Augenhöhe möglich ist. Die heftigen Ablösungskämpfe sind ausgefochten. Sie haben akzeptiert, dass ich anders arbeite, anders liebe, anders erziehe. Sie können zugeben, dass sie in manchen Punkten zu streng waren. Und ich kann eingestehen, dass ich sie oft vor den Kopf gestoßen haben. Doch kaum habe ich angefangen, diese neue Qualität zu bemerken und zu genießen, verflüchtigt sie sich schon wieder. Weil eine neue Phase beginnt, in der die Rollen sich verschieben, und ich fange an, mütterliche Gefühle zu entwickeln für die Frau, die mich geboren, gewickelt und gefüttert hat. Daran muss ich mich erst gewöhnen.

Wie viel Zeit uns mit den Eltern bleibt, wissen wir nicht. Diese Ungewissheit verunsichert beide Seiten, selbst wenn wir darüber weder nachdenken noch reden. Wir schließen Reiserücktrittsversicherungen ab, was uns vorher nicht im Traum eingefallen wäre, und melden uns regelmäßig aus dem Urlaub. Manchmal plagt uns das schlechte Gewissen. Wir würden uns gern mehr kümmern, die Eltern öfter besuchen, ihnen unter die Arme greifen, etwas für sie tun und kommen an unsere Grenzen, fühlen uns egoistisch wie Rabentöchter. Wir trösten uns damit, dass unsere Eltern zu viel Fürsorge aus Stolz zurückweisen würden, und damit, dass das Leben nicht zurückfließt. Selbst wenn wir alle Zeit der Welt hätten, könnten wir das, was wir von den Eltern bekommen haben, nicht zu rückgeben, wir können es nur weitergeben.

Ich würde mich gern vorbereiten auf das, was kommt. Aber ich habe keine Vorstellung, was mich erwartet. Es ist, als wollte ich für ein Examen lernen, ohne zu wissen, in welchem Fach ich geprüft werde. Also lerne ich gar nicht und hoffe, dass ich trotzdem durchkomme. Beim letzten Telefonat klang meine Mutter aufgekratzt wie ein junges Mädchen. Es hat mich unendlich erleichtert: 75 ist doch kein Alter.

Zum Weiterlesen: Victor Chu: "Jongleure der Lebensmitte. Von der Kunst, Kinder, Eltern und eigene Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen", 176 S., 12,95 Euro, Kösel-Verlag

Text: Brigit Schönberger

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