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Die Sandwich-Frau

Sie liebt ihren Mann. Sie liebt ihren Sohn. Aber die beiden kommen einfach nicht miteinander klar. Seit Jahren versucht sie den Streit zu schlichten. Vergeblich.

Was ich auch tue, ich kann es ihnen nicht recht machen. Keinem von beiden. Weder Werner, meinem Mann, noch Ben, unserem Sohn. Einen habe ich immer gegen mich.

Neulich zum Beispiel. Mein Geburtstag. Wir sitzen am Kaffeetisch - ein paar Freunde sind da und unsere Tochter mit ihrem Mann -, als ein großes schwarzes Auto in unsere Auffahrt einbiegt. "Mensch, die neue M-Klasse", sagt unser Schwiegersohn und pfeift durch die Zähne. Werner schaut mich irritiert an: "Hat Ben ein neues Auto?"

Ich stehe immer dazwischen.

"Ja", sage ich mit schlechtem Gewissen. Ich habe davon gewusst, er nicht. "Wozu soll ich es Papa erzählen?", hat unser Sohn am Telefon gesagt. "Er interessiert sich ja doch nicht dafür." Und schon hatte ich ihn wieder, den Schwarzen Peter. "Schau dir den Wagen doch wenigstens an", bitte ich meinen Mann. "Ben ist so stolz!" "Worauf? Auf über 20 Liter Benzinverbrauch?", knurrt Werner. "An die Umwelt denkst du wohl nicht?", ist sein einziger Kommentar, als Ben aus dem Auto steigt. "Und du? Mit deinem Diesel, dieser alten Rußschleuder?", gibt Ben zurück, ohne seinen Vater auch nur anzusehen.

"Hört auf damit!", möchte ich schreien. Aber wir haben ja Gäste. Werner geht wortlos ins Haus. Ben hebt unschuldig die Hände: "Ich hab nicht angefangen."

Der Streit in der Familie währt seit fast 30 Jahren

Was spielt das für eine Rolle? Mal ist es der eine, mal der andere, der den Streit vom Zaun bricht. Und immer stehe ich dazwischen. Die Vermittlerin auf verlorenem Posten. Die Sandwich-Frau. Seit fast 30 Jahren kämpfe ich um den Frieden in meiner Familie. Wütend. Verzweifelt. Vergebens.

Immer wieder frage ich mich, wie es so weit kommen konnte. Wann Vater und Sohn so auseinander gedriftet sind. Ob ich diese Entwicklung noch hätte verhindern können. Wo ich versagt habe.

Ich war erst 22, als ich mit Ben schwanger wurde, und arbeitete da als Fremdsprachensekretärin. Werner, vier Jahre älter, war noch im Lehramtsstudium. Kein günstiger Zeitpunkt. Aber auch wenn manche unserer "68er"-Freunde uns für verrückt hielten: Wir heirateten. Bereut haben wir es nie.

Sechs Jahre nach Ben kam seine Schwester Lisa auf die Welt. Wir haben mal ein Familienfoto gemacht, als beide Kinder schon erwachsen waren. Lisa und ich sehen uns kaum ähnlich. Die Augen vielleicht, aber sonst? Vater und Sohn dagegen wirken fast wie geklont: dünnes Haar, eine markante Nase, Grübchen im Kinn - derselbe Typ, nur mit 26 Jahren Altersunterschied.

Sie sind sich auch sonst sehr ähnlich. Beide stur und unnachgiebig wie Mulis, und dann wieder feinfühlig und so sentimental, dass ihnen im Kino schon mal die Tränen kommen. Doch etwas Wesentliches unterscheidet sie: Während Werner sich alles hart erarbeiten musste, fällt unserem Sohn alles zu. Ben gehört zu den Menschen, die das Leben locker nehmen, trotz Ehrgeiz. Schon als kleiner Junge wollte er "Manager" und "Millionär" werden.

Von uns hat er das nicht, unsere Träume waren immer bescheiden. Da kommt wohl eher der Onkel durch, Werners älterer Bruder Georg. Aufmüpfig und mit dem Kopf durch die Wand. Schmiss mit 18 die Schule, trampte durch Amerika, entschied sich dann für eine Fotografenlehre und verdiente später viel Geld in der Werbung. Mit 42 starb er bei einem Motorradunfall. Ist es Zufall, dass danach das Verhältnis zwischen Werner und Ben schwieriger wurde? Darüber denke ich oft nach. Hatte Werner mit seinem Bruder noch eine Rechnung offen, die jetzt sein Sohn bezahlen muss? Nie habe ich gewagt, ihn danach zu fragen.

Die erste Enttäuschung war der erste Knacks in der Beziehung

Ich erinnere mich an das erste Gymnasialzeugnis von Ben. Wie stolz er nach Hause kam. Nur Einsen, Zweien und Dreien, obwohl er kaum etwas für die Schule tat. "Du könntest besser sein, wenn du fleißiger wärst", sagte Werner. Noch heute höre ich die ungewohnte Härte in seiner Stimme, sehe die Enttäuschung in Bens Augen.

Das war wohl der erste Knacks in der Beziehung der beiden. Und der Anlass für die erste schlimme Auseinandersetzung zwischen Werner und mir. Ich fand ihn ungerecht und maßlos in seinen Erwartungen. Er warf mir vor, Ben in seiner lässigen Haltung zu bestärken, statt ihn zu fordern, wie er es tat: "Ich will, dass aus dem Jungen was wird."

Als ob es da Zweifel gegeben hätte! Unser Sorgenkind war Lisa, so fahrig, schüchtern und ängstlich. Ihretwegen gab es nie Streit - wir waren uns immer einig, wenn es darum ging, sie zu fördern, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Auf Ben hätten wir gemeinsam stolz sein können. Er wusste, was er wollte, ging seinen Weg. Nur unter Druck setzen ließ er sich nicht, dann begehrte er auf. Und so kam es immer wieder zum Streit. Werner machte es rasend, dass sein Sohn vorm Fernseher lag oder sein Motorrad reparierte, wenn am nächsten Tag eine Mathearbeit anstand. "Hast du nichts Wichtigeres zu tun?", schrie er ihn an. "Ich mach, was ich will!", brüllte Ben zurück.Türen knallten, das Haus erzitterte.

Schier unerträglich wurde es, als Ben Abitur machte. Kein Tag ohne Krach. Oft schloss Ben sich mit Jimmy, seinem Münsterländer, im Geräteschuppen ein. "Untersteh dich nicht, ihm auch noch was zu essen zu bringen!", tobte Werner. Und ich schlich mit einem Teller belegter Brote und einer Tasse Kakao aus dem Haus. Manchmal konnte ich Ben dazu bewegen, sich bei seinem Vater zu entschuldigen. Doch der Frieden hielt immer nur kurz.

Alles, was Ben tat oder nicht tat, empfand Werner als Provokation. Und oft war es das auch. Ben wusste, wie er seinen Vater auf die Palme bringen konnte. Manchmal erinnerte er mich an einen jungen Elefanten, der unentwegt den Leitbullen herausfordert, um seine Kräfte zu messen. Dass er damit auch auf mir herumtrampelte, war ihm wohl egal.

Unzählige Male bin ich in sein Zimmer getobt und habe den Stecker der Stereoanlage aus der Wand gerissen, weil Rücksicht für unseren Sohn ein Fremdwort war. Wie oft habe ich ihn gebeten, diplomatischer, pünktlicher, ordentlicher zu sein. "Tu's mir zuliebe", habe ich ihn angefleht. "Ich will mir nicht immer deinetwegen Vorwürfe anhören müssen." "Dann hör doch nicht hin", hat er einmal gesagt, frech grinsend. Da ist mir eine Sicherung durchgebrannt. Ich habe ausgeholt und ihm eine geklebt. Zum ersten und einzigen Mal. Danach bin ich in den Garten gelaufen und habe Unkraut gezupft, bis niemand mehr sehen konnte, dass ich geweint hatte. Nachts wälzte ich mich im Bett und grübelte. Am liebsten hätte ich damals mit Lisa Reißaus genommen. Das Einzige, was mich aufrecht hielt, war die Hoffnung, dass nach Bens Abitur und seinem Auszug alles besser würde. Dass die zwei Streithähne nicht mehr tagtäglich aufeinander stoßen und ihre Beziehung sich entspannen würde. Leider ist es doch anders gekommen.

Ben führt heute ein ganz anderes Leben als wir. Er ist tatsächlich Manager geworden, in einem Musikverlag. Er verdient viel Geld, fährt große Autos, wohnt in einer teuren Wohnung, hat viele Freunde, sicher auch Freundinnen - nur eine Familie oder feste Beziehung hat er nicht. "Keine Zeit", sagt er lässig. "Kein Verantwortungsgefühl", meint sein Vater. "Bloß nicht festlegen, ja nicht für andere Menschen da sein ..."

Ich liebe deinen Vater. Vergiss das nie.

Inzwischen sind ihre Auseinandersetzungen leiser geworden, kontrollierter, aber von ihrer Intensität und Schärfe haben sie nichts verloren. Ihre Waffen sind jetzt beißende Kritik, Ironie, giftiger Spott, und in all diesen Disziplinen hat Ben längst die Oberhand gewonnen. Seit seiner Pensionierung vor einem Jahr ist Werner noch empfindlicher, verletzbarer geworden. Er spürt, dass er älter wird. Früher hat er verbale Schläge kraftvoll pariert. Heute zieht er sich wortlos in sein Arbeitszimmer zurück. Das Kräfteverhältnis hat sich verschoben. Früher musste ich Ben oft vor dem Zorn seines Vaters schützen. Inzwischen stehe ich meist Werner bei. Nicht immer, weil er Recht hat. Oft auch, weil ich merke, dass er jetzt der Schwächere ist. "Wenn du deinen Vater vor anderen Leuten einen kleinkarierten Spießer nennst, tust du auch mir weh", habe ich neulich zu Ben gesagt. "Ich liebe deinen Vater! Vergiss das nie." Ben hat eine Weile gedankenverloren mit dem Kaffeelöffel Muster auf die weiße Tischdecke gemalt und schließlich gemurmelt: "Mir ist er auch nicht egal."

Vater und Sohn hängen aneinander - zugeben würden sie es nie

Das weiß ich. Vor ein paar Jahren hat Ben überraschend mittags bei mir angerufen: "Ist Papa schon aus München zurück?" - "Ja, seit gestern Abend", gab ich zurück, "willst du ihn sprechen?" - "Nein, schon gut", sagte Ben und legte auf. Wenig später hörte ich im Radio die Nachricht von dem Zugunglück in Eschede, bei dem über hundert Menschen ums Leben gekommen waren - und wusste, Ben hatte aus Angst um seinen Vater angerufen. Zugeben würde er das aber niemals. Umgekehrt ist es genauso. "Fahr vorsichtig, deine Mutter macht sich Sorgen", sagt Werner unserem Sohn manchmal zum Abschied - und fragt mich später: "Was ist mit Ben, hat er dich angerufen, ist er gut angekommen?" Er hängt an Ben, das weiß ich - aber er zeigt es ihm nie. Stattdessen kritisiert er die Wahl seiner Autos, seiner Wohnung, seiner Freundinnen. Was geht uns das an? Es ist sein Leben. Ben wiederum kann seinen Vater einfach nicht akzeptieren, wie er nun mal ist - konservativ, vernünftig, umweltbewusst, sparsam. Das sind doch nicht unbedingt schlechte Eigenschaften.

Unendlich viel Zeit bleibt nicht mehr. Was ist bloß, wenn einem von beiden etwas zustößt und sie sich nie ausgesprochen haben? Wie kann der andere damit leben? Und wie ich?

Protokoll: Petra Meyer-SchefeFoto: iStockphoto

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