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Später Kinderwunsch: "Es wäre so schön, wenn jemand ,Mama‘ zu mir sagen würde"

Später Kinderwunsch: Frau mit Strampler
© Natalia Deriabina / Shutterstock
Heute ist ein später Kinderwunsch nicht in erster Linie ein Hoffen, dass es noch klappen möge. Sondern ein ständiges Entscheiden, welches Angebot der Reproduktionsmedizin man annehmen möchte. Eine 44-Jährige über ihre Sehnsucht, Mutter zu werden.

"Gestern sollte ich eigentlich zum Test. Das habe ich abgesagt. Vorgestern habe ich starke Blutungen bekommen. Das war eindeutig! Nicht schwanger. Die fast 70 Euro für die Bluttests konnte ich mir sparen", sagt Dagmar J., 44, sobald wir uns an ihrem Esstisch gegenübersitzen.

Frisches Brot hat sie gebacken, Salat zubereitet. Beherrscht wirkt sie, obwohl Tränen in den Augenwinkeln glitzern. Sie hat Übung darin, ihre Gefühle zu verstecken, nach außen eine Heile-Welt-Fassade aufrechtzuerhalten, obwohl sie emotional Achterbahn fährt. Es war ihr dritter Versuch. Das dritte Mal, dass sie in einem Kinderwunschzentrum eine ICSI hat machen lassen. Vergeblich, wieder einmal.

"ICSI" - was so harmlos klingt, ist eine aufwendige Methode zur künstlichen Befruchtung

"ICSI" ist die Abkürzung für Intrazytoplasmatische Spermieninjektion, das Verfahren, das in fast 75 Prozent aller Fälle von In-vitro-Fertilisation (IVF) eingesetzt wird. Dazu werden die Eierstöcke mithilfe von Hormonen so stimuliert, dass mehrere Eizellen gleichzeitig heranreifen, dann löst eine Hormonspritze den Eisprung aus. Arzt oder Ärztin entnehmen die Eizellen per Punktion, meist unter Narkose.

Jetzt ist der Mann dran: Er muss Sperma liefern. Jeweils eine einzelne Samenzelle wird in eine Eizelle in­ jiziert. Zwei bis fünf Tage später werden maximal drei Embryonen durch die Scheide in die Gebärmutter transferiert. Jetzt beginnt das Warten. Nach zwei Wochen zeigt ein Bluttest, ob die Prozedur erfolgreich war. Ist dabei keine Schwangerschaft eingetreten, beginnt nach einer Pause alles von vorn - es sei denn, es sind durch die Stimulation so viele Eizellen herangereift und entnommen worden, dass einige davon für einen späteren Befruchtungsversuch eingefroren werden konnten (Kryokonservierung).

Das Ergebnis: negativ

"Beim ersten Versuch wurden mir 17 Eizellen entnommen, elf wurden befruchtet, zwei habe ich mir einsetzen lassen, fünf wurden eingefroren", erzählt Dagmar sachlich ­nüchtern.

Das Vokabular der Reproduktionsmedizin ist ihr schon lange geläufig. Nach zwei Wochen kam das Ergebnis: negativ. "Ich dachte, es wäre ja vermessen, zu glauben, ich würde gleich beim ersten Mal schwanger werden - aber ich hatte ja noch Kryo-­Eizellen. Als es dann wieder nicht klappte, war ich schon sehr enttäuscht. Mir lief einfach die Zeit davon." 43 ist Dagmar da, kein Alter, in dem Frauen es gelassen angehen können, wenn sie noch ein Kind haben wollen.

Es gab Zeiten, da waren Kinder keine Option für sie

Sie will einfach keine. Ihre Arbeit macht ihr Spaß, ihr Le­ben ist ausgefüllt, für Kinder sieht sie keinen Platz darin, sie sind einfach kein Thema. Dagmar ist zu­ frieden ohne eigene Familie. Eine erste längere Partnerschaft scheitert - auch deshalb. 2006 lernt sie ihren heutigen Mann kennen; er hat bereits zwei Kinder aus erster Ehe, die bei ihm leben, weitere will er nicht. Der ideale Mann, denkt sie.

Dann wird ihr jüngerer Bruder Vater. 2008 kommt seine Tochter zur Welt, und Dagmar ist ganz vernarrt in das Baby, besucht es fast täglich, übernimmt die Patenschaft. Irgendwann gesteht ihr Mann: Er könne es sich doch vorstellen, noch mal Nachwuchs mit ihr zu bekommen. Zum ersten Mal geht ihr durch den Kopf: Vielleicht wäre ein Kind ja doch ganz schön - da ist Dagmar 36.

Die Pille nimmt Dagmar schon seit einiger Zeit nicht mehr

Jetzt probieren sie ihr Kinderglück gezielt. "Kalendersex", sagt Dagmar. Vergeblich. Dann wird bei ihr ein Tumor an der Halswirbelsäule entdeckt. Vor der Operation besteht die Oberärztin auf einem Schwangerschaftstest. Negativ. Der Eingriff verläuft gut. Doch fünf Tage danach geht es ihr immer schlechter.

Könnte sie doch schwanger sein? Der Test ist positiv. Ausgerechnet jetzt! "Ich konnte mich gar nicht freuen", sagt Dagmar. "Ständig machte ich mir Sorgen, dass die Untersuchungen, die Medikamente dem Kind geschadet haben könnten."

Sie spricht ihren Gynäkologen darauf an. Er beruhigt sie, rät ihr als Spätgebärender aber zu einer Fruchtwasseruntersuchung. Dagmar hat Angst, entscheidet sich für einen neuen, teuren Bluttest. Das Ergebnis ist unklar - Verdacht auf Trisomie 13, das "Pätau-Syndrom", eine Veränderung des Erbguts, betroffene Kinder sterben früh oder werden bereits tot geboren. Jetzt wird doch eine Fruchtwasseruntersuchung gemacht. Der Schnelltest gibt Entwarnung. Freude bei den werdenden Eltern. Dann zwei Wochen später das endgültige Ergebnis: Trisomie 13.

Ein Kind mit Trisomie 13?

Dagmars Welt bricht zusammen: "Ein Kind mit Trisomie 21, Down-Syndrom, kannte ich von einer Freundin. Aber 13? Ich wollte nicht, dass mein Kind, wenn es tatsächlich auf die Welt kommen würde, nur an Apparaten hängt." Sie entscheidet sich für einen Abbruch.

In der 21. Woche werden die Wehen eingeleitet. Dagmar bringt ein winziges Mädchen zur Welt, 23 Zentimeter, 315 Gramm. Ihr Mann und sie beerdigen es im nahen Friedwald. Nur ganz enge Freunde kennen die Wahrheit. Der Familie und allen anderen erzählen sie, das Kind sei im Mutterleib gestorben. Das sagen sie später auch im Kinderwunschzentrum.

"Es ist dein Körper, du musst das aushalten und entscheiden. Ich werde jeden Weg mit dir gehen", sagte ihr Mann.

Der Wunsch, endlich ein eigenes Kind im Arm zu halten, wird größer. Ihr Mann ist gelassen, meint, es werde schon noch klappen. Aber Dagmar hat keine Zeit - sie ist mittlerweile 41. "Bis dahin wollte ich keine künstliche Befruchtung auf mich nehmen", sagt Dagmar. "Nach diesem Erlebnis konnte ich mir vorstellen, mir Hilfe zu holen. Mein Mann war einverstanden. ‚Es ist dein Körper, du musst das aushalten, du musst auch entscheiden. Aber ich werde jeden Weg mit dir gehen‘, sagte er."

Bei der Samenbank können Haar-, Augenfarbe und IQ des Spenders ausgesucht werden

Ende 2014 haben die beiden ihren ersten Termin in einem Zentrum für Reproduktionsmedizin. Dort wird festgestellt, dass die Spermaqualität ihres Mannes nicht so gut ist. Trotzdem entscheiden sie sich für eine Insemination, bei der ein Arzt die Samen per Katheter direkt in die Gebärmutter einbringt. Die Reifung der Eizellen wird durch Hormontabletten angeregt.

Dagmar hat wahnsinnige Angst vor Spritzen. Als sie sich selbst eine setzen soll, um den Eisprung auszulösen, bricht sie ab. Sie ist verzweifelt, enttäuscht, fühlt sich von der Praxis unverstanden, sucht eine andere. Dort verlangt man alle Untersuchungen, die sie bereits hinter sich haben, noch einmal. "Wir hatten das Gefühl: Hier geht es nur ums Geld", sagt Dagmar.

Dann sitzen sie einem Arzt gegenüber, der Spermien aus Skandinavien für eine Insemination anbietet. Auf der Homepage der Samenbank können Haar-, Augenfarbe und IQ des Spenders ausgesucht werden, Preis: 2000 bis 3000 Euro. Auch ein gutes Geschäft. Aber keines, das sie mitmachen möchten.

Die biologische Uhr tickt

Noch mal geht Zeit ins Land, und die biologische Uhr tickt gnadenlos weiter: Mit 40 ist der Körper nur noch halb so empfängnisbereit wie mit 35. Die Chancen auf eine Schwangerschaft sinken mit jedem Monat: Frauen unter 35 Jahren werden zu 35,6 Prozent nach einer Punktion schwanger, bei den 40-Jährigen sind es nur noch 21,6 Prozent. So die Statistik. Zahlen, die Betroffene in der Beratung genannt bekommen. Und oft ausblenden. Dann siegt die Hoffnung, und sie versuchen trotzdem weiter ihr Glück.

Schließlich geht Dagmar mit ihrem Mann ins erste Kinderwunschzentrum zurück

Doch die Beiden entscheiden sich für eine ICSI. Nachdem der erste Versuch fehlgeschlagen ist und auch die daraus eingefrorenen Eizellen nicht die erhoffte Schwangerschaft bringen, beginnt Dagmar die zweite Runde. Fünf Eizellen reifen heran - also nicht genug für einen späteren zusätzlichen Kryo-Versuch.

Dann werden zwei Embryonen eingesetzt. Zwei Wochen später ruft die Praxis an: Der Bluttest ist positiv. Es hat geklappt! Doch immer wieder gibt es leichte Blutungen. Dagmar ist krankgeschrieben, muss liegen. Wieder Angst, wieder hoffen und bangen.

In der sechsten Woche zeigt der Ultraschall einen Herzschlag, in der achten Woche ist er weg. Dagmar setzt das Progesteron, das die Einnistung unterstützen soll, ab. Als sie nach zwei Wochen noch keine Periode hat, muss sie Tabletten nehmen. Zwei Stunden später bekommt sie starke Schmerzen, wie Wehen. Die Blutung dauert nicht lange. "Danach war ich ziemlich fertig, hatte tagelang Fressattacken, weil mich das so runtergezogen hat", sagt Dagmar. Es fällt ihr schwer, weiterzusprechen. "Ich war fest davon überzeugt, dass das passiert ist, weil ich den Abbruch habe machen lassen."

Auch der dritte ICSI-Versuch geht schief

Auch der dritte ICSI-Versuch ist wieder vergeblich. Das ist hart. Ist jetzt Schluss? "Anfangs habe ich gesagt: Ich mache höchstens drei. Jetzt bin ich unsicher", sagt Dagmar.

Obwohl sie beherrscht wirkt, sind ihre Zerrissenheit, die widersprüchlichen Gefühle, ihre Trauer zu spüren. Manchmal hadert sie mit sich, fragt sich, warum sie nicht früher medizinische Hilfe gesucht hat. Sie weiß, wie sehr die Situation an ihren Nerven zerrt, dass sie zu Reibungen selbst mit ihrem verständnisvollen Mann führt, dass ihre Partnerschaft und ihr Liebesleben durch die Behandlung arg strapaziert werden, dass die Zweisamkeit in letzter Zeit auf der Strecke geblieben ist.

"Zu mir wird wohl nie jemand ,Mama‘ sagen. Das tut weh"

Sie spürt, dass sie nicht mehr so leistungsfähig ist wie früher, und ihr ist klar, dass eine Schwangerschaft in ihrem Alter riskant sein kann - für sie und das Baby. Und das Geld? Über 18.000 Euro hat die Therapie mittlerweile gekostet. "Das war immer nebensächlich für uns", sagt sie. "Aber ich weiß nicht, wie ich es verkrafte, wenn ich jetzt nicht weitermache. Nach jedem negativen Ergebnis will ich nichts mehr mit Kindern zu tun haben. Ich bin neidisch auf Mütter. Und eifersüchtig auf meinen Mann, weil jemand ,Papa‘ zu ihm sagt.

"Ich kann dieses Rad nicht ewig weiterdrehen", weiß Dagmar. "Irgendwann muss ich mich damit abfinden, dass ich keine eigenen Kinder haben werde - bis auf das eine, das nicht mehr lebt. Und meine Beziehung würde ich dafür auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Kinder werden irgendwann groß, dann muss man auch wieder zu zweit zurechtkommen."

Dagmar schaut aus dem Fenster, in einiger Entfernung ist der Friedwald zu sehen, der Kaffee in ihrer Tasse ist kalt geworden. "Vielleicht probiere ich es doch noch einmal, bevor ich 45 bin", sagt sie. "Einmal ginge ja noch."

BRIGITTE Woman 12/17

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