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Mein Vater hat mehr Sex als ich

Ein neuer Partner nach dem Tod? Als ihre Mutter starb, wollte die Tochter ihren Vater trösten. Doch die Nachbarinnen waren schneller.

Damals, vor zwei Jahren, hab ich es nicht gemerkt, aber auf der Beerdigung fing es bereits an. "Wer kümmert sich denn jetzt um Ihren armen Vater?", wurde ich, knapp drei Stunden nachdem der Sarg meiner Mutter in der Erde war, von den weiblichen Trauergästen gefragt. Alle Frauen stammten aus dem Freundeskreis meiner Eltern, der sich altersmäßig zwischen 70 und 80 bewegt. Mein Vater, damals 73, war oft der einzige Mann, um den meine Mutter von allen Witwen beneidet wurde. "Wenn ich mal tot bin, gehst du noch weg wie warme Semmeln", hatte sie oft gescherzt, woraufhin er immer "Ich sterbe ja zum Glück weit vor dir" erwidert hatte.

Doch vor zwei Jahren stand sie nach dem Mittagsschlaf nicht wieder auf. Ein Hirnschlag, der sich durch nichts angekündigt hatte. Es war ein furchtbarer Schock. Meine Eltern kannten sich seit der Konfirmandenstunde, sie waren gleich alt, ihr Leben hat über 50 Jahre lang den gleichen Takt gehabt. Wenn meine Mutter allein verreiste, was selten vorkam, dann zündete mein Vater jeden Tag, den sie weg war, eine Kerze an, bei Halbzeit schenkte er sich einen Sherry ein und feierte Bergfest. Die Messlatte, die meine Eltern mit ihrer Ehe an mein Leben legten, war so hoch, dass ich bis heute Single geblieben bin. Das Glück in der Liebe haben meine Eltern mir leider nicht vererbt. Ich bin oft enttäuscht worden und habe vermutlich genauso oft enttäuscht. Jetzt bin ich 53 und habe mich damit abgefunden, dass ich vermutlich allein bleiben werde. Was soll's? Es gibt Schlimmeres. Den Tod eines geliebten Menschen zum Beispiel.

Ein hilfloser Vater? Von wegen!

"Nudeln gleich ins Wasser oder erst, wenn's kocht?" Das war nach der Beerdigung einer der Verzweiflungsanrufe meines Vaters, der seine Küche nur zum Bier-aus-dem-Kühlschrank-Holen benutzt hatte. "Erst wenn es kocht, und das siehst du daran, dass es blubbert", erklärte ich vorsichtshalber und fand im Internet einen Kochkurs für Männer, den ich ihm schmackhaft machen wollte. Doch als ich ihn drei Tage später besuchte, brutzelte ein leckeres Steak mit Zwiebeln auf dem Herd. "Frau Brahms hat mich unter ihre kulinarischen Fittiche genommen", sagte mein Vater, und da klingelte es auch schon an der Haustür, und die 76-jährige Nachbarin aus dem dritten Stock, seit vier Jahren verwitwet, stand in der Küche.

Wo sie sich bereits bestens auszukennen schien, denn kurz darauf aßen wir zu dritt. "Frau Brahms will mir beim Kochen ein bisschen helfen", erklärte mein Vater, der sicher bemerkte, dass mich ihre Anwesenheit irritierte. "Das mach ich doch gern", sagte Frau Brahms, und ich sah in ihren Augen ein Funkeln, das ich von mir kannte. Das ist meiner, hieß es, den geb ich so schnell nicht wieder her! Das war nur der Anfang, Frau Brahms blieb nicht die Einzige. Blitzschnell schien es sich bei allen Singlefrauen zwischen 60 und 80 herumgesprochen zu haben, dass es in unmittelbarer Umgebung einen frei gewordenen Witwer Mitte 70 gab. Der in diesem Alter als Mann ein demografisches Highlight ist, das ich mit meinen 53 als Frau schon seit 15 Jahren nicht mehr bin.

Die Frauen woben ein dichtes Versorgungsnetz um meinen Vater, ohne dass er auch nur einen Finger krümmen musste.

Unfassbar für mich, wie blitzschnell und hartnäckig er bereits umworben wurde, als die Blumen auf dem Grab seiner Frau noch nicht einmal vertrocknet waren. Ohne dass er auch nur einen Finger krümmen musste, woben die Frauen ein dichtes Versorgungsnetz um ihn, in das er sich nur hineinlegen musste. Frau Brahms kocht jetzt jeden Tag für ihn, ihre polnische Putzfrau Goscha übernahm die Reinigung seiner Wohnung und lädt ihn seitdem zu Familienfesten ein.

Sie ist Ende 40 und findet, wie sie mir kürzlich anvertraute, meinen Vater "eine richtig gutte Mann". Trudi, 81, eine verwitwete Doppelkopffreundin, bringt ihm jetzt Kultur bei, wie sie es nennt. Sie hat ihr Theaterabo auf zwei Personen erweitert und schleppt meinen kulturbanausigen Vater, der im Fernsehen am liebsten Sport und Krimis sieht, in sämtliche Theaterpremieren. Da mein Vater immer pflegeleicht war und einen sonnigen Sinn fürs Leben hat, ist er der ideale Begleiter für die reife Singlefrau. Auch seine alte Schulfreundin Inge hat sich wieder gemeldet, nachdem sie die Todesanzeige meiner Mutter in der Zeitung gelesen hat. Den Juni dieses Jahres hat mein Vater auf ihrer Finca in Soller auf Mallorca verbracht. "Komm doch mit", hat er spontan gesagt, aber Inges Mimik war eindeutig. Sie wollte mit ihm allein sein. Das merke ich bei all seinen neuen Begleiterinnen - die kritische Singletochter ist selten erwünscht.

Natürlich gönne ich meinem Vater alles Gute. Ich bin als Kundenberaterin einer großen Bank viel unterwegs, da ist es beruhigend, wenn ich meinen Vater in fürsorglichen Händen weiß. Das leise Gefühl von Eifersucht, mit einer immer größeren Schar von reifen Damen um ihn kämpfen zu müssen, versuche ich wegzudrücken. Ich weiß, dass meine Mutter ihm im Himmel alles Gute wünscht. Es irritiert mich nur, dass mein Vater deutlich mehr Frauen in seinem Leben hat als ich Männer. Er muss nur mit dem Finger schnipsen, ich dagegen müsste strampeln, Anzeigen aufgeben, mich bei Parship.de registrieren lassen - verkehrte Welt, finde ich. Vor ein paar Wochen hatte ich ein kurzes heißes Verhältnis mit einem Geschäftsmann, das dieser in einer Hotelsuite mit den Worten "Wenn meine Frau einverstanden wäre, würde ich sofort eine Ehe zu dritt mit dir führen" beendete. Frustriert verließ ich das Hotel, kaufte Brötchen, um mit meinem Vater zu frühstücken.

Es war 8 Uhr morgens, ich klingelte, eine attraktive Frau um die 70, die ich noch nie gesehen hatte, öffnete mir im Bademantel. Ich stellte mich vor. Sie hieß Angela. "Ihr Vater ist noch im Bad", sagte sie, "frühstücken Sie mit uns?" Ich nickte und ging dann unauffällig ins Schlafzimmer. Eindeutig - beide Bettseiten waren benutzt! "Na Papa, war's schön mit Angie?", fragte ich ihn, als sie endlich gegangen war. Er sagte nichts, aber sein Gesicht verriet ihn. Ich war ein bisschen entsetzt. In seinem Alter! Und ein bisschen neidisch, dass er als Mann, fast ein Vierteljahrhundert älter, es so viel leichter hatte als ich. Die Vorstellung, dass mein Vater mehr Sex, vielleicht sogar besseren Sex hat, ist mir leider unangenehm. Bin ich kleinlich? Natürlich habe ich mit ihm nie darüber geredet. Meine Sexualität war nie ein Thema zwischen uns, seine soll es auch nicht werden. Ich will gar nicht wissen, ob Frau Brahms oder Inge auch das Vergnügen hatten. Ich habe mir nur angewöhnt, nicht jeden meiner Besuche vorher anzukündigen. Ein bisschen Kontrolle kann nicht schaden.

Text: Marie Wassermann<br/><br/>BRIGITTE WOMAN, Heft 08/11

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