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Familienunternehmen Die Schwestern-Wirtschaft

Wenn acht Schwestern zusammen ein Familienunternehmen aufmachen, kann das im Chaos enden - oder in einem erfolgreichen Hotelrestaurant, wie im "Mohren" im Schweizer Kanton Luzern.

Berti kommt mit einer Flasche Rotwein aus dem Keller, Pia schwingt orange-rot gestreifte Tischdecken über schwere Tische, Claudia deckt Gläser und Besteck, Helen faltet Servietten, Doris gießt hübsch arrangierte Blumengestecke, Conny schreibt in Schönschrift auf eine Tafel, was die Küche des Hauses zu bieten hat, Agnes verabschiedet ein paar Wanderer, Madeleine zapft Bier. Alle zusammen reparieren eine Lampe über dem Wirtshaustresen, der von einem geschnitzten Stier- und einem Widderkopf gerahmt wird, und prosten anschließend einer alten, sehr aufrechten Dame in der Gaststube zu: "Zum Wohl, Müetti!" "Das isch no guat - sehr gut." Ein Lächeln zieht übers "Müetti"-Gesicht, das sich in einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz zwischen hochgezogenen Schultern versteckt. Mit einem Taschentuch werden die Lippen trocken getupft, dann wird es gefaltet und scheu ins Dekolleté der rot gemusterten Bluse genestelt. Berta Wyss, 84, ist die Mutter von vier Söhnen und acht Töchtern, heute zwischen 57 und 44 Jahre alt. Seit knapp drei Jahren führen ihre "Maidli" den "Mohren" in Willisau im Schweizer Kanton Luzern. Dass sie das Traditionslokal samt Hotel so engagiert zusammen betreiben, kann die Mutter kaum glauben. "Ihr spinnt doch", hatte sie anfangs geneckt. Doch, doch, eine WWW - Weiber-Wirtschaft- Wyss -, hatten ihre Töchter gesagt und gelacht, das Ganze aber durchaus ernst gemeint.

Planung ist alles im Familienunternehmen

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"Mir hend's immer lustig mitenand", sagt eine, die Lampe überm Tresen brennt wieder. Im Hintergrund dudelt Radiomusik, aus der Küche zieht der Duft von Spargel und Erdbeeren, und am Stammtisch vertieft sich ein Gast in einen Wanderführer, "Region Willisau im Napfbergland", während er sein helles Bier trinkt, das dort im Voralpenland mit Aussicht auf Eiger-, Mönch- und Jungfrau- Gebirge "Herrgöttli" genannt wird. Samstagvormittag in der heimeligen "Mohren"-Gaststube mit dunklem Parkettboden, schweren Tischen und Eckbänken. Die Schwestern beugen sich über einen detailliert ausgetüftelten Dienstplan: wer wann den Service macht, den Tresen und die Zimmer. "Ach, da kannst du nicht?" - "Ja, dann mach ich." - "Nein, kein Problem." - "Das kriegen wir hin!" Planung ist alles. Wenn die eine nicht kann, übernimmt die andere. Dann lachen sie wieder, und wie sie lachen: ein achtstimmiger Kanon mit Doris, der Feinsinnigen, Berti, der Organisierten, Helen, der Charmanten, Madeleine, der Lustigen, Pia, der Kecken, Agnes, der Sportlichen, Conny, der Souveränen, Claudia, der Ruhigen. So unterschiedlich sie sind, ihr Lachen verbindet. Das war schon so, als sie sich als Kinder zu viert zwei Betten teilen mussten, weil der Onkel aus Afrika zu Besuch kam, auf dem Bauernhof im Nachbarort Gettnau, wo die acht aufgewachsen sind.

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Es war die Idee von Agnes und Doris. Aber wie immer, wenn die Wyss-Kinder eine originelle Idee ausbrüten, sagen sie: "Des kütt vom Vatti." Auf jeden Fall wäre der verstorbene Vater, Bauer und Vieh-Transportunternehmer, vom Schwesternwirtschafts- Projekt begeistert gewesen, so wie er sich angeblich über jeden gelungenen Streich seiner Zwölfer- Bande freute. Agnes, von Beruf Bankfachfrau, kannte den "Mohren" als Gast. Oft hatte sie dort nach der Arbeit noch einen "Skypi", einen Prosecco, getrunken. Als sie vor fünf Jahren erfuhr, dass das Lokal samt Hotel verkauft und ein neuer Pächter dafür gesucht würde, sprach sie mit ihrer Schwester Doris. Die gelernte Hauswirtschaftslehrerin und Gastgeberin aus Leidenschaft hatte schon immer von einem kleinen Restaurant geträumt. Sie in der Küche, durch deren offene Tür das Gemurmel der Gäste wie Hintergrundmusik tönt . . .

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Der "Mohren" - warum nicht? Aber nicht ohne alle anderen Wyss-Schwestern! Über ein gemeinsames Projekt, "irgendwann", hatten sie schon oft gesprochen, jedes Jahr, wenn sie sich zu acht zu einem Ausfl ug trafen. Zu acht zum Skifahren, zu acht zum Wandern und zu acht nach Lissabon, als Teenager und selbst noch, als alle Familie hatten. Doris hat drei Kinder, Berti hat zwei, Helen wieder drei, Madeleine hat zwei Kinder, Pia, Agnes, Conni und Claudia auch. Die Kinder der acht Schwestern - genauso wie ihre Männer - standen dem Projekt zunächst skeptisch gegenüber. Inzwischen sind sie stolz darauf, und Doris' Tochter springt auch mal ein und hilft im Service mit, wenn Not an der Frau ist oder ihr studentisches Budget aufgebessert werden muss.

Zu acht den "Mohren" - na denn: Das ziehen wir durch! Schwestern wurden angerufen, angemailt, angesimst: "Hallo zemma, treffen uns wie vereinbart zum Familienrat . . . " Als ausgebildete Hotelkauffrau wusste Pia, was da auf sie zukommen würde: Arbeit, harte Arbeit, viel Planung und Organisation. Feuer und Flamme war sie nicht, Claudia zauderte auch, "das Wirten liegt mir nicht", dafür war Madeleine umso begeisterter, und Berti beugte sich nicht nur dem "Schwesterndruck", sondern sah die Chance, noch einmal etwas Neues anzufangen.

Ablehnung von außen? Die Leute sind halt gebirgig hier!

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Als Agnes und Doris mit dem damaligen "Mohren"-Pächter über ihre Idee einer Schwestern-Wirtschaft sprachen, hielt der es für einen Witz. Frauen? Schwestern? Lieber eine Vetternwirtschaft - Nein sagte er nicht, aber dachte er womöglich. "Die Leute sind hier halt ein wenig gebirgig", sagt Helen, die Schwester mit dem charmantesten Lächeln aller Schwestern, von Beruf Krankenschwester. "Stur" meint sie damit. Aber nicht so stur, als dass der Besitzer des "Mohren", ein Architekturbüro, nicht zwei Jahre und eine Pächterpleite später bei Agnes nachgefragt hätte, ob noch immer Interesse bestünde.

"Mir sin drbii - wir sind dabei!" Dass die Hälfte der Schwestern nicht vor Ort wohnt, sondern in Bern, Saxeln und Luzern - "kriegen wir hin". Dass das anvisierte Projekt keine kleine Kneipe, sondern ein Zwölf-Zimmer-Hotel mit Restaurant, Speisesaal, Konferenzraum, Großküche, Weinkeller, Büro, Wäscherei ist - "auch das kriegen wir hin": So war immerhin gesichert, dass für jede der Schwestern ein passender Aufgabenbereich dabei sein würde.

Eine Freundin kann man verlieren, eine Schwester bleibt.

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Agnes legte die Wirteprüfung ab, Berti machte die Kalkulation und Weinkarte, Claudia die Buchhaltung, die Wyss Gastro GmbH wurde gegründet, 40 000 Franken in Inventar investiert, mit Farbberatern und Architekten umgebaut. Wer zur Eröffnung im November 2006 die acht strammen Engel in die Fenster der Schankstube gehängt hat, weiß keine mehr.

Der Schwestern-Wirtschaft gab mancher aus Willisau nicht länger als ein halbes Jahr. Denn der "Mohren" ist eine Schänke mit Tradition. Männlicher Tradition. Urkundlich 1574 zum ersten Mal erwähnt, zechten und tafelten zur Zeit der Französischen Revolution die Söldner Robespierres an ihren Tischen. Vor 30 Jahren wurde hier das legendäre Willisauer Jazzfestival gegründet, und bis heute kehren internationale Musikgrößen im Hotel ein.

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Das Unternehmen floriert. Auch die skeptischen Willisauer schätzen inzwischen das großfamiliäre Flair und das köstliche Essen im "Mohren". Auswärtige Gäste Geschäftsführerinverschlägt es oft aus Neugier auf die Schwestern-Wirtschaft in die Gaststube: acht Weintrauben auf der Getränkekarte, acht Erbsen auf der Speisekarte, acht Schwestern in weißen Blusen und grauen Küchenschürzen. Neugier auf Familie in einer Zeit, in der dieser Begriff durch Patchwork ersetzt wurde und Familienbande öfter kompliziert als hilfreich sind.

Dann gibt es solche Festtage, an denen 60 Vorbestellungen für den Saal da sind, aber 80 Gäste einfallen, darunter viele Pfadfi nder und immer wieder Pilger in Wanderstiefeln, weil der Jakobsweg justament am Haus vorbeiführt. Die Schwestern wirbeln: Conny empfängt, Berti empfi ehlt den Wein, Helen serviert Ravioli mit Bärlauch, Pastetli mit Spargel und Bärlauchsoße oder Felchenfi let an Frühlingsgemüse, Madeleine und Claudia spülen Gläser, Pia jongliert mit den Tabletts, Agnes kassiert, und Doris tippt Preise in die Kasse. So leichthändig, als spielten alle zusammen eine Melodie - und die fetzt. Falls trotzdem einmal ein Rotwein verschüttet oder ein Besteck vergessen wird, lächelt Helen den Fehler mit einem charmanten Lächeln hinweg oder Conny oder Pia. Die Schwestern wundern sich selbst am meisten, wie eingespielt sie funktionieren. Wie schon damals als Teenager, als sie als die "Wyss- Sisters" zusammen in einer Volleyballmannschaft spielten, Landesliga. Guter Ruf verpflichtet.

Es klappt so gut, weil die eine weiß, wie die andere tickt

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Mit der Wirtschaft klappt es so gut, weil jede weiß, wie die andere tickt. Den Schwestern wurden ihre Positionen mehr oder minder in die Wiege gelegt, und sie müssen nicht dauernd neu ausgehandelt werden. "Zusammen arbeiten bedeutet aber auch, dass wir uns von neuen Seiten kennen lernen", sagen die Schwestern. Sogar Claudia, die es sich zu Beginn nicht zutraute, plauscht inzwischen gern mit den Gästen. Falls es trotzdem einmal zu Verstimmungen kommt, ist es undenkbar, dass man nach einem Viertel Wein am Feierabend unausgesöhnt auseinandergeht.

Doris, Agnes und Berti, die im Ort wohnen, sind Geschäftsführerinnen. Sie kaufen ein, organisieren den Arbeitsablauf. Damit nicht immer alle Schwestern gleichzeitig auf der Matte stehen müssen, da jede ihre eigene Familie hat und noch anderweitig berufstätig ist. Weinkeller, Zimmerbuchungen, Löhne, Dekoration, Wochenend- Service - in ihren jeweiligen Bereichen lassen sie sich freie Hand, aber im Service kann es schon hin und wieder zu Differenzen kommen. Zweimal jährlich treffen sich die Schwestern deshalb zu Klausuren und Problembesprechungen. Das Rauchen war so ein Streitpunkt. Durfte nur in der Gaststube geraucht werden? Oder auch im Speisesaal? Eine demokratische Abstimmung ging fünf zu drei aus: Rauchverbot, wenn gegessen wird.

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"Weil ich eine Schwester bin", antwortet Pia auf die Frage, warum sie sich auf das waghalsige Projekt eingelassen habe. Und dass eine harmonische Kinderstube genauso wie Schicksalsschläge eine Familie zusammenschweißen. Als sie ihren kleinen krebskranken Sohn verlor, standen ihr die Schwestern zur Seite. Als ihr Mann starb, auch. Für solche Verluste gibt es keinen Trost, aber Pia weiß nicht, wie sie das ohne die Unterstützung ihrer Geschwister durchgestanden hätte. Agnes sagt: "Eine Freundin kann man verlieren, eine Schwester bleibt." Der Schwesternliebe zuliebe? Um hinter das Geheimnis der Schwestern-Wirtschaft zu kommen, muss man weiter zurück in das Elternhaus blicken. Wie ein Traum, sagt Mutter Berta, habe sie ihre zwölf Kinder erlebt. Einen Traum, den man nimmt, wie er kommt, und wenn man streng katholisch ist, sowieso. Die Arbeit auf dem Bauernhof ließ nur wenig Zeit für die Kindererziehung, zumal die Mutter 1979 als erste Frau in den Gemeinderat ihres Heimatortes einzog. Darum schoben ihre großen Kinder die kleinen im Kinderwagen über den Berg, und die kleinen sprangen für die großen ein, wenn die als Teenager abends lieber durch die Kneipen zogen, als zu Hause den Tisch abzuräumen und zu spülen.

Urlaub? Keine Zeit im Familienunternehmen

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"Wyss isch do - hier ist Wyss", meldete man sich am Telefon, und wo Wyss war, war ein Clan. In dem sich jeder und jede Einzelne nicht so wichtig nahm, man sich dafür umso mehr schätzte, weil man aufaufeinander angewiesen war. Und wenn zwei sich stritten, waren immer noch viele Dritte, Vierte, Fünfte. . . mit denen man sich freuen konnte. Respekt, Humor, guter Wein und ein selbst gebackener Hefekranz am Sonntag gehörten zur Wyss-Familie wie zu anderen Familien der Urlaub.

An Urlaub können sich die Schwestern überhaupt nicht erinnern, dafür an einen Tagesausflug: Die Eltern fuhren mit den Buben weg. Das nächste Mal, wurde versprochen, seien die Mädchen dran. Das Versprechen blieb uneingelöst. Bis 1987, die Schwestern waren schon um die 30: Da zogen alle acht Maidli in roten Pullovern los ins Tessin - mit ihrem Müetti in der Mitte. Ein Anfang zur nachhaltigen Schwestern-Wirtschaft.

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Demnächst wollen alle acht ins Bündnerland zusammen wandern gehen. Dann machen die Wirtschaft ihre Brüder, sagt Pia, vielsagend blinzelnd. Das schaffen die schon, die vier.

Berti stellt eine Flasche mit französischem Rotwein auf den großen Tisch in der dunklen Gaststube. "Hend ihr noch Zeit für eine schnelle Weinprobe?" Gleich stehen acht Gläser parat, alle acht Wyss-Schwestern tummeln sich drum herum und riechen, schnuppern, nippen. "Blumig", ruft die eine, "erdig" die andere, "fruchtig", die dritte, "kernig" die vierte, "fein", die fünfte, "würzig", die sechste, "aber zu schwer", die siebte, "also nix für uns", schließlich die achte. Entschieden!

Mehr über den "Mohren" unter www.mohren.ch

Text Marianna Mösle Fotos Ciry Moro

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