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Familie: Neue Beziehungen zwischen Wahl und Qual

Familie ist toll, sie nervt, vor allem aber: Beziehungen in der Familie verändern sich ständig. Zwischen Wahlverwandtschaften, Prahlverwandtschaften, Zahlverwandtschaften und Qualverwandtschaften.

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Ich erinnere mich noch gut an die erste Begegnung mit meiner zukünftigen Familie. Der schicke weiße Leinenanzug, die engen Hemden aus Italien, Lieblingsstücke meines Mannes, als wir uns kennen lernten, ließen mich vermuten, dass es sich um eine sehr elegante Familie handelte, in die ich da einheiraten wollte. Und obwohl ich mich selbst in Jeans und T- Shirt am wohlsten fühle, hatte ich mich in vorauseilender Anbiederung in mein bestes kleines Schwarzes gezwängt. Doch dann standen sie vor mir, Schwager Jürgen und Schwägerin Heidi, in Jeans und T-Shirts und mit dem nettesten Lächeln der Welt, und ich dachte erleichtert: "Bingo, das passt ja!" Meine Freundin Lotta, die jeden Morgen joggt, überzeugte Vegetarierin ist und gern in die Oper geht, war dagegen geschockt, als der Mann ihres Lebens sie seiner Tochter aus erster Ehe vorstellte, einem stark geschminkten, stark tätowierten Girlie mit Zungenpiercing, das ihr zur Begrüßung einen Rauchkringel ins Gesicht blies, bevor es "'ne Müslitante, das kann ja heiter werden" zu ihrem Vater sagte.

Welche DNA man mit seiner Ursprungsfamilie teilt, in meinem Fall eine große Nase, pechschwarzer Humor und schnittlauchlockige Haare, das ist Schicksal. Nicht zu ändern. Ebenfalls nicht zu ändern ist die Schicksalsgemeinschaft, der Familienclan mit angeheirateter Verwandtschaft. Der peinliche Onkel, der auf Familienfeiern ein paar Schnäpse zu viel trank, der arbeitslose Cousin mit den politischen Ansichten, die nur knapp am Rechtsradikalismus vorbeischrammten, die böse Schwiegermutter, die ihre Schwiegertochter nur zähneknirschend ertrug - all das waren verwandtschaftliche Ausreißer nach oben, oder besser: nach unten, die einem das Leben in die Hand spielte wie ein Kreuz-Ass oder eine Pik-Sieben. Man konnte nichts ändern, nur das Beste daraus machen.

Heute ist das anders. Jede zweite Ehe wird geschieden, Wahlfamilien haben die alte Vatermutterkind-Einheit abgelöst, statt gesetztem Dinner gibt es jetzt Buffet. Freunde, Kollegen oder Nachbarn sind häufig die "neue Familie". "Meine Eltern sind nach Mallorca ausgewandert, ich sehe sie nur selten", sagt eine Freundin, "also habe ich im Internet nach netten Großeltern für meine Kinder gesucht und eine reizende Witwe gefunden."

In Amerika gibt es immer mehr Schwangerschaften, bei denen eine Frau die Eizelle spendet, eine andere das Baby austrägt und nach der Geburt den glücklichen Eltern überreicht. Falls der Vater unfruchtbar ist, käme noch ein Samenspender ins Spiel - das wären also drei Mütter, zwei Väter und zehn Großeltern. Früher zuverlässig, schicksalhaft, wie in Stein gemeißelt, ist Verwandtschaft heute eine amorphe Masse, die ihre Form laufend verändert, ein Karussell, auf das ständig Menschen auf- und wieder abspringen. Das verlangt emotionale Flexibilität und neue Umgangsformen, das überfordert uns.

Die Enkelin meiner Freundin wird getauft, die Eltern sind nicht verheiratet, die Großeltern kennen einander überhaupt nicht. Duzt man sich da, fragt sie mich, wenn man sich zum ersten Mal in der Kirche trifft? "Wie wär's mit einem Kennenlern-Dinner vor dem Gottesdienst?", schlage ich vor. Wen duzt, wen siezt man, wenn Kinder zwar Kinder kriegen, aber vorher nicht heiraten? "Sag Onkel Horst zu mir", verlangte kürzlich ein wildfremder Mann von meiner Freundin, es war der Bruder ihres zukünftigen Schwiegervaters, etwa zehn Jahre älter als sie, den sie auf ihrem Polterabend zum ersten Mal sah. "Hallo, Onkel Horst", sagte sie und kam sich total lächerlich vor. Familie ist zur LAF - Lebensabschnittsfamilie - geworden, kompliziert, unübersichtlich, spannend, aber manchmal auch sehr anstrengend.

"Ich bin eine Frau, die Mütter mögen", seufzt eine im dritten Anlauf glücklich verheiratete Freundin, "und da ich zwei Scheidungen hinter mir habe, sind es inzwischen drei Paar Schwiegereltern, die alle von mir Kontakt erwarten. Die Weihnachtstage muss ich bis auf die Minute gerecht verteilen, sonst gibt's Stress. Eine vierte Ehe kann ich mir schon aus Mangel an Zeit gar nicht mehr leisten."

Zu wem muss ich nett sein?

Muss ich die Witwe meines Vaters, die nicht meine Mutter ist, zu Weihnachten einladen, auch wenn ich sie nicht mag?, fragt eine Kollegin. Darf ich den Mann, der meine Cousine verlassen hat, mit einer Freundin verkuppeln und mit dem neuen Glück gemeinsam verreisen? Was ist dicker, Blut oder Sympathie? "Normalerweise sind wir die großen Aussucher", sagt der Hamburger Psychologe Oskar Holzberg, "wir tun uns nichts an, was uns keinen Spaß macht.

Unser Freundeskreis ist handverlesen, wir verkehren in der Schicht, die uns kulturell und sozial zusagt. Wenn uns deshalb etwas vorgesetzt wird, mit dem wir uns abfinden müssen, tun wir uns schwer." Familie dagegen fragt uns nicht, Familie passiert einfach. Als warmer Sommerregen oder als eiskalter Hagelschauer. Wenn, wie gerade einer Kollegin geschehen, die Tochter in eine Familie einheiratet, deren erzkonservative Eltern noch von "warmen Brüdern" am "anderen Ufer" sprechen und damit Schwule meinen? Das allein ist schlimm genug, schlimmer - zumindest auf jeder Familienfeier - ist, dass der Sohn meiner Kollegin schwul ist. "Ich sitze jedes Mal wie auf glühenden Kohlen", sagt sie.

Manchmal genießen wir, aber manchmal überfordert uns sie.

Familie müsse die weiche Stelle sein, auf die man fällt, wenn das Leben zuschlägt, sagt Dr. Phil, der Hauspsychologe der früheren amerikanischen Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey. Ja, das klingt schön, aber noch öfter ist sie leider zu einer riesigen Grauzone geworden, weil sich im Laufe unseres Beziehungslebens so viel Ballast angesammelt hat. Natürlich würde man sich am liebsten nur die Rosinen herauspicken, die "Prahlverwandtschaft", die ein neuer Partner manchmal ganz überraschend in die Runde trägt. Der Ex-Schwager einer Freundin ist ein berühmter Alzheimerforscher, mit dem sie gern ein bisschen angab und sich nach der Scheidung leider nicht mehr schmücken kann. Auch großzügige "Zahlverwandtschaft" wird nach einer Trennung vermisst: "Der Bruder meines Ex hat eine Riesenfinca auf Ibiza", seufzt eine andere Freundin, "auf der wir die schönsten Urlaube verbracht haben, kostenlos. Jetzt kommt meine Nachfolgerin in den Genuss. Ich bin richtig neidisch."

Wahl-, Zahl-, Prahl- oder Qualverwandtschaft, genetisch oder angeheiratet, gibt es in allen Varianten. Manchmal genießen wir, aber manchmal überfordert uns das. Meine Mutter fühlt sich noch immer unloyal ihrem Ex-Schwiegersohn gegenüber, wenn sie den Mann einlädt, mit dem meine Schwester jetzt schon über zehn Jahre zusammen ist. Weil sie den alten lieber mag als den jetzigen. Und meine Nachbarin, deren Tochter sich ständig neu verliebt, spricht deren Männer immer nur mit "junger Mann" an, weil sie sich ihre Vornamen nicht mehr merken kann.

"Familie ist Fluktuation, das muss aber kein Fluch, sondern kann auch Segen sein", sagt Psychologe Holzberg, "eine interessante Herausforderung, bei der man neue Erfahrungen macht."

Ich werde mich bemühen. Aber eins weiß ich jetzt schon - sollte mein Mann sich von mir trennen wollen, Heidi und Jürgen werde ich behalten. Schließlich sind wir eine Familie.

Lesetipp: Beziehungen in der Familie

"Woher kennen Sie eigentlich meine Familie?", wird unsere Autorin Evelyn Holst oft von Unbekannten gefragt. In ihren humorvollen Schilderungen des wunderbaren, gelegentlich auch anstrengenden Alltags mit Kindern erkennen viele ihr eigenes Leben wieder - und gerade deshalb mögen sie die Kolumnen und Essays von Evelyn Holst so gern. Wenn es auch Ihnen so geht, dürfen Sie sich auf ein besonderes Lesevergnügen freuen: Das Buch von Evelyn Holst und Eva Gerberding "Wer sagt, dass Kinder glücklich machen?" (208 Seiten, 14,99 Euro, Südwest-Verlag) erscheint Anfang April.

Foto: Jack Hollingsworth/Corbis Text: Evelyn Holst BRIGITTE WOMAN 03/2012

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