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Alle wollen Anna

Einzelkinder bekommen viele Geschenke und haben ihre Eltern für sich allein. Aber was passiert, wenn sie von Großeltern, Tanten und anderen Familienmitgliedern ständig okkupiert werden? Die sonst keinen Zugriff auf Kinder haben? Ein Phänomen, das es früher nicht gab: Kinder im Belagerungszustand.

Anna Engelhardt* mag Ferien nicht besonders. Sie geht lieber zur Schule - auch weil es so schwer ist zu entscheiden, wo und mit wem sie die freien Tage verbringen soll. Seit Wochen versucht Annas Mutter Eva, eine Lösung zu finden. Evas Ex- Mann möchte seine Tochter mit zu seinen Eltern nehmen. Evas Eltern hätten Anna gern bei sich. Und Eva selbst würde am liebsten mit Anna abhauen. Irgendwohin fahren, wo niemand an der Siebenjährigen zerrt und sie mit Liebe überschüttet. Wo sich keiner in ihre Erziehung einmischt, auch wenn die Ratschläge noch so gut gemeint sind.

Eva Engelhardt liebt ihre Familie und wünscht sich, dass Anna zu ihren Omas und Opas ein ebenso gutes Verhältnis hat, wie sie es zu ihren eigenen Großeltern hatte. Aber Ferienplanung, Weihnachten, Ostern und Annas Geburtstage bedeuten für die 38-jährige Mutter "seit sieben Jahren Stress ohne Ende". Nicht weil es schwer wäre, die Termine ihres Ex-Mannes, der Großeltern, ihre eigenen und vor allem die von Anna unter einen Hut zu bringen. Das auch. Das Hauptproblem aber ist das Gezerre um ihre Tochter. Jeder will unbedingt mit ihr zusammen sein, denn Anna ist in ihrer Familie weit und breit das einzige Kind.

Das Einzelkind hält die Familie zusammen

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In vielen deutschen Familien ist das ähnlich. Kinder sind Mangelware. 2006 lebten 61,3 Prozent der Bevölkerung in Haushalten ohne minderjährige Kinder. Zehn Jahre zuvor lag der Anteil noch bei 57,3 Prozent. Der Geburtenrückgang hat sie zu einem kostbaren Gut gemacht. Für ihre Zukunft zu sorgen, zu sehen, dass das, was man sät, über die eigene Existenz hinaus weiterlebt, das hält nicht nur eine Gesellschaft, sondern auch eine Familie zusammen, dafür engagieren sich Tanten, Onkel, Großeltern und Paten.

Als Eva Engelhardt und ihre Schwester Katja Kinder waren, gab es in der Nachbarschaft ihrer Großeltern viele Gleichaltrige zum Spielen. Anna ist, wenn sie ihre Großeltern besucht, ausschließlich von Erwachsenen umgeben - von Spielplatzbesuchen einmal abgesehen. Viele Einzelkinder haben wenigstens Cousinen oder Cousins, wie zum Beispiel Annas Freundin Sophie. Aber Anna nicht, und in letzter Zeit fragt sie immer öfter, warum das so sei. Bei Familientreffen langweilt sie sich schnell, wird launisch, wenn sie ein paar Tage nicht mit Gleichaltrigen zusammen ist. Die Erwachsenen spielen zwar mit ihr, "aber was sie in dem Moment braucht, kann ihr kein Erwachsener geben", glaubt ihre Mutter. Mehr Kinder in der Familie, davon sind Eva und ihre kinderlose Schwester Katja überzeugt, würden zu einem entspannteren Miteinander führen.

Die Gründe, warum Frauen nur ein Kind oder gar keines bekommen, sind unterschiedlich. In den meisten kinderarmen Familie gibt es jedoch mindestens eine Person, der Kinder fehlen. Bei den Engelhardts sind es gleich fünf: Tante Katja in Hamburg und Annas Großeltern, die weit verteilt in Deutschland wohnen. Wenn Anna sie besucht, blühen sie auf. Mit ihrer Enkelin treten Lachen, Spontaneität, Lebendigkeit und der Glaube an die Zukunft in ihr Leben. Gern hätten sie mehr davon. Anna. Immer wieder Anna. Ob sie will oder nicht, sie steht ständig im Mittelpunkt. Und genießt die Fürsorge gleich mehrerer Erwachsener. Dafür wird sie aber auch strenger beäugt als viele Kinder mit Geschwistern. Sie kann nicht mal ein bisschen Unfug machen, ohne dass es auffällt. Evas ältere Schwester Katja findet, dass "Anna oft gar nicht richtig Kind sein darf". Die 41-jährige Freiberuflerin hat die Hoffnung auf eigene Kinder aufgegeben, dafür hat sie ein enges Verhältnis zu ihrer Nichte. "Wenn Anna und ich nicht mindestens einmal pro Woche einen Nachmittag miteinander verbringen, fehlt uns etwas."

Eva freut sich, dass Anna mit Katja eine weitere Bezugsperson hat, die Anteil an ihrer Entwicklung nimmt und ihr Dinge beibringt, an denen sie selbst wenig Interesse hat: Häkeln zum Beispiel. Katja holt Anna auch von der Kita ab, wenn Eva länger arbeiten muss. Allerdings hat Eva auch oft das Gefühl, sich gegen die Erziehungs- oder Verwöhnversuche ihrer Schwester wehren zu müssen. "Katja ist der Meinung, dass Kinder möglichst kein Fernsehen schauen sollten", sagt Eva. "Jedes Mal, wenn sie zu uns kommt und Anna gerade eine Kindersendung guckt, fühle ich mich schlecht." Andererseits beweise ihre Schwester "eine Engelsgeduld, wenn Anna vor dem Schlafengehen schnell noch einen Kopfstand macht und im Badezimmer rumtrödelt", erzählt Eva. Bei Anna sorgen so widersprüchliche Reaktionen der Erwachsenen nicht unbedingt für Klarheit. Trotz des häufigen Kontakts zu ihrer Nichte: Ein eigenes Kind kann Anna Katja nicht ersetzen. "Natürlich bekomme ich nur einen Bruchteil von Annas Leben mit", bedauert Katja. "Das führt dazu, dass ich mir ständig Sorgen um sie mache." Sie wisse selbst, wie lächerlich es sei, wenn sie ihre Schwester mit Informationen aus dem Internet über Windpocken bombardiere, nachdem diese ihr erzählt hat, dass Anna daran erkrankt sei. "Aber auch sonst fallen mir - manchmal sogar nachts - tausend Gründe ein, warum es ihr gerade nicht gutgehen könnte."

Alle zerren am Einzelkind

Anna. Immer wieder Anna. Katja kümmert und sorgt sich Tag und Nacht um sie. Aber auch die Großeltern klammern. Sie würden ihr einziges Enkelkind gern öfter zu Gesicht bekommen. Wenn Anna bei ihnen ist, versuchen sie nicht selten, die Abfahrt zu verzögern. Auch Eifersüchteleien wie "Bei uns war sie schon länger nicht mehr" kommen vor. Alle zerren an Anna.

Solch eine Dynamik wirkt sich auf alle Beteiligten eher negativ aus. "Wenn das Kind merkt, dass die Erwachsenen von ihm Liebe, Aufmerksamkeit und Zeit einfordern, wird es vorsichtig", sagt der Psychologe Rainer Künstler. "Es baut eine Glaswand auf und teilt den Eltern und Großeltern weniger die eigenen Bedürfnisse mit. Irgendwann kommen diese vielleicht nicht mehr an das Kind heran."

So krass ist Annas Situation sicherlich nicht. Zwar haben ihre Großeltern eigene Interessen. Aber sie zeigen der Enkelin auch, wie lieb sie Anna haben - um ihrer selbst willen, weil sie so ist, wie sie ist. Doch Anna käme noch lieber zu ihnen zu Besuch, wenn es in ihrer Nachbarschaft mehr Kinder gäbe.

So bleibt nur die Möglichkeit, andere Kinder mitzunehmen. Annas Freundin Sophie zum Beispiel. "Für Anna wäre es das Tollste, mit Sophie eine Woche bei meinen Eltern zu verbringen", glaubt Eva. "Dann könnten wir alle endlich mal tun, wozu Ferien da sind: entspannen."

* Namen von der Redaktion geändert

Text: Jeannette Villachica Foto: Nele Martensen

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