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"Kann ich meine Schwiegermutter pflegen?"

Natalias Schwiegermutter hat Demenz. Die 80-Jährige soll in ein Pflegeheim. Doch Natalia bringt das nicht übers Herz. Sie denkt darüber nach, ihre Schwiegermutter bei sich aufzunehmen.

Es fing an mit ein paar Aussetzern. Manchmal vergaß meine Schwiegermutter meinen Vornamen oder siezte mich plötzlich mitten im Gespräch. Hin und wieder saß sie am Esstisch und rieb mit einem Stück Papier ein anderes, so als wollte sie es reinigen. Die Diagnose der Hausärztin stand schnell fest: Demenz. Ich kannte meine Schwiegermutter seit Jahrzehnten ganz anders – fit, schlagfertig, diskutierfreudig. Nun war mir die 80-Jährige total fremd, die Momente großer Verwirrtheit waren fast gruselig. Aber ich versuchte damit umzugehen. Ich lenkte ihre Aufmerksamkeit dann meist auf etwas anderes oder verwickelte sie in ein Gespräch als wäre nichts gewesen. Schließlich wollte ich sie nicht verlegen machen.

Sie kann nicht in ihre Wohnung zurück.

Vor zwei Monaten musste meine Schwiegermutter operiert werden. Seitdem hat sich ihre Situation verschlechtert. Sie scheint aus der Narkose nie komplett aufgewacht zu sein. Die Welt um sich herum nimmt sie kaum noch wahr. Sie reagiert zwar, wenn man sie anspricht, aber sie nimmt nur die Sprachmelodie einer Frage wahr, nicht deren Inhalt.

Körperlich ist meine Schwiegermutter fit, aber sie kann nicht selbstständig essen oder ihr Geschirr halten. Sie versteht die Abläufe nicht. Sie könnte zwar selbstständig laufen, aber sie scheint nicht zu wissen wie. Sie kann nicht selbst aus dem Bett steigen und ein paar Schritte gehen. Daher muss sie immer gestützt und aus dem Bett gehoben werden. Auch auf die Toilette kann sie nicht allein gehen, sich nicht allein waschen oder anziehen. Es ist offensichtlich, dass sie in dem Zustand nicht mehr zu ihrem Ehemann in die gemeinsame Wohnung im Süden von Berlin zurück kann. Mein Schwiegervater, selbst 79 Jahre, schlug nach längerem Überlegen ein Heim vor.

Doch das kommt weder für meinen Mann noch für mich in Frage. Wir kommen beide aus Weißrussland und dort sind Alters- oder Pflegeheime gleichzustellen mit einem Hospiz: eine Anlaufstelle für alte Menschen, die nie Kinder hatten oder deren Freunde schon längst tot sind. Die alten Leute werden einfach vergessen und sterben in völliger Einsamkeit.

Ich weiß, dass die deutschen Heime so nicht sind. Doch ich finde trotzdem, dass alte Menschen nicht in ein Heim gehören. Ich bin mit einer großen Familie aufgewachsen. Generationen lebten bei uns immer unter einem Dach. Erst kümmerten sich die Alten um die Jungen und irgendwann mussten die Alten einsehen, dass sie selbst Hilfe benötigten.

Betreuung bei Demenz ist ein 24-Stunden-Job

Daher überlege ich, meine Schwiegermutter bei uns aufzunehmen – bei mir und meinem Mann. Ich bin nicht mehr berufstätig, aber mein Mann arbeitet sehr viel. Die Hauptlast würde somit bei mir liegen. Doch ich fühle mich der Aufgabe gewachsen, immerhin habe ich zwei Kinder groß gezogen.

Aber wenn ich abends im Bett liege, schleichen sich Bedenken ein und lassen mich an meinem Vorhaben und meiner Kraft zweifeln. Wie soll ich sie baden oder aus dem Bett heben, wenn mein Mann nicht da ist? Mein Alltag wird sich komplett verändern. Kurze Ausflüge in die Stadt oder zum Supermarkt werden von nun an eine umfangreiche Planung erfordern.

Ich werde mir einreden, dass sie mich tatsächlich versteht.

Sie wird dann nie allein sein, denke ich mir dann und versuche mich positiv zu stimmen. Doch auch ich werde es dann nie mehr sein. Zeit für mich allein wird nur noch Luxus sein. "Du hast keine Vorstellung, wie schwierig das wird", warnte mich meine Schwester, als ich ihr davon erzählte. "Du bist dann bis zu ihrem Tod an sie gebunden. Weißt du. wie hart das ist?" Sie weiß, wovon sie spricht, denn sie hat jahrelang in einem Krankenhaus gearbeitet und auch alte Menschen betreut.

Ich werde für meine Schwiegermutter kochen, sie füttern, baden und unterhalten, ihr Geschichten erzählen von ihrem Sohn und ihren Enkeln. Ich werde mir und ihr einreden, dass sie mich tatsächlich versteht. Ich weiß, es wird nicht einfach. Es wird sogar sehr schwer. Aber ich habe das Gefühl, dass das meine Aufgabe ist. Sie ist alt. Sollten sich nicht jetzt wir Jungen um sie kümmern?

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Protokoll: Alexandra Zykunov Fotos: iStockphoto

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