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Autofahren im Alter: Soll ich meinen Eltern den Führerschein wegnehmen?

Autofahren im Alter
© Shutterstock/Ocskay Mark
Wie bringt man seinem Vater bei, dass er sich nicht mehr hinters Steuer setzen sollte? Eine Tochter über eine schwierige Entscheidung.
Text: Constanze Beyer

"Papa! Die Ampel war rot! Du bist einfach rübergefahren!" - "Bin ich das?" - "Ja, bist du!" - "Oh. Na ja. Aber ist ja nichts passiert. So, jetzt besorgen wir erst mal die Blumen."

Die Reaktion meines damals Ende 70-jährigen Vaters war die eines Menschen, dem klar wird, dass er einen Fehler gemacht hat, der in eine Katastrophe hätte münden können, wäre der Zufall nicht gnädig gewesen: Erschrecken. Beschämung. Beschwichtigung. Verdrängen.

Das mit dem Verdrängen klappte aber nicht. Jedenfalls nicht bei mir.

Seit mein Vater — ein Mann, der sein ganzes Autofahrerleben lang pedantisch darauf geachtet hatte, nie auch nur ein kleines bisschen zu schnell zu fahren - mit exakt 49 Stundenkilometern und ohne mit der Wimper zu zucken bei Rot über eine Fußgängerampel gefahren war, an der zum Glück kein Fußgänger auf Grün wartete, bin ich nicht mehr zu ihm ins Auto gestiegen. Meine Kinder auch nicht, das wusste ich zu verhindern, unauffällig.

Das Lenkrad als Rettungsring

Es hatte mich schon lange nervös gemacht, wie er Auto fuhr: weit nach vorn gelehnt, die Straße fixierend, als wäre sie ein schmaler Pfad, an dem links und rechts ein Abgrund klafft, dabei mit beiden Händen ans Lenkrad geklammert wie an einen Rettungsring.

Führerschein abgeben? Vergiss es!

Nach der roten Ampel war es mir endgültig zu gefährlich, wenn er am Steuer saß. Ihm das in Gesicht zu sagen, traute ich mich aber nicht. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, mein Bruder jedoch nahm mir den Mut.

"Gestern ist Papa, ohne es zu merken, über Rot gefahren. Meinst du, wir sollten mal mit ihm reden?" - "Worüber?" - "Dass er demnächst mal seinen Führerschein abgibt."- "Vergiss es! Nie im Leben macht er das freiwillig. Und wenn, muss er schon von selbst drauf kommen."

"Autofahren, so lange es geht"

Inzwischen ist mein Vater 86 und immer noch nicht darauf gekommen, das mit dem Autofahren freiwillig sein zu lassen. Mein Vater hat sich im Leben nicht viel gegönnt, aber ein Neuwagen alle fünf Jahre, darauf bestand er: Der Wagen wurde gesaugt, poliert und scheckheftgepflegt, in einer Mietgarage geparkt und sah immer noch wie neu aus, wenn er in Zahlung gegeben wurde, weil der nächste Neuwagen fällig war.

Sein jetziges Auto ist das erste, das er schon sieben Jahre fährt, denn er hat verkündet, dass es sein letztes sein soll. Aber dieses letzte Auto will er behalten. Und fahren. Bis es nicht mehr geht, so seine Worte.

Was genau er mit Bis-es-nicht-mehr-geht meint, führt mein Vater nicht näher aus. Vermutlich: Bis er nicht mehr gehen kann. Mein Vater kann nicht mehr sehr gut gehen, aber vom Haus zum Auto schafft er es noch locker.

Ich bete, dass nichts passiert

Er fährt keine weiten Strecken mehr, er fährt nicht in die überfüllte Innenstadt, er fährt nicht täglich. Aber er fährt im Stadtteil einkaufen. Freunde besuchen. Zum Arzt. Oder holt meine Mutter irgendwo ab. Er fährt an Schulen und Kindergärten und Fahrradfahrern vorbei, über Fußgängerampeln und Zebrastreifen und unübersichtliche Kreuzungen. 

"Willst du deinen Vater unglücklich machen?"

Ich versuche, nicht daran zu denken, dass er das tut, und wenn ich dran denke, sende ich ein Stoßgebet gen Himmel: Lieber Gott, lass bitte nichts passieren! Gott ist in dieser Angelegenheit meine letzte Hoffnung. Auch meine Mutter ist nicht willens, meinem Vater das Autofahren auszureden. Kein Wunder, sie kauft nicht gern ein. Und hatte selbst nie einen Führerschein.

"Mama, wäre es nicht besser, wenn Papa nicht mehr Auto fahren würde?" - "Wieso soll das besser sein? Wer macht denn dann die Einkäufe?" - "Ich zum Beispiel." - "Ach, du hast doch schon so viel zu viel zu tun. Außerdem, nun übertreib mal nicht. Dein Vater ist ein vorsichtiger Fahrer, ich lasse mich sehr gern von ihm fahren." - "Na ja. Und selbst wenn. Es reicht nicht, selbst vorsichtig zu fahren, wenn andere unvorsichtig sind: Was, wenn ein Kind auf die Straße läuft? Wenn man alt wird, nimmt das Reaktionsvermögen automatisch ab. Willst du ein solches Unglück riskieren?" - "Willst du deinen Vater unglücklich machen?"

Ärztlich verordnetes Fahrverbot - die Lösung?

Vor zwei Jahren dachte ich, Gott hätte ein Einsehen gehabt und meinem Vater einen eleganten Ausstieg aus seiner sich längst im Sinkflug befindlichen Autofahrerkarriere geschenkt - einen, der es ihm erlaubt, ohne Gesichtsverlust mit dem Autofahren aufzuhören, also ohne sich und anderen eingestehen zu müssen: Ich bin zu alt.

Ein Arzt vermutete bei ihm eine weder lebensbedrohliche noch schmerzhafte, aber den Alltag beeinträchtigende Krankheit. Er verschrieb meinem Vater ein Medikament, das die Krankheit in Schach halten würde, und ermahnte ihn: "Wenn Sie das nehmen, sind Sie fahruntüchtig, Sie dürfen auf keinen Fall Auto fahren!"

Mein Vater haderte, meine Mutter fragte, ob wir nicht doch mal einkaufen fahren könnten, mein Bruder und ich seufzten erleichtert. Nach ein paar Wochen ostentativen Mitgefühls mit meinem an Trennungsschmerz leidenden Vater versuchten wir, die Sache zum Abschluss zu bringen.

"Papa, willst du das Auto nicht verkaufen?" - "Aber vielleicht brauchen wir es noch." - "Wofür?" - "Vielleicht will einer von euch das mal benutzen." - "Wir haben eigene Autos, Papa. Und das kostet doch nur, wenn es rumsteht. Steuer, Versicherung, Garagenmiete. Allein von dem Geld, das du sparst, wenn du das nicht mehr bezahlen musst, könnt ihr dreimal pro Woche Taxi fahren." - "Ich behalte das Auto erst mal noch."- "Aber nicht, weil du wieder damit fahren willst, oder? Der Arzt hat gesagt, das darfst du nicht mehr!" - "Mal abwarten."

Mein Bruder und ich warteten ab, monatelang. Wir fuhren abwechselnd mit meinem Vater zum Supermarkt, mein Vater verkaufte das Auto nicht. #

Er weigerte sich, weiter über das Thema zu reden. Er guckte, wenn wir damit anfingen, an die Zimmerdecke und sagte nichts außer: "Ja ja. Hmhm. Na ja." Meine Mutter sagte: "Dazu kann ich nichts sagen, ist ja sein Auto."

Wir gaben auf. Wenn es so wichtig für seinen Seelenfrieden war, sich weiter als Autobesitzer fühlen zu können: Dann war das halt so, jeder hat seine Macken. Wir vergaßen das Auto. Bis zu jenem Tag, an dem mein Bruder unsere Eltern anrief, um mit ihnen den nächsten Einkaufstermin zu verabreden, und meine Mutter sagte:

"Nicht nötig, Papa ist schon einkaufen gefahren." - "Seid ihr verrückt geworden?" - "Nein. Er hat das Medikament abgesetzt." - "Hat der Arzt das erlaubt?" - "Ja." - "Hat er Papa auch erlaubt, wieder Auto zu fahren?" - "Ja." - "Ich glaub’s nicht!" - "Wieso? Ist doch schön, dass er wieder allein einkaufen kann, das ist ja doch eine große Last für euch." - "Ist es nicht!" - "Helga war letzte Woche bei uns, die hat auch gesagt, sie würde sich das Autofahren nicht verbieten lassen."

Helga ist meine Schwiegermutter, ab und zu laden sie und meine Eltern sich gegenseitig zum Kaffeetrinken ein. Helga ist 87. Sie ist sehr energisch, und anders als mein Vater ist sie so fit, als hätte sie mit 70 beschlossen, mit dem Älterwerden aufzuhören. Anders als meine Mutter hat sie einen Führerschein. Auch Helga fährt immer noch Auto, zu Freundinnen, zum Doppelkopf, zum Friseur, ins Kino, ins Theater, aufs Land, und das sehr souverän.

Keiner von uns käme auf die Idee, sie davon abhalten zu wollen. Und keiner wäre auf die Idee gekommen, dass sie meinen Vater anstacheln könnte, damit wieder anzufangen.

"Ich fahre Auto bis ins Grab."

"Helga, was sollte das? Wir waren so froh, dass Vater nicht mehr Auto gefahren ist!" - !Was geht euch denn das an?" - "Nun, ich bin seine Tochter." - "Und dein Vater ist ja wohl alt genug, das selbst zu entscheiden. Meine Meinung. Und mit der halte ich nicht hinterm Berg. Auch nicht dir zum Gefallen." - "Aber er kann nun mal nicht mehr so gut Auto fahren wie du, er ist eine Gefahr, für sich und, noch schlimmer, für andere!" - "So ein Quatsch, mein Kind. Eurem Sohn verbietet ihr auch nicht das Autofahren, dabei machen 19-Jährige viel mehr Unfälle als alte Leute. Komm bloß nicht auf die Idee, mir auch irgendwann den Führerschein wegnehmen zu wollen." - "Wir haben ihm den Führerschein nicht weggenommen." - "Ach, aber so ähnlich. Ich fahre Auto, solange ich will, schreibt euch das hinter die Ohren. Und zwar bis ins Grab, wenn’s nach mir geht."

Mein Bruder, mein Mann, meine Schwägerin und ich, wir haben jetzt kapituliert. Gegen das stahlbetonharte Pro-Auto-Bündnis unserer Eltern sind wir chancenlos.

Eine Frage der Würde?

Vielleicht haben sie ja auch recht mit ihrer Weigerung, ihre Mobilität und damit Unabhängigkeit — ja, auch ihre Würde — der Vernunft und Sicherheit opfern zu wollen. Vielleicht haben sie aber auch nicht recht. Und vielleicht werde ich es genauso machen wie sie, wenn es dann mal so weit ist.

Ich bete sicherheitshalber weiter, für uns alle.

Videotipp:

Fallback-Bild
Text: Constanze Beyer. Ein Artikel aus BRIGITTE Woman 05/17

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