Anzeige

Sie: im 81. Stock. Er: Feuerwehrmann

Sie: im 81. Stock. Er: Feuerwehrmann
© Anastasiia Skorobogatova / Shutterstock
Innerhalb weniger Stunden fiel ihre Welt auseinander: Jean und Dan Potter sind Überlebende des 11. September 2001. Und seitdem enger beieinander als je zuvor.

Es ist kurz nach fünf, ein sonniger Nachmittag, als Beauty zu Besuch kommt, ein Reh, hellbraun das Fell, gespitzt die Ohren. Beauty stolziert durch den Garten der Potters zum Küchenfenster ihres Hauses, vor dem Dan Potter Mais gestreut hat. Für Beauty. Und für die beiden Eichhörnchen, die gleich angehüpft kommen und sich zu Beauty gesellen. Das Reh geht an den Mais, kaut, dann schaut es mit großen Augen zum Küchenfenster. Dort steht Jean Potter, schulterlang das rötliche Haar, und ruft mit weicher Stimme: "Da bist du ja, Beauty!" Sie lächelt. "Süß, nicht?" Kleine Pause, ein verklärter Blick nach draußen, dann sagt sie: "Tiere haben etwas sehr Heilendes." Jean und Dan Potter, beide Mitte 50, leben in Hemlock Farms, einer "gated community", einer bewachten Siedlung in Pennsylvania, deren Einfahrt von drei Kameras und zwei Schranken geschützt wird. Die Gegend hier ist grün und hügelig. Es ist nicht viel mehr zu hören als das Rascheln der Bäume, die vom Wind gekitzelt werden. Hemlock Farms liegt nur zwei Autostunden nordwestlich von New York City, doch die Potters hätten sich kaum weiter von ihrem alten Leben entfernen können: Das spielte sich im lauten Manhattan ab, ehe es am 11. September 2001 in den Trümmern des World Trade Center verschüttet wurde. Jean und Dan entkamen dem Tod damals "so knapp", wie Jean jetzt zeigt, sie hält Daumen und Zeigefinger bis auf einen Millimeter aneinander.

Jean, eine geschiedene Sekretärin, und Dan, ein geschiedener Feuerwehrmann, hatten erst zwei Jahre vorher geheiratet. Er war in ihr Apartment gezogen, in Battery Park City in Manhattan, mit Blick auf die Zwillingstürme. Jean arbeitete in der 81. Etage des Nordturms. Sie war die Assistentin des Geschäftsführers der Bank of America, als an jenem himmelblauen Dienstag um 8.46 Uhr Ortszeit ein Flugzeug über ihr einschlug, das erste, und der Turm schrecklich zu schwanken begann. "Auf einmal wurde es heiß und roch nach Benzin", sagt Jean und stockt. Unsicher blickt sie zu Dan, einem Herrn mit hellgrauer Elvistolle und gemütlichem Bauch, er nickt ihr beruhigend zu. Die Potters schauen sich häufig an, als hielten sie Händchen mit ihren Blicken. Sie sitzen einen Couchtisch voneinander entfernt in ihrem Wohnzimmer, Jean auf einem bordeauxroten Sofa, Dan in einem bordeauxroten Sessel. Beide sagen, es falle ihnen schwer, über den 11. September zu sprechen, auch zehn Jahre danach noch. Dan überlebte die Einstürze beider Türme in der direkten Umgebung des World Trade Center, aus der kaum jemand herauskam. Er erlitt Rückenverletzungen, die ihn im Alter von 44 Jahren in den Ruhestand zwangen. "Unsere Welt fiel total auseinander", sagt Jean. Vor dem 11. September 2001 waren die Potters ein Paar, das gern ausging. Mit Dans Sohn Craig oder mit seinen Eltern, die aus Long Island zu Besuch kamen: "Wir sind oft in die Carnegie Hall gegangen", sagt Jean. "Einmal haben wir dort Tony Bennett live gesehen." Sie lacht, ein wunderbarer Abend! Dan sagt, er habe die Zwillingstürme geliebt: "Man konnte sie ja von überall in Manhattan sehen, und ich habe jedes Mal zu ihr gesagt: 'Schau, Jean, da ist unser Zuhause.'"

Und genau das war die Stadt für sie - Heimat. Jean hatte eine glückliche Kindheit in Brooklyn verbracht. Ihre Vorfahren waren aus Italien nach New York eingewandert. Dans Eltern sind direkt nach seiner Geburt von Brooklyn nach Brentwood gezogen, einer kleinen Stadt auf Long Island, vor den Toren New York Citys. Die Potters hatten viele Pläne. Als Erstes wollten sie sich ein größeres Apartment kaufen. Und sie wollten reisen. "Mein großer Traum war ein Urlaub auf den Keys in Florida", erzählt Jean. Doch dann kam der 11. September. Seit jenem Tag reisen sie nur noch mit dem Auto. Nach New Jersey, ans Meer. Meist aber sind sie hier, in Hemlock Farms. "Wir steigen in kein Flugzeug mehr", sagt Jean. Dan hatte am 11. September keinen Dienst in seiner Wache in Downtown Manhattan. Er fuhr zu einer Fortbildung nach Staten Island, als seine Frau ins Büro ging. Jean trug schwarze flache Schuhe, "Zum Glück", sagt sie. Denn da war ihr Kollege Ben, der nach dem Einschlag ihre Hand nahm und sie die Treppen hinabzog, 81 Stockwerke. Als sie in der 44. Etage waren, hörte Jean "eine massive Explosion" - das zweite Flugzeug, es traf den Südturm, aber "an Terror dachte in dem Moment keiner von uns", sagt sie.

Dan Potter saß währenddessen in einem Klassenzimmer auf Staten Island, als sein Tischnachbar einen Anruf auf dem Handy bekam: "Zwei Passagierflugzeuge sind ins World Trade Center eingeschlagen." Dan lief zum Fenster: Tatsächlich, die Türme brannten. Er wählte die Büronummer seiner Frau: "Hier ist Jean Potter. Ich bin nicht an meinem Platz." Er sprang in seinen Wagen und gab Gas. Zehn Minuten später war er am World Trade Center: "Ich lief auf die Türme zu", sagt Dan, dann hält er inne. Sein Gesicht verspannt sich, er starrt für einen Moment auf den Boden. Jean sieht ihn an, seufzt. Sie weiß, was er dann gesehen hat. Körperteile von Menschen, die sich aus den Fenstern gestürzt hatten. Dan lief zu seiner Wache in die Liberty Street, südlich des World Trade Center, und schaute den Nordturm hinauf. "Ich muss sie da rausholen, war alles, was ich denken konnte." Jean glaubte, sie müsse sich um Dan keine Sorgen machen. Die Potters ahnten nicht, wie nah sie einander in diesem Augenblick waren. 9.58 Uhr. Jean hatte es gerade aus dem Gebäude geschafft, als sie "ein Grollen hörte, unglaublich laut". Sie sah hoch. "Ich dachte, ich sterbe. Ich hatte es nach unten geschafft. Doch nun schien es kein Entkommen mehr zu geben." Aber dann griff eine Hand nach ihr, sie gehörte einem Polizisten, der Jean in einen U-Bahn-Eingang zog, als der Südturm in sich zusammenfiel.

Menschen gehen mit solchen Situationen unterschiedlich um. Ich wurde immer stiller, bei Dan verwandelte sich Trauer in Wut

Dan steht auf und geht durch das Wohnzimmer. Aufrecht und langsam; drei kaputte Bandscheiben zwingen ihn, sich "wie ein alter Mann zu bewegen", sagt er. Liebevoll schaut sie ihm nach. Jean ist eine Frau, die sich gern kümmert, die weiß, was er braucht - auch ohne große Worte. Sie reicht ihm ein Glas Wasser, ohne dass er danach fragt. "Du hast doch sicher Durst, Honey." Sie nennt ihn "Honey", er nennt sie "Babe", es klingt beschützend. Seine Stimme ist tief, seine Art nüchtern. Typisch Feuerwehrmann: keine Panik verströmen. Dan ist für Jean da, wenn sie "von Terror und den Taliban" träumt, sagt sie. Die Träume sind weniger geworden, aber sie hören nicht auf, "zu einschneidend" seien die Erlebnisse des 11. September gewesen. Doch die Potters konnten sie teilen: Während die Ehe vieler Überlebender zerbrach, "hatten wir einander", sagt Jean. Sie lief nach Norden, als sie das zweite Grollen hörte. Sie drehte sich nicht um, als der Nordturm kollabierte. Jean ging geradewegs in eine Feuerwache in der Canal Street. "Hallo", sagte sie, "ich bin die Frau eines Feuerwehrmannes, wie kann ich helfen?" Man setzte sie an ein Telefon, wo Jean die Anrufe besorgter Angehöriger entgegennahm. Aber das Telefonnetz funktionierte kaum. Jean versuchte immer wieder, ihre Eltern anzurufen, einmal kam sie durch. Ruft Dans Eltern an, rief sie, sagt ihnen, ich lebe. "Ich dachte, Jean sei tot", erinnert er sich, Tränen in den Augen. Er blickt zu Jean, sie lächelt ihm beruhigend zu.

Überlebende 11. September: Die Erinnerungen verblassen nicht

Nach dem Einsturz des Nordturms war Dan durch Staub und schwarze Aschewolken nach Hause gerannt: Er hatte gehofft, sie in ihrem Apartment zu finden - vergebens. Verzweifelt lief er wieder nach draußen, "zu unserer Bank am Hudson", wie er sagt, auf der er abends gern mit Jean gesessen, vom Tag erzählt und aufs Wasser geschaut hatte. Er setzte sich, stützte seinen Kopf auf die rechte Hand, als ein Fotograf sein Bild festhielt. Es ging damals um die Welt. Dan lief zurück. Als er in der Wohnung war, klingelte das Telefon. Es war sein Vater, der fragte: "Bist du okay?" Dan antwortete: "Ich glaube, Jean ist tot." "Unsinn", sagte sein Vater, "Jean sitzt in der Wache und macht Telefondienst." Dan ließ den Hörer fallen und rannte. "Habt Ihr eine Rothaarige hier?", keuchte er, als er in der Wache ankam, atemlos. "Klar", rief jemand, "da hinten in der Ecke!" Tatsächlich, da saß sie - und dann fielen Jean und Dan sich in die Arme und hielten einander fest. "Ich weiß nicht, wie lange", sagt Jean, und Dan lächelt ganz warm. Sie waren erleichtert wie noch nie in ihrem Leben. In ihrer Wohnung konnten die beiden nicht bleiben: Die Fenster waren zersprungen, die Möbel voller Staub. Die Potters zogen in ein Hotel an der Park Avenue. Dan war tagsüber mit den Aufräumarbeiten an Ground Zero beschäftigt, "er hatte immer einen schrecklichen Ausdruck im Gesicht, wenn er nach Hause kam", erinnert sich Jean. Allein fühlte sie sich unwohl, hatte Angst. Wann immer Dan konnte, brachte er sie mit dem Auto zur Arbeit. Nach New Jersey, wo die Bank of America übergangsweise hingezogen war. Doch jedes Telefonklingeln, jedes Geräusch überforderte Jean. "Mein Gehirn arbeitete wie in Zeitlupe." Eine solche Katastrophe zu überleben ist eine Sache, mit den Erinnerungen daran zu leben eine andere. Die Potters nahmen das Tempo aus ihrem Leben. Zogen nach Bronxville, ein Städtchen in Upstate New York. Jean fuhr jeden Tag mit dem Zug nach New York City, doch sobald sie die Skyline sah, wurde sie panisch. Jean kündigte, kaum dass ihre Firma zurück nach Manhattan gezogen war: "Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen."

Es gab damals viele Momente, in denen die Potters an ihre Grenzen gelangten. "Unsere Nerven waren zum Zerreißen gespannt", sagt Jean Potter. "Menschen gehen mit solchen Situationen unterschiedlich um: Ich wurde immer stiller, bei Dan wandelte sich Trauer in Wut." Ihr Mann explodierte, wenn ihm ein Taxi die Vorfahrt nahm. Er schrie einen Polizisten an, der an einer Absperrung auf Ground Zero seinen Feuerwehrausweis ein wenig zu lange kontrollierte. Idiot! Jean sagt, es habe "eineinhalb Jahre gedauert", ehe sie einmal wieder richtig lachen konnte: In Bronxville, da habe Dan sie beide "the collapsed couple" genannt, "das kollabierte Paar". Das fanden sie beide ziemlich komisch.

Jean versuchte sich als Maklerin, Dan arbeitete in einem Hospiz, "doch Bronxville fühlte sich nicht nach Heimat an", sagen die Potters. Vor fünf Jahren kauften sie dann dieses Haus in Hemlock Farms, einem Ort, der ihnen vertraut war: Jeans Eltern leben seit einigen Jahren hier. "Der Rückzug in die Natur hat uns gerettet", sagt Jean heute. Jeden Tag laufen sie durch den Garten oder beobachten aus dem Fenster ihre geliebten Wildtiere. Manchmal stapft ein neugieriger Braunbär über das Grün, Füchse schleichen umher, Murmeltiere sausen durchs Gebüsch, und "einmal habe ich sogar einen Luchs auf unserem Hof beobachtet", erzählt Jean. Aber sie seien immer noch dabei, ihr "Leben zu justieren", wie Jean es nennt. "Ich habe mein Leben lang gearbeitet", sagt sie, "und ich habe es wahnsinnig gern getan. Leider gab es hier keine Stelle für mich."

Anfangs sei es schwer gewesen, morgens aufzustehen und keinen Ort zu haben, an den sie gehen konnte. Dan sah, wie unglücklich sie war, was wiederum ihn unglücklich machte. "Irgendwann sagte ich zu ihr: 'Jean, meinetwegen hilf den Bauarbeitern nebenan - aber tu irgendwas!'" Jean Potter wandte sich an die Leiterin des Frauengefängnisses ganz in der Nähe. Seither kümmert sie sich um die Inhaftierten. "Ich hoffe, dass ich damit meinen Beitrag leisten kann", sagt sie und fügt bescheiden hinzu, "und sei er auch noch so klein." Außerdem hat sie ein Buch über ihr Leben geschrieben: "Mit Gottes Gnade. Die Geschichte einer 9/11-Überlebenden über Liebe, Hoffnung und Heilung". An ihrem kleinen Schreibtisch hat sie es verfasst, in ihrem rosafarbenen Zimmer, das Dan liebevoll-ironisch das "Prinzessinnen-Zimmer" nennt. Für ihn war es leichter, wieder Fuß zu fassen, zumindest was die berufliche Perspektive betraf, "auch wenn Dan nach seiner Frühverrentung aufgrund des psychischen und physischen Traumas erst einmal in ein tiefes Loch gefallen war", sagt Jean Potter. Inzwischen arbeitet ihr Mann wieder bei der Freiwilligen Feuerwehr und bildet dort den Nachwuchs aus. Die Potters sagen, sie können den 11. September nicht vergessen, wie auch? "Er ist noch immer täglich Thema in den Nachrichten." Sie werden den zehnten Gedenktag begehen wie alle anderen - still. "Wir gehen in die Kirche", sagt Jean, "und beten für die Menschen, die wir verloren haben", ergänzt ihr Mann. Jean und Dan Potter, zwei "grateful hearts", so steht es auf einem braunen Holzschild vor ihrem Haus geschrieben. Dankbare Herzen.

Dan Potter wurde im März 1957 in Brooklyn als Sohn eines Elektrikers geboren. Er wuchs mit drei Geschwistern auf, die Familie zog nach seiner Geburt nach Brentwood, Long Island. Schon mit elf Jahren träumte Dan davon, Feuerwehrmann zu werden. Er begann als "Junior Firefighter" in Brentwood. Nach einer erfolglosen Bewerbung beim FDNY, dem "Fire Department" von New York City, wurde er in Washington D.C. angenommen und ausgebildet. 1982 wechselte Dan zur New Yorker Feuerwehr, in den folgenden Jahren arbeitete er in der Bronx und in Manhattan. Er heiratete und wurde Vater einer Tochter und eines Sohnes, doch seine Ehe scheiterte. Noch während seiner komplizierten Scheidung 1997 gab er eine Kontaktanzeige in der "New York Post" auf und lernte Jean kennen.

Jean Potter wurde im Dezember 1955 in Brooklyn, New York City, geboren. Ihre Urgroßmutter mütterlicherseits war aus Italien eingewandert. Sie lebte mit Eltern und Großeltern sowie Tante und Onkel unter einem Dach. Nach dem High-School-Abschluss arbeitete sie als Sekretärin, unter anderem bei Calvin Klein, Elizabeth Arden und Revlon. 1983 heiratete sie einen Mann aus der Finanzwelt, elf Jahre später wurde ihre Ehe geschieden. 1997 antwortete sie auf eine Kontaktanzeige eines Feuerwehrmanns in der "New York Post" - Dan Potter. Er schrieb, er habe Kinder und möge "Ausflüge aufs Land". Jean sehnte sich nach einem bodenständigen Mann mit Familienwerten, bei dem "ich mich sicher fühlen konnte", wie sie sagt. Sie rief an, verabredete sich mit Dan - und verliebte sich auf der Stelle.

Text: Ulrike von Bülow BRIGITTE WOMAN, Heft 09/11

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel