Anzeige

Treue im Berufsleben

Bettina Pröhl arbeitet seit fast zwei Jahrzehnten in derselben Firma - mittlerweile ein kleines Wunder im Berufsleben.

"Was können Sie mir denn diesmal empfehlen für drei Wochen ab Mitte September?", will die Kundin im Reisebüro wissen. Bettina Pröhl braucht nicht lange zu überlegen. Sie kennt die junge Frau schon fast seit deren Geburt. Früher kam sie zusammen mit ihren Eltern, wenn sie den Familienurlaub buchten, und ist dann bei dem vertrauten Reisebüro geblieben. "Viel Sonne, viel Ruhe", wünscht sie sich, das weiß die Reiseverkehrskauffrau. Schnell sind die beiden sich einig: La Gomera wird das Reiseziel.

Seit 17 Jahren arbeitet Bettina Pröhl, 45, in einem Reisebüro am Hamburger Stadtrand und hat fast nur Stammkunden. Viele kommen schon in der zweiten Generation. Inhaberin Ute Grönwoldt, die am Schreibtisch nebenan sitzt, weiß, was sie an ihrer Angestellten hat: "Je länger Frau Pröhl hier ist, desto wertvoller wird sie für mich", sagt die 51-Jährige. Sie braucht ihrer Mitarbeiterin keine Anweisungen mehr zu geben, weil die von sich aus das Richtige tut. Genau das empfindet Bettina Pröhl als angenehm: eigenständig zu arbeiten und vieles auch ohne Nachfrage bei der Chefin entscheiden zu können.

Einen beruflichen Lebenslauf mit vielen unterschiedlichen Stationen und Karrieresprüngen könnte sie nicht anbieten, wenn sie sich anderswo bewerben würde. Aber das will sie auch gar nicht – sie liebt ihren Job: "Kein Tag ist wie der andere, ich brauche nicht zu wechseln, damit es spannend bleibt." Und selbst nach all den Jahren kommt sie immer noch jeden Tag gern an ihren Arbeitsplatz. Warum also sollte sie sich etwas Neues suchen? Ein guter Standpunkt, findet die Hamburger Karriereberaterin Doris Hartmann: "Wenn man an seinem Arbeitsplatz gebraucht, gefordert und geschätzt wird, dann kann man dort auch bleiben."

Im Berufsleben hat Treue inzwischen ein schlechtes Image

Allerdings hat diese Treue heute ein schlechtes Image. "Und dann habe ich wieder ein tolles Angebot von der Konkurrenz bekommen, spontan Ja gesagt, und zwei Wochen später war ich weg", klingt einfach aufregender als "Ich bin noch da, wo ich gelernt habe, der Job ist genau richtig für mich, und ich will da auch bleiben". Betriebsjubiläen waren früher ein Anlass zum Feiern. Heute sparen sich immer mehr Arbeitgeber Buffets, Blumensträuße und Gratifikationen, berichtete kürzlich die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" – und vielen Mitarbeitern ist das nur recht: "Sie wollen gar nicht an die große Glocke hängen, dass sie 25 Jahre lang den Absprung nicht geschafft haben", heißt es in dem Artikel.

Ein neuer Job kann so aufregend sein wie eine neue Liebe. Man erfindet sich neu, zeigt sich von der besten Seite, macht vieles anders als bisher, lernt dazu. Und wird damit vielseitiger und interessanter. Deshalb empfehlen manche Karriereberater, möglichst alle paar Jahre den Arbeitgeber zu wechseln, vor allem am Anfang des Arbeitslebens. Das bedeutet allerdings, nirgendwo Wurzeln zu schlagen. Immer schon auf dem Absprung zu sein, wenn gerade Vertrautheit aufkommt. Nie sagen zu können: "Was haben wir schon alles miteinander durchgestanden. Weißt du noch?" Und: Wer immer wieder ganz neu anfängt, schlägt sich immer wieder mit dem gleichen Problem herum: den Anfang zu machen und neue Spielregeln zu lernen.

Treue allein genügt im Berufsleben nicht - man muss sich weiterentwickeln

Welche Themen in die Dienstagsbesprechung gehören und welche donnerstags auf der Tagesordnung stehen. Welcher Kunde ruhig auch mal ein bisschen später zahlen darf und wer sofort eine Mahnung kriegt. Wann man den Computertechniker zur Hilfe ruft und in welchen Fällen es heißt: "So was machen wir hier eigentlich immer selbst." Wer seinen "Laden" seit Jahren kennt, braucht über so etwas nicht mehr nachzudenken – und hat den Kopf frei für das, was wirklich zählt: den Job.

Immer wieder ein neuer Job, das ist wie dauernd verliebt sein – anstrengend!

Treue allein genügt nicht, attraktiv und interessant zu bleiben ist wichtig. Sich weiterzuentwickeln wie Liebende in einer langjährigen guten Beziehung. Bettina Pröhl beispielsweise denkt wie eine Führungskraft, ohne es zu sein: "Was bringt das Büro nach vorn, wie können wir den Umsatz steigern?" Nicht nur, weil sie weiß, dass viele Arbeitsplätze in Reisebüros gefährdet sind, sagt sie: "Hier will ich bleiben." Sie identifiziert sich mit dem, was sie tut. Mit ihrer Chefin hat sie ein Vertrauensverhältnis, auch wenn die beiden Frauen einander siezen. Sie teilen Erinnerungen: Ute Grönwoldt hat Bettina Pröhls Kinder aufwachsen sehen, Bettina Pröhl hat miterlebt, wie Ute Grönwoldt ein zweites Büro eröffnete – und später wieder verkaufte. Jede weiß, dass sie sich auf die andere 100-prozentig verlassen kann. Bettina Pröhl bedeutet das viel.

Aber wo bleibt da die Herausforderung? Wird Bettina Pröhl es in 20, 30 Jahren nicht doch bereuen, im Berufsleben so wenig gewagt zu haben? "Das glaube ich nicht", sagt sie. "Ich bin eher ein treuer Typ, auch im Beruf. Und verändert hat sich für mich genug, auch ohne Jobwechsel." Wer arbeitet heute schon noch genau so, wie es in seinem Beruf vor zehn oder 15 Jahren gelehrt wurde? Als Bettina Pröhl ihre Ausbildung anfing, ahnte sie nicht einmal, was eine Computer-Software ist. Heute benutzt sie täglich mehrere Programme, die ständig aktualisiert werden. Ihr gefällt das auf dem Arbeitsmarkt geforderte "lebenslange Lernen". So hat sie sich von Anfang an mit dem Online-Reisemarkt vertraut gemacht und beobachtet ihn genau. Sie will immer ein überzeugendes Angebot parat haben, wenn sie von einem Kunden zu hören bekommt: "Im Internet gibt es das doch alles viel billiger!"

Gehen oder bleiben, Veränderung oder Beständigkeit – welcher Weg der bessere ist, das ist vor allem eine Typfrage, meint die Expertin Doris Hartmann. "Manche finden es grauenhaft, immer am gleichen Platz zu sein. Wesentlich mehr Menschen haben aber gern Sicherheit, wollen wissen, was sie erwartet." Neugierig bleiben und dazulernen kann man auch in einer vertrauten Umgebung.

Für Bettina Pröhl ist ihr Beruf selbst heute, nach so vielen Jahren, noch spannend. Sie genießt das kleine Kribbeln, wenn ein neuer Kunde hereinkommt: Was will er? Mit dem Intercity nach Dortmund? Vier Wochen nach Neuseeland? Oder vielleicht erst mal nur ein paar Kataloge?

Wer sich im Berufsleben wie im falschen Film fühlt, braucht einen Tapetenwechsel

image

Seine Arbeit zu mögen, sich gut aufgehoben zu fühlen unter den Kollegen, bei den Vorgesetzten, das hilft, sich den Alltag immer wieder interessant zu machen, auch ohne große Veränderungen. Und wenn das nicht so ist? Wenn jemand sich, ob nach zwei Wochen oder nach 20 Jahren, bei der Arbeit "wie im falschen Film" fühlt? Und wenn Nachdenken, Darüberschlafen und Gespräche an diesem Gefühl nicht ändern? Dann rät Doris Hartmann: "Einen ungeliebten Ort sollte man beizeiten verlassen." Wer nur deshalb bleibt, weil er keine Alternative sieht, ist in Gefahr, sich nicht mehr weiterzuentwickeln, fachlich stehen zu bleiben, auf Dauer womöglich sogar an Qualifikation zu verlieren. Dann heißt es: raus aus der Warteschleife ohne Ziel und sich woanders bewerben – egal, wie gut bezahlt oder sicher der bisherige Job war.

Und egal, ob es mal der Traumjob war. Manche wachsen irgendwann heraus aus ihrem Arbeitsplatz, wie Kinder aus ihren Hosen und Kleidern. Plötzlich kneift und klemmt es überall. Weil man älter und erfahrener geworden ist und das, was früher zu einem passte, jetzt eine Nummer zu klein ist. "Besonders zwischen 40 und 50 spüren viele Frauen, dass noch mal weit reichende Entscheidungen anstehen", sagt Doris Hartmann. Eine Zusatzqualifikation drauflegen, sich weiter spezialisieren, dann vielleicht etwas ganz anderes machen? Bettina Pröhl hat sich dagegen entschieden: "In meinem jetzigen Job kann ich Reisen verkaufen. Jeden Tag. Und das tue ich einfach für mein Leben gern."

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel