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In die Zukunft geblickt

Alt werden, das ist für die meisten "irgendwann später". Dennoch hat sich Renate Herzog schon mal umgesehen in Seniorenwohnanlagen, Appartements mit Pflegedienst und Residenzen im Grünen.

Eigentlich bin ich noch fit. Zwar ist meine Treppe an manchen Tagen steiler und länger. Aber ich komme sie immer noch ohne Hilfe hoch. Und meine Brille, die ich ständig suche, habe ich noch nie im Kühlschrank wiedergefunden. Ich langweile mich nicht allein vor dem Fernseher, sondern gehe unter Menschen oder lade mir welche ein. Aber: Ich bin über 70, und die Frage "Was ist, wenn ich mal ein Pflegefall werde?" sollte man nicht seinen Kindern aufbürden, finde ich.

Wohnen im Alter kann wunderbar sein: in schöner Umgebung, selbstbestimmt, und sobald es nötig wird, liebevoll betreut und umsorgt. Soweit die Prospekte der "Seniorenwohnanlagen" und "Seniorenresidenzen", die ich mir habe kommen lassen. Hochglanzfotos zeigen quietschfidele sportliche Senioren in einem parkähnlichen Gelände, die sich des Lebens freuen. Das will ich mir aus der Nähe ansehen. Probeweise - versteht sich.

Erster Versuch: klein, billig, gemütlich

"Wo bleibe ich, wenn ich mal alt bin und nicht mehr arbeiten kann?" Das war für alleinstehende Frauen ohne Vermögen bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Problem. Deshalb wurden speziell für diese Frauen Stiftshäuser gegründet, von denen einige bis heute in Betrieb sind: Puppenhäuser mit Garten, alte Villen mit Türmchen, Erkern und Loggien, ein Stadtpalais. Sie bieten sehr kleine Wohnungen für geringe Mieten, aber keinerlei Betreuung. Dafür Charme. Das weinberankte Stift mitten in Hamburg, in dem ich mich zum Besuch angemeldet habe, sieht aus wie ein englisches College.

Je zwei Wohnungen teilen sich einen Eingang. Unten leben alte Damen, darüber Studenten, zum Teil mit Familie. "Wir sind nicht wirklich eine Wohngemeinschaft", sagt eine noch tätige Journalistin. "Dafür ist unser Lebensrhythmus zu verschieden. Aber ich finde es schön, dass manchmal junge Leute auf dem Rasen sitzen, dass man Kinder sieht und Fahrräder." Ich könnte hier reinpassen, vorausgesetzt, ich würde mich von einem Großteil meines Haushalts trennen. Schade nur, dass das alte Haus ziemlich kalt ist. Das wäre schon jetzt nichts mehr für mich.

Zweiter Versuch: immer gut betreut

Es könnte ein ganz normales Wohnviertel sein - wären da nicht das Warnschild "Senioren" und die Tafel mit den Gottesdienst-Zeiten. Diesmal habe ich mir ein kirchliches Wohn- und Pflegeheim ausgesucht. Ein zusammenhängender Komplex aus 13 nüchternen Klinkerbauten mit kleinen Wohnungen, im "Kerngehäuse" die Pflegestation, Therapieräume und Schwimmbad, ein Café, ein kleiner Laden. Drum herum die Appartementhäuser, dazwischen säuberlich gepflegte Rasenflächen. 450 Menschen leben hier. "Lauter Alte!", denke ich Alte.

In den 30 bis 40 Quadratmeter großen Appartements - fast alle mit Balkon - haben die Bewohner so viel von ihrem heimischen Wohnzimmer untergebracht wie nur möglich: Teppich, Polstergarnitur, Fernseher, Geschirrschrank, Zierteller, Grünpflanzen. Kleine Fluchten zurück ins Private. Aber gleich vor der Wohnungstür erinnern die langen Flure an Krankenhaus. Sie sind absolut frei von jedem Gegenstand, der den Putzvorgang bremsen könnte. Und das mir, die ich mich nur in einer gewissen Unordnung wohl fühle? Bestimmt werden alte Menschen hier gut betreut, dafür sprechen Wartezeiten von fast zehn Jahren. Aber für mich wäre das kein Ort.

Dritter Versuch: Altern in edlem Ambiente

Eine feinere Variante der stufenweisen Betreuung - vom Putzen und Einkaufen bis zur Pflege rund um die Uhr - bieten die "Seniorenresidenzen", die es inzwischen überall gibt. Wie der Name schon andeutet: gegen fürstliche Bezahlung. Seniorenresidenzen funktionieren wie ein Hotel, versprechen aber Geborgenheit und einen "Lebensabend in Würde", den die Bewohner "freudig und aktiv genießen". In einer dieser Residenzen habe ich mich zum Probewohnen angemeldet. Vorsichtshalber stecke ich eine Flasche Rotwein ins Gepäck, damit wenigstens der heutige Abend zum Genuss für mich wird.

Der Hort der Geborgenheit liegt stadtnah (prima: U-Bahn-Anschluss nebenan, Einkaufszentrum im Souterrain) und steht pompös in einer Umgebung von kleinen Einfamilienhäusern. Durch lautlose, automatische Glastüren gelangt man unvermittelt ins Foyer eines etwas plüschigen Hotels der Mittelklasse, in dem allerdings auffallend viele Gäste Gehhilfen benutzen. Neben dem Empfang ein rosagraues, mit Wolkenstores garniertes Café; überall Wegweiser: "Schwimmbad", "Sauna", "Physiotherapie", "Clubraum", "Theatersaal".

In den endlosen teppichbelegten Fluren Wohnungstür an Wohnungstür. Mit Namensschild und Briefkasten. Ganz am Ende finde ich mein Appartement. Aber die freudig aktiven Bewohner - wo sind sie? Hier und da treffe ich auf in sich gekehrte alte Leute, die in dem großen Bau fremd und verloren wirken. Eine kleine uralte Dame spricht mich an: "Bin ich hier richtig?" Das frage ich mich auch gerade. Schon lange vor der Essenszeit warten einige Bewohnerinnen merkwürdig still in kleinen Polsternischen vor dem Speisesaal. Bei Tisch sitzen sie sich dann stumm gegenüber. "Wir haben hier viel Freiheit", sagt eine lebhafte 80-jährige Physikerin, "aber die meisten wissen damit nichts anzufangen."

Am Abend sitze ich in meinem Zimmer, trinke Wein, mache mir Notizen und sehe überall die trauten Stehlampen angehen. Es ist lähmend still. Kein Gelächter, kein Flurtrappeln, nichts. Nur das gedämpfte Murmeln der Fernseher dringt durch die Wände. Bin ich froh, als ich am anderen Morgen in die gewohnte laute Welt entlassen werde!

Vierter Versuch: Extravaganz und Kultur

Wenn's schon so teuer sein soll, dann will ich dafür etwas ganz Besonderes sehen. Am Hamburger Hafen liegt ein Seniorenhotel erster Güte. Ein renommierter Architekt hat den hochragenden Klinkerklotz, ein ehemaliges Kühlhaus, mit einer Glaskuppel überdacht. Von da oben, aus dem Restaurant, kann man weit über Elbe und Hafen schauen. Tuckernde Boote, kreischende Kräne, Containerschiffe, gleich nebenan der Fähranleger. Im Haus natürlich alles, was der alte Mensch für seine Wellness braucht: Schwimmbad, Höhensonne, Sauna, zudem Theatersaal (nüchtern) und Kapelle (noch nüchterner).

Die Bibliothek ist gut bestückt, vom aktuellen Siegfried Lenz bis zur Einführung ins Internet. Im internen Supermarkt kriegt man Brötchen, Waschpulver und auf Bestellung auch die "Financial Times". Die zwölf quadratischen Stockwerke sind in den Lieblingsmaterialien moderner Architekten ausgeführt: helles Holz und mattes Metall. Seltsamerweise sehen alte Menschen in dieser Umgebung weniger welk und gebrechlich aus. Und alle, die mir auf meinem Rundgang begegnen, wirken auf mich, als könne man mit ihnen auch über andere Themen sprechen als Arthritis im Knie oder das schöne Anwesen, das sie mal besaßen. Sie haben die Versorgung ans Haus delegiert und nutzen die gewonnene Zeit, um sich wach zu halten. Durch neues Wissen, Kultur, Diskussionen über Politik. Das schöne Ambiente, der anregende Alltag haben allerdings ihren Preis. Ich habe im Beruf jahrzehntelang gutes Geld verdient. Aber von einem Ruhestand auf diesem Niveau kann ich nur träumen.

Fünfter Versuch: idyllisch im Grünen

Billiger sind Residenzen auf dem Land. Da wollte ich ja nie im Leben hin, aber ich steige von meinem hohen Ross und nehme die S-Bahn in eine Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Ziel ist ein riesiger weißer Kasten in schönster Lage, der einmal ein Hotel werden sollte. Balkon an Balkon an Balkon, das Ganze durch eine Glasbrücke mit einem Neubau verbunden, in dem sich Restaurant, Schwimmbad und ein pompöser Eingang befinden.

Während ich treppauf, treppab durch die Gemeinschaftsräume geführt werde, lerne ich ein für mich ganz neues Phänomen kennen. Der Ton der alten Damen untereinander hat Schärfe - man hat Zuständigkeiten zu verteidigen: "Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie das Fenster schließen?", kommt es nadelspitz. Wo jeder nur einer von vielen ist, bilden sich Hackordnungen. Alter macht offenbar nicht unbedingt solidarisch.

In einem Heim kann man sehr einsam sein, und das gilt für derartige Senioren-Internate auf der grünen Wiese vielleicht noch etwas mehr. So schön die Umgebung, so gut die Betreuung auch sein mag - ich würde verrückt dort. Oder müsste dauernd flüchten. Bahnhof und Flughafen sind weit - welche Mühe, wenn man mal verreisen will. Und wer wird sich aufmachen, mich hier draußen zu besuchen? Nein, dies wird bestimmt nicht mein Endziel.

Sechster Versuch: wo das Leben tobt

Mitten im Hamburger Stadtteil St. Pauli, unweit der Reeperbahn, stehen zwei romantische weiße Häuser, versteckt im Schutz höherer Bauten - der Kern eines Wohn- und Pflegeheims. Ich biege um eine Ecke und bin baff. Da tut sich ein Dörfchen auf. Zu zwei alten Stiftshäusern haben sich sechs neue zweistöckige kleine Klinkerbauten gesellt mit je vier Wohnungen, großzügig verglasten Außentreppen, genug Abstand voneinander. Mitten drin ein kleines Café. Ein paar Rollstuhlfahrer sind auf den Sträßchen unterwegs, eine alte Frau macht sich in ihrem Gärtchen zu schaffen, ein Nachbar kommt zu einem Schwatz vorbei. Ich werde interessiert gemustert.

Am Ende der kleinen Hauptstraße steht das Pflegeheim, ein freundlicher moderner Klinkerbau mit großen überdachten Terrassen. In den kleinen Häusern wohnen vor allem Leute aus St. Pauli. "Die passen gut aufeinander auf und verteidigen ihr Reservat eifersüchtig gegen Irrläufer", hat mir eine Dame aus der Verwaltung erzählt. Was fasziniert mich hier so? Diese kleine, unprätentiöse Welt scheint etwas zu bieten, was manche andere lediglich versprechen: Geborgenheit. Bin ich vielleicht doch eine Sozialromantikerin?

Besuch beim ehemaligen Chefarzt des Hafenkrankenhauses, der sich hier pflegen lässt, obwohl er sich das feine Institut am Hafen sicher leisten könnte. Er ist Witwer, 86 Jahre alt, fast blind. Und er fühlt sich in diesem Stadtteil zu Hause, wo er jahrzehntelang gearbeitet hat, wo er das bunte Menschengemisch so gut kennt. Er mag diese Menschen, Nutten und Zuhälter eingeschlossen. Manche, die er hier wiedertrifft, waren mal seine Patienten. Und die Geräusche des Heims erinnern ihn an seinen früheren Arbeitsplatz, das Krankenhaus. Trotzdem konnte er sich nur schwer eingewöhnen. "Ins Heim zu ziehen ist ein bitterer Entschluss. Man muss loslassen, das ist wie Trauerarbeit. Und die machen die meisten nicht. Deshalb finden sie keinen Frieden. Bei mir hat es Monate gedauert."

Aber ich will ja nicht gleich ins Pflegeheim. Allenfalls in eines der alten Stiftshäuser. Aber weiß ich, ob die St.-Pauli-Gemeinschaft mich nicht als Irrläufer ansieht? Die Frage ist nicht akut. Auf der Warteliste stehen 60 Anwärter. Bis die alle untergebracht sind, bin ich Frau Methusalem.

Immer noch gesucht: mein Traumhaus

Was ich wirklich will, habe ich bisher nicht gefunden. Wo bitte versammeln sich die eher kauzigen Vögel vor dem großen Abflug? Da will ich hin. In ein helles, warmes Haus voll interessanter, unternehmungslustiger Oldies, die sich diskret umeinander kümmern, die gut sind für Dämmerschoppen und Gedankenaustausch, die Hunde und Katzen haben und Enkel, die manchmal laut sind. Dafür verzichte ich gern auf das hauseigene Schwimmbad und den Friseur im Parterre.

Ich weiß, ich weiß, meine Traumherberge muss ich mir wohl selbst bauen. Und wahrscheinlich werden sich schon beim Ausbau der schönen alten Fabrik, die ich mir vorstelle, sämtliche künftigen Bewohner heillos zerstreiten. Aber es besteht Hoffnung: Immer mehr ältere und alte Menschen tun sich zu privaten Wohnprojekten zusammen - und vielleicht ist ja eins für mich dabei. Fürs Erste bin ich in eine kleinere Wohnung mit kürzerer Treppe gezogen. Habe mein Altern vorübergehend eingestellt und warte noch eine Weile auf meine Chance.

Text: Renate Herzog Infoteil: Christine Tsolodimos<br/><br/>Foto: iStockphoto

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