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Immer erreichbar: "Mein Smartphone ist leider viel smarter als ich"

Das Leben - ein einziger Klingelton. Ständig muss irgendwo die Welt gerettet werden. Ist jemand böse, wenn man nicht immer erreichbar ist. BRIGITTE WOMAN-Mitarbeiterin Evelyn Holst sehnt sich nach einer langen Pause.

Karstadt, Damentoilette, mein Handy fiept. Zum wiederholten Mal an diesem Vormittag. Ich seufze tief. "Mami, bitte gleich anrufen, es ist DRINGEND!", ruft das Display. Ich hasse Nachrichten in Großbuchstaben, sofort steigt mein Adrenalinspiegel. Der Alarm ist von meinem Sohn, der seit Kurzem in England studiert. Mit klopfendem Herzen wähle ich seine Nummer. Gott sei Dank, nichts Dramatisches: Die Bücher, die er braucht, sind teurer als erwartet und sein Konto im gewohnten Zustand - abgeräumt! Zum Glück gibt es ja Online-Banking, das ich am PC gleich miterledigen kann. Wie war noch mal meine PIN? Die ich aus Sicherheitsgründen so gut versteckt habe, dass ich vergessen habe, wo? Endlich Erfolg - in einer Schublade unter alten Kinderzeichnungen liegt der Zettel.

Auf dem Bildschirm entdecke ich drei neue Stressmails von meiner Freundin: Blasenentzündung! Steuerprüfung! Ruf mal durch! Als ich ein paar Stunden später zurückrufe, ist sie sauer: "Was ist los, warum rufst du nicht zurück?" Etwas gereizt legen wir beide auf. Zum Glück hatte ich in der Zwischenzeit 14 neue Freundschaftsanfragen bei Facebook, von 13 dieser Leute habe ich noch nie etwas gehört, aber ich akzeptiere sie. Ich will nicht unhöflich sein, vielleicht kannte ich sie ja früher und hab sie nur vergessen. Mein Handy fiept, mein Sohn hat schon wieder Sehnsucht nach seiner Mutter: "Mama, du hast mir nur Pokemon-Bettwäsche eingepackt, soooo peinlich!" Diesmal alles kleingeschrieben.

Eine Frau schreibt eine Nachricht während der Gartenarbeit
Eine Frau schreibt eine Nachricht während der Gartenarbeit
© Getty Images/Thinkstock

Ich gestehe, manchmal wird mir alles zu viel. Wo immer ich bin, was immer ich gerade tue, ich bin gnadenlos erreichbar. Wenn ich ohne mein Smartphone das Haus verlasse, ist es bei meiner Rückkehr voller Vorwurfsnachrichten: Wo bist du? Melde dich! Die Welt geht gerade unter!

Seit mein Sohn auf seinem und meinem Smartphone "WhatsApp" installiert hat, mit dem wir uns derzeit so gut wie kostenlos simsen können, ist unsere Nabelschnur, die ich - er ist 20 - längst zerschnitten glaubte, wieder zum dicken Seil geworden. Ich will keine Helikopter-Mami sein, die ständig über ihrem flüggen Nachwuchs kreist. Ich würde mich gern abnabeln, ihn hoch erhobenen Hauptes seinen Weg in die Erwachsenenwelt gehen lassen, aber WhatsApp lässt das nicht zu. Manchmal überschlagen sich die Nachrichten - fiep, fiep, fiep -, jemand hat ihn geärgert, der HSV hat verloren!

Alles ist superwichtig, alles muss sofort beantwortet, am besten gleich geregelt werden. Dann sehne ich mich nach einer Zeit, wo fern der Heimat studierende Kinder eine Telefonzelle aufsuchen, besser noch, einen Brief schreiben mussten, um ihre Eltern zu erreichen. Die unmittelbare Reaktion und Anteilnahme, die all diese E-Mails, SMS und Rückrufbitten von mir verlangen, überfordern mich. Wird nicht mit jeder der juristische Tatbestand der Nötigung erfüllt? Facebook ist besonders zeitaufwändig.

Jeder Pups wird in die Welt gelassen und zu einem Riesenballon aufgeblasen.

Pausenlos postet dort jemand einen Link oder ein Youtube-Video, wirbt ein anderer für sein Buch, seine CD oder seine Veranstaltung. Jeder Pups wird in die Welt gelassen und zu einem Riesenballon aufgeblasen. Einer meiner Facebook-Freunde isst Spaghetti mit Tomatensoße. Das müsste ich eigentlich sofort mit "Gefällt mir" anklicken oder ausführlich kommentieren. Kürzlich hat mein Sohn ein Partyfoto aus England gepostet, auf dem er ziemlich alkoholisiert aussah. Und ich habe ganz spontan "Ich hoffe, du studierst auch ein bisschen" zurückgepostet. Aber nicht als persönliche Nachricht, sondern an seine öffentliche "Wall". Sofort fiepte mein WhatsApp: "Sooooo peinlich, Mama!"

Die Social Media, so das neue Zauberwort, lassen mich immer unsozialer werden. Wunderbar ist diese Welt nur für junge Finger, die wie die meiner Kinder blitzschnell über kleine Bildschirme gleiten, Dateien mit Fotos, Filmen und Musik vom Smartphone auf den PC, von der Digi-Kamera auf den TV-Bildschirm übertragen. Leider stamme ich noch aus dem Zeitalter der manuellen Schreibmaschine, der Vor-Fax-Zeit, als eilige Nachrichten in Lochstreifen gestanzt wurden und aus dem Fernschreiber tickerten. Als Telefone noch Wählscheiben hatten, die von Eltern abgeschlossen werden konnten, und das einzige Gerät im Wohnzimmer stand. Die ersten Handys, armdicke Knochen. Die ersten Apple-Macs, beigefarbene Monster.

Klingt wie aus der Steinzeit. So fühlte ich mich auch, als ich als Letzte in der Familie ein Smartphone bekam, das leider viel smarter ist als ich. Und kaum habe ich seine wichtigsten Funktionen kapiert, ist schon wieder ein neues auf dem Markt.

Wie alt ich klinge. Wie früher meine Oma, wenn sie an Geburtstagen davon erzählte, wie sehr sie sich in Kriegszeiten über eine einzige Apfelsine gefreut hat. Es fiept. O Gott, schon wieder mein Sohn! "Ich hab dich lieb, Mama!", lese ich. Alles in Großbuchstaben. Das hätte er in einem Brief sicher nicht geschrieben.

Text: Evelyn Holst BRIGITTE WOMAN 06/2013

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