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Eine Auszeit vom Stress

Eine Auszeit vom Stress
© Zholobov Vadim/shutterstock
Wie es sich lebt, wenn man Stunden und Minuten einfach mal abschafft und Gelassenheit übt, statt keine Zeit zu haben.

"Du, wir müssen mal reden. Du nimmst viel zu viel Platz in meinem Leben ein. Und deshalb möchte ich mich jetzt mal von dir trennen. Sagen wir, für zwei, drei Tage?"

Am Ende des Jahres ist keine Zeit geblieben

Eine Auszeit vom Stress
© shadowtricks/photocase

"Du kannst machen, was du willst, und ich auch. Vielleicht fehlst du mir ja gar nicht. Dann schaffe ich dich endgültig ab." Genau so würde ich es ihr sagen. Ich war nur unsicher, ob die Zeit mich verstehen könnte. Ich schaute auf meine Uhr, da tickte sie vor sich hin. Und als ich gerade anfangen wollte, mit der Zeit zu reden, tat sie, was sie immer tut: Sie ging vorbei. Na warte! 24 Stunden hat jeder überall auf der Welt jeden Tag zur Verfügung. Und trotzdem klagen viele: keine Zeit. Die Arbeitszeit ist zu kurz für die Arbeit. Die Freizeit hat wenig mit frei sein und mehr mit Wäsche, kochen und schnell noch fernsehen oder Fitness zu tun. Dann kommt die Urlaubszeit. Die vergeht wie im Flug. Sieben Stunden verschwinden täglich im Schlaf.

Als wir Kinder waren, schien eine Schulstunde ewig zu dauern. Heute kommt es uns vor, als hätten sich ganze Bürowochen in Nichts aufgelöst. Und wenn wir schließlich nach 365 Tagen den alten Kalender wegwerfen, überlegen wir, wo denn bloß wieder die ganze Zeit geblieben ist.

Meine Zeit bleibt ab heute in der Schublade. Ich verstecke Uhren und Wecker, ich habe alle Verabredungen abgesagt. Mann, Schwiegervater und Hund sind im Urlaub, zur Arbeit gehe ich auch nicht. Würde ich am Meer wohnen, wüsste ich durch Ebbe und Flut, wie viel Stunden schon wieder vergangen sind. Ich schaue in den Himmel über der Stadt - wo steht hier die Sonne um sieben Uhr zehn? Ich mache Kaffee, der Toaster weiß automatisch, wann das Brot knusprig ist. Bloß mein Frühstücksei misslingt. Ohne Eieruhr habe ich keinerlei Gefühl dafür, wie lange fünf Minuten dauern.

Gemütlich vertrödele ich den Vormittag. Aber finde ich das nicht nur deshalb gemütlich, weil ich diesen Morgen mit anderen Morgen vergleiche? Sonst renne ich der Zeit hinterher, schnell anziehen, schnell zur U-Bahn, noch kurz zum Bäcker. Heute habe ich alle Zeit der Welt. Also schlappe 14 Milliarden Jahre, so viel Zeit hatte die Welt seit ihrem Urknall bis heute.

Wer anfängt, über Zeit nachzudenken, verliert den Boden unter den Füßen

Menschen haben kein geeignetes Sinnesorgan, um den Ablauf von Stunden oder Tagen präzise wahrzunehmen. Wir sprechen zwar von Zeit, aber eigentlich meinen wir die Ereignisse, die in der Zeit stattfinden. Einkaufen am Samstagmorgen. Die verrückte Nacht am Strand im vergangenen Sommer.

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Wie schnell oder langsam einem ein Tag vorkommt, ist sehr subjektiv und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Ob wir gesund sind zum Beispiel - manche Krankheiten und auch Fieber verändern das Zeitgefühl. Ob wir voll Ungeduld etwas erwarten oder vor lauter Glück die Zeiger der Uhr anhalten möchten. Ein jegliches hat seine Zeit, heißt es in der Bibel.

Stimmt. Gegen Mittag vermutlich meldet sich "ein jegliches": Ich habe Hunger. Man kann über die Zeit denken, was man will. Fest steht, wir haben sie von Anfang an alle im Kopf. Nicht als Idee, sondern in Form von etwa 3000 Nervenzellen im Gehirn. Diese Zellen beauftragen Hormone, unseren Schlaf-Wach-Rhythmus in einem Zyklus von rund 25 Stunden zu regulieren. Andere Hormone wissen, wann es Zeit für den Eisprung ist und wann man die Sache mit den Babys vergessen kann. Selbst unseren Beinen ist das Gespür für Zeit nicht fremd. Ein gesunder Mensch braucht normalerweise für zwei Schritte eine Sekunde. Dann will ich jetzt mal zwei, drei, ganz viele Schritte zum Bäcker laufen. Wobei "jetzt" für mich alles Mögliche bedeutet: vorher noch Geld einstecken, Mantel anziehen. Das Gehirn ist da viel pingeliger. "Jetzt" dauert immer drei Sekunden. In dieser Zeitspanne aktualisiert es regelmäßig sein Bild von der Welt. Da fliegt ein Vogel? Schon gespeichert. Dort hupt ein Auto? Gebongt. Unser Kopf muss sich keinen Kopf machen über die philosophische Bedeutung von "hier und jetzt". Unser Körper nimmt sich von Natur aus die Zeit, die ihm passt. Warum wir nicht?

Da könnte ja jeder machen, was er wollte. Da würde doch niemand mehr pünktlich zur Arbeit erscheinen. Da würde man ja immer den Bus verpassen. Während ich zum Markt gehe, fällt mir auf, wie viel Zeit überall herumhängt. Über dem Eingang einer Schule vergeht sie altmodisch auf blauem Ziffernblatt mit goldenen Zeigern. Solarbetrieben und digital erscheint sie auf dem Display eines Parkautomaten. Im U-Bahnhof ruckelt sie gerade auf fünf nach zwölf. Wahrscheinlich vor tausend Jahren wurde die erste Uhr mit Räderwerk in einem Kloster in Frankreich erfunden. Die Mönche wollten sicher sein, dass sie auch nachts, wenn alle Sonnenuhren nutzlos waren, ihre Gebete in regelmäßigen Abständen sprechen konnten. Seitdem sind Uhren ein mächtiges Kontrollinstrument. Sei pünktlich! Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben! Der frühe Vogel fängt den Wurm. Der späte aber auch.

Heute springen wir durch alle Zeitzonen. E-Mails und SMS kennen weder Tag noch Nacht. Wir erfinden immer neue Maschinen und Geräte, die Zeit sparen helfen. In der gesparten Zeit können wir immer neue Aufgaben erledigen. Schnell, schnell, damit wir bloß keine Zeit verlieren.

Dank Reiß- und Klettverschlüssen können wir uns ruck, zuck an- und ausziehen. Der Teebeutel macht aus der Teestunde eine Teeminute. Aus dem Paternoster ist der Expresslift geworden. Wir essen, reisen und sprechen schneller als früher. Und so mancher eilt dann noch von der Meditation zum Yoga zum Entschleunigungskurs.

Eine Auszeit vom Stress
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Ich hab gut reden. Ich habe eine Auszeit genommen. Blödsinn. Auszeit ist, wenn alles vorbei ist, erst mit mir und später mit der Welt. Aber kein Mensch weiß, wie viel Zeit ihm zur Verfügung steht. Wäre die ganze Hektik nicht lächerlich, wenn ich wüsste, es bleiben mir noch sieben Tage Leben? Und was würde ich mir dann wünschen? Mehr Zeit. Wofür?

Unsere westliche Kultur betrachtet den Ablauf der Zeit als einen Pfeil, der von der Vergangenheit über die Gegenwart unaufhaltsam in die Zukunft rast. Die jüdisch- christliche Tradition sieht das Leben auf Erden als Übergangszeit, in der sich der Mensch durch seine Taten bewähren muss. Abgerechnet wird am Ende der Zeit. Kein Wunder, dass wir uns beeilen, unsere Ziele rechtzeitig zu erreichen.

Für die Zukunft wünschen wir uns messbare Dinge: ein Haus, ein Segelboot, ein Pferd. Oder so ähnlich. Aber insgeheim hoffen wir, dass sich damit auch die nicht messbaren Wünsche und Werte erfüllen: Glück. Liebe. Gemeinsamkeit. Hinter allen Überlegungen über die Zeit stehen immer auch Fragen nach dem Sinn. Der steht aber selten im Kalender mit den Terminen für morgen und übermorgen. Was uns am Herzen liegt, liegt immer gleich weit von uns entfernt: in der Gegenwart. Verdammt lang her. Ein Stück Vergangenheit dreht sich auf meinem Plattenspieler. Es knistert und knackt, das macht mich wohlig sentimental. Und das kommt davon, wenn man über Zeit nachdenkt.

Ich weiß noch, wie ich nur davon geträumt hab, wovon ich nicht wusst', wie ich es suchen sollt'. Vor lauter Sucherei das Finden glatt versäumt hab, und überhaupt, was ich wo finden wollt'. Den Kopf voll Nichts, nur die paar instinktiven Tricks - es dauert lang, bis du dich durchblickst. Verdammt lang her, verdammt lang, verdammt lang her." (BAP, Kölner Rockband, 1981)

Man sagt, das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden. Die Aymara, ein Volksstamm in Südamerika, gehen noch anschaulicher mit der Einteilung der Zeit um. Sie glauben, dass die Zukunft, die unwägbar ist, unsichtbar hinter ihnen liege. Die Vergangenheit dagegen erblicke man vor sich und könne sie deshalb begreifen und nutzen.

In der Erinnerung erscheint die Zeit nicht mehr als Feind, der uns im Alltag am Gängelband hält. In der Erinnerung geben wir ihr endlich einen Wert. Die großen Zeugnisse der Zeit werden zum Weltkulturerbe erklärt. Unsere persönliche Vergangenheit retten wir mit Fotoalben, Filmen oder Tagebüchern vor dem Vergessen. Und auf einmal ist die leidige Frage, wo denn nur die ganze Zeit geblieben ist, auch zu beantworten: Sie ist in uns geblieben.

Die Jahre mit Freunden, all die Stunden, die man mit Büchern, Musik oder Sport verbracht hat, die immer wiederkehrenden Momente von Liebe, aber auch Zeiten von Traurigkeit. Alle Zeit unseres Lebens - sogar Ereignisse, die wir vergessen haben - hat uns geprägt, hat uns weich oder hart, stark oder ängstlich gemacht. Jeder Mensch ist ein Teil der Zeit, und die Zeit ist ein Teil von ihm.

Dass sie aber auch immer weitergeht, die Zeit, ohne Rücksicht auf Verluste. Man müsste mehrere Leben haben, um alles ausprobieren zu können. Oder einfach nicht alt werden. Von ewiger Jugend träumt die Menschheit schon immer. Wir haben der Idee vom "Jungbrunnen" einen neuen Namen und ein modernes Programm gegeben: Anti-Aging. Sudoku für das Gehirn. Power-Plate für die Muskeln. Botox für ein glattes Gesicht. Tipps für die besten Jahre nach den besten Jahren. Wir werden immer älter und bleiben immer jünger.

Früher war das Leben ein Fluss, aus dem keiner herauskam, wie er hineingestiegen war. Heute wollen wir alle bleiben, wie wir sind. Im Ernst?

Aber ohne das Gefühl für Veränderungen mit und in der Zeit gibt ist das, wonach sich die meisten von uns heute sehnen, nicht zu haben: Gelassenheit.

Ach, du liebe Zeit. Mittlerweile 32 Stunden, 44 Minuten und 16 Sekunden habe ich ganz ohne Zeitdruck verbracht. Und jetzt brauche ich noch eine Steigerung: Zeit satt. Ich will mich mal so richtig langweilen.

Ich muss sowieso zum Bahnhof. Ich habe Glück. "Der ICE aus Hannover wird voraussichtlich zwei Stunden später eintreffen", sagt eine Stimme aus dem Lautsprecher an Gleis 18. Ich setze mich auf eine Bank und warte einfach ab, was passiert, wenn nichts passiert.

Nach einer Weile werde ich ungeduldig. Gewöhnt an chronische Abwechslung im Alltag, lähmt mich die zögernde Zeit. Natürlich könnte ich mir am Kiosk eine Zeitung holen. Ich könnte auch auf und ab gehen oder den Fahrplan auswendig lernen. So könnte ich die Zeit vertreiben oder totschlagen. Wie gemein von mir.

Also übe ich mich in Geduld. Irgendwann fühle ich mich seltsam leer. Früher nannte man das Muße. Sich Zeit nehmen, um die Gedanken schweifen zu lassen. Ziellos schauen, planlos träumen. Ideen durchspielen. Nach-Denken.

Zuerst begrüßt mich der Hund, dann der Schwiegervater. Ich habe die Einfahrt des Zuges verpasst. Jetzt kommt mein Mann mit den Koffern. Ich freue mich, dass alle wieder da sind. Zu Hause essen wir und erzählen.

Und auf einmal fällt mir ein, was ich bei meiner ganzen Suche nach der Zeit bisher nicht gesehen habe: Zeit ist ein Geschenk fürs Leben. Zeit mit anderen zu teilen kann Glück sein. Wenn wir miteinander feiern oder sprechen, wenn wir Zeit miteinander verbringen, dann sind wir in der Gegenwart. Dann erfahren wir, dass Zeit nicht nur vergeht, sondern auch entsteht. In jedem Augenblick. Jetzt und jetzt. Und gleich wieder. Ach, du liebe Zeit, ich schaffe dich doch nicht ab.

Text: Regina Kramer Fotos: Photocase.com (3), iStockphoto.com (1)

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