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Leere Büros, zufriedene Mitarbeiter

Die Angestellten eines amerikanischen Betriebs genießen ihre flexible Arbeitszeit. Sie arbeiten, wann und wo sie wollen.

Arbeitszeit: beliebig

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An einem Dienstagnachmittag verschickt Sheila Peterson eine Rundmail: "Ich bin für ein paar Stunden nicht an meinem Arbeitsplatz. Auch per Handy bin ich nicht zu erreichen." Was die Grafikerin ihren Arbeitsplatz nennt, ist meist ein Tisch in ihrem Wohnzimmer oder auch mal in einem Café. Theoretisch könnte es aber auch die Wiese hinter ihrem Haus sein. Eine Zeit lang, als ihr Vater im Krankenhaus lag, hat sie sogar von dort aus gearbeitet. Dass Kollegen oder die Chefin ihr die E- Mail übel nehmen, dass sie glauben könnten, sie drücke sich vor der Arbeit - all das braucht Sheila Peterson nicht zu befürchten. Sie könnte gleich morgen wieder eine solche Mail senden oder am Freitag beschließen, gar nichts zu tun: " Solange ich meine Arbeit pünktlich fertig kriege, ist alles erlaubt", sagt die 34-Jährige.

Sheila Peterson ist bei Best Buy angestellt, einer amerikanischen Kette von Elektronikkaufhäusern. In seiner Zentrale im US-Bundesstaat Minnesota hat das Unternehmen vor etwa drei Jahren das ROWE-Prinzip eingeführt. Die Abkürzung steht für "Results-Only Work Environment", was so viel bedeutet wie: Wann, wo und wie gearbeitet wird, ist Sache jedes Einzelnen. Nur das Ergebnis zählt: Anzeigen schalten, Preise mit den Lieferanten aushandeln, die neuesten Angebote auf die Webseite stellen - all das muss zu festen Terminen und in tadelloser Qualität erledigt sein. Funktioniert das auch, wenn jeder selbst entscheidet, wann er kommt, wann er Pausen macht und wann er geht? Braucht der Mensch nicht mehr Ordnung im Arbeitsalltag?

Schreibtisch: überall

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Auf den ersten Blick geht es in der Best-Buy-Zentrale in Minneapolis zu wie in anderen großen Firmen auch: In der Eingangshalle werden Besucher begrüßt, Menschen kommen aus Aufzügen und gehen hinein, vor dem Kaffee-Ausschank hat sich eine Schlange gebildet. In den Großraumbüros in den oberen Stockwerken ist allerdings kaum etwas los. Als eine der wenigen sitzt Melissa Herbert an ihrem Arbeitsplatz: "Wenn ich jeden Tag zu Hause wäre, würde ich durchdrehen", sagt die 47-Jährige. "Ich brauche den Kontakt zu anderen. Und ich arbeite gern zu ganz normalen Bürozeiten. Dann habe ich die Arbeit fertig, wenn ich heimfahre." Montags und freitags allerdings bleibt die Online-Texterin häufig daheim. Und in der Zeit der Schneestürme im Winter kommt es vor, dass sie eine ganze Woche nicht in die Firma fährt. An solchen Tagen hat Melissa Herbert keinen Fahrtweg; sie geht morgens ungeschminkt und in legerer Kleidung an die Arbeit und spart dadurch nochmals Zeit. Die verbringt sie mit konzentriertem Arbeiten - und hat so früher Feierabend. "Ich kann jetzt mein Zuhause mehr genießen", sagt Melissa Herbert. "Je älter ich werde, desto wichtiger wird mir das."

Einer muss den Überblick behalten

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Auch ihre Kollegen haben sich längst an die neue Freiheit gewöhnt: Die eine arbeitet oft vor und fährt schon Donnerstagabend in ihr Ferienhaus, um dem Freitagsverkehr zu entgehen. Ein anderer sitzt hauptsächlich nachts am Schreibtisch - "den rufen wir morgens lieber nicht an". Wer verfügbar ist, setzt seinen Status im Chatprogramm auf "Online". Auch was sie überhaupt zu tun haben, erfahren Melissa Herberts Kollegen per Internet: Ihre Chefin trägt alle Aufgaben online in eine Liste ein. Hat die Online-Texterin einen Auftrag erledigt, vermerkt sie das, egal, wo sie gerade ist.

So kann es vorkommen, dass sie ihre Kollegen nur dienstags oder mittwochs trifft - das sind die festen Tage für Konferenzen. Wer auch daran nicht teilnehmen will, kann sich per Telefon einwählen. Wenigstens einmal in der Woche soll sich aber jeder im Betrieb blicken lassen.

Diese Regeln hat die Abteilung alle selbst aufgestellt; die Selbstbestimmung ist Teil der Arbeitsphilosophie. In anderen Abteilungen legen die Angestellten Kalender an, die für jeden einsehbar sind: Blau steht dort für beschäftigt, Weiß für ansprechbar, Lila für abwesend. " Ansprechbar" kann allerdings auch jemand sein, der gerade einkauft und das Handy dabeihat. Wer nicht auch noch im Supermarkt erreichbar sein will, setzt seinen Status auf Lila. "Was hält Sie eigentlich davon ab, während der Arbeitszeit ständig shoppen zu gehen?", wurde Sheila Peterson am Anfang oft gefragt - vor allem von Führungskräften anderer Abteilungen, für die noch die gewohnten Arbeitszeiten galten. "Dass ich meinen Job bald los bin, wenn ich ihn nicht gut mache", war regelmäßig ihre Antwort. Obwohl die Webdesignerin noch öfter als ihre Kollegin Melissa Herbert von zu Hause aus arbeitet, kann sie dabei genauso kontrolliert werden. Dass die Informationen zu neuen Produkten rechtzeitig auf der Website stehen, dass alle Links funktionieren, dass jedes Foto am richtigen Platz ist - all das zeigt ihrer Chefin, dass Sheila eben nicht ständig beim Einkaufen ist, sondern meist an ihrem Computer. Allein die Resultate zählen, sagen Sheila Peterson und Melissa Herbert, und nicht etwa die "face time", die Zahl der im Büro verbrachten Stunden.

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Alle sind zufrieden, und der Umsatz steigt.

Früher war das bei Best Buy ganz anders, erinnern sich Cali Ressler und Jody Thompson, die das Arbeiten nach dem ROWE-Prinzip, also völlig flexibel, im Konzern eingeführt haben. "Wenn du hier was werden willst, musst du morgens als Erste kommen und abends als Letzte gehen", bekam Cali Ressler von Kollegen zu hören, als sie gleich nach dem College in der Personalabteilung anfing. Die heute 32-Jährige wollte aber nicht nur für die Arbeit leben, sondern auch Kinder - und Zeit, sich um sie zu kümmern. Ihre Kollegin Jody Thompson, 19 Jahre älter, dachte ähnlich wie sie: Es muss doch möglich sein, Berufs- und Privatleben so miteinander zu vereinbaren, dass keines von beiden leidet. Und wer sagt eigentlich, dass alle zur selben Zeit am selben Ort sein müssen - wenn ohnehin die meisten unabhängig voneinander allein an ihrem Computer arbeiten? Bald trafen die beiden Personal- Fachfrauen sich regelmäßig in einem der winzigen Besprechungsräume von Best Buy - und erarbeiteten ein Konzept. Vor sechs Jahren präsentierten Cali Ressler und Jody Thompson ROWE zum ersten Mal vor 15 Führungskräften. Die Reaktion: Misstrauen und Kritik. Da müsse man ja erst einmal alle Arbeitsverträge überprüfen. Konferenzen ohne Anwesenheitspflicht - das gehe ja gar nicht! Die Manager fürchteten den Kontrollverlust. Und schon war in Kleinteile zerhackt, was doch eine große Idee sein sollte.

Flexible Arbeitszeit hat viele Vorteile

Die beiden Frauen beschlossen deshalb, erst einmal im Kleinen anzufangen. Ohne viel Aufhebens und mit nur einer Abteilung. Dass ROWE angenommen wurde und tatsächlich funktionierte, merkten sie an den Kommentaren von Kollegen auf den Bürofluren: "Kriegen wir das auch bald?" Inzwischen arbeiten fast alle 3000 Mitarbeiter in der Best-Buy-Zentrale nach ROWE - aber noch nicht jeder hat auch wirklich umgedacht. "Das Konzept klingt großartig", sagt der Abteilungsleiter Scott Jaumane, "ist aber nicht einfach umzusetzen. Menschen ändern sich nicht so schnell." Noch immer gibt es gelegentlich schiefe Blicke, wenn jemand spontan beschließt, zwei Stunden Pause zu machen. Und manche haben dann doch ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich die Freiheiten nehmen, die ihnen jetzt ganz offiziell zustehen. Vollständig umgesetzt, sagt Jaumane, sei das Programm also noch lange nicht.

Aber auch so ist ROWE für ihn als Führungskraft Herausforderung genug: Wie baut man Vertrauen auf zu Mitarbeitern, die man nur sporadisch sieht? Kann ein Team gut und eng zusammenarbeiten, wenn jeder kommt und geht, wie er will? Und wird bei so vielen Freiheiten wirklich konzentriert und verantwortungsbewusst gearbeitet? Jaumane meint: Ja. "Wir reden mehr miteinander als früher, sprechen uns besser ab." Und was die Ergebnisse angehe, solle man nur auf die Zahlen schauen: Seit der Einführung von ROWE soll die Produktivität bei Best Buy um durchschnittlich 35 Prozent gestiegen sein.

Und das ist ein schlagendes Argument. Denn natürlich geht es bei ROWE nicht nur um eine menschlichere Arbeitswelt, sondern auch ums Geldverdienen. "Viele Mitarbeiter blühen regelrecht auf, wenn sie selbst bestimmen können, welche Art zu arbeiten die geeignete für sie ist", sagt die Initiatorin Jody Thompson. Sicher mache das selbstbestimmte Arbeiten einigen Angst, räumt sie ein. Einige fürchten etwa, sie könnten vereinsamen. Das allerdings ist meist unbegründet: Manche lieb gewordene Rituale wie etwa ein regelmäßiges Mittagessen des ganzen Teams werden auch unter den neuen Bedingungen beibehalten, andere entstehen neu.

Viele Kollegen blühen auf.

Vor allem aber hat Jody Thompson festgestellt: "Die meisten beleben einfach ihre Kontakte, die sie außerhalb der Firma haben. Sie haben mehr Zeit für ihre richtigen Freunde." Cali Ressler hört gelegentlich von ehemaligen Mitarbeitern, die inzwischen in Rente sind: "Hättet ihr das doch bloß schon eher eingeführt. Wir mussten auf so vieles verzichten wegen der starren Arbeitszeiten."

Sheila Peterson braucht das nicht mehr. Sie kann sich jeden Nachmittag in Ruhe um ihre kleine Tochter kümmern. Wenn in dieser Zeit etwas Dringendes anfällt, wird sie es abends oder nachts erledigen: "Bisher war noch kein Auftrag so wichtig, dass er nicht ein paar Stunden warten konnte." An anderen Tagen ist ihre Auftragsliste dafür so kurz, dass sie schon mittags alles erledigt hat. "Früher musste ich bis Punkt fünf gelangweilt im Büro sitzen, wenn nichts zu tun war. Heute kann ich dann in meinem Atelier malen oder Unkraut jäten." Für sie, sagt Sheila Peterson, habe das ROWE-Modell nur Vorteile: Sie hat die Sicherheit einer Festangestellten und die Freiheit einer Selbständigen.

Cali Ressler und Jody Thompson war die Freiheit bei Best Buy irgendwann nicht mehr genug. Sie haben gekündigt und beraten jetzt andere Firmen, die ROWE ebenfalls einführen wollen. Wer sie treffen will, bestellt sie zu sich oder trifft sie in einem Café. ROWE-Menschen brauchen schließlich keine eigenen Geschäftsräume. Und so kann es passieren, dass Gespräche mit den zwei Frauen im "Starbucks" stattfinden, während im Hintergrund ein Milchschäumer zischt und Cali Resslers viertes Kind in einer Tragetasche auf dem Boden schläft. Falls es gleich aufwacht und zu schreien anfängt - kein Problem: Die Mutter ist dann eben vorübergehend nicht zu erreichen. Auch nicht auf dem Handy.

Die große Freiheit

Auch in deutschen Betrieben und Verwaltungen gibt es flexible Arbeitsmodelle. Drei Beispiele:In der Stadtverwaltung Wolfsburg gilt die "Vertrauensarbeitszeit". Die Mitarbeiter sprechen sich ab, wer wann im Büro ist. Weil immer mehrere für ein Thema zuständig sind, können sich diese Kolleginnen und Kollegen gegenseitig vertreten; niemand ist unabkömmlich. Solange jede Abteilung ihre Aufgaben erledigt, wird die Anwesenheit nicht kontrolliert.

Bei BMW in Leipzig bekommt jeder Büromitarbeiter einen kleinen Rollwagen für seine Arbeitsunterlagen. Wenn Teamarbeit ansteht, kann dadurch schnell der Arbeitsplatz gewechselt werden. Alle haben über einen Laptop Zugriff aufs Firmennetzwerk, egal, ob im Büro oder außerhalb. 20 Prozent der Angestellten arbeiten deshalb zeitweise zu Hause - zum Beispiel Mitarbeiter mit einem langen Anfahrtsweg.

Im Softwareunternehmen SAP stehen zahlreiche Arbeitszeitmodelle zur Wahl, die individuell vereinbart werden. Die Beschäftigten können zum Beispiel teils zu Hause und teils im Unternehmen arbeiten.

Buchtipp

Cali Ressler/Jody Thompson: "Bessere Ergebnisse durch selbstbestimmtes Arbeiten - Erfolgreich mit dem ROWE-Konzept" (184 Seiten, 34,90 Euro, Campus)

Text: Marike Frick Fotos: Claudia Hehr

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