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Reibung erzeugt Wärme Cem Özdemir über seine "Multikulti-Family" mit Pia Castro

Cem Özdemir: Cem Özdemir und Pia Castro
© Urban Zintel
Wenn südamerikanisches, schwäbisches und anatolisches Temperament aufeinandertreffen, können schon mal Funken sprühen. Im besten Fall wie bei der Journalistin Pia Castro und ihrem Mann, dem Politiker Cem Özdemir.

Die Party wäre beinah abgesagt worden. Es war im Oktober 2001, kurz nach den Terroranschlägen von New York, als die Welt unter Schock stand. Doch dann fand das Event doch statt, es galt als eines der coolsten in Berlin, mit internationalen Musikern, veranstaltet von dem Radiosender Multikulti, bei dem Pia Castro damals arbeitete.

Liebe auf den ersten Blick

Auch Cem Özdemir war dort, obwohl er müde war und eigentlich nach Hause wollte. Aber er blieb, weil ein Freund ihm sagte, diese Party dürfe man nicht verpassen. Radio Multikulti wollte dann ein Interview mit dem Grünen-Politiker, ausnahmsweise nicht über Politik, sondern über Musik. Özdemir war einverstanden, sah Pia Castro und wollte von ihr befragt werden. Nicht von ihrem Kollegen, der da ebenfalls rumstand und sich als Interviewer anbot. "Es war Liebe auf den ersten Blick, wie man so schön sagt", meint er. "Ich wollte so schnell wie möglich ihre Telefonnummer rauskriegen."

Özdemir flog wegen einer Dienstreise in die USA, Castro in den Urlaub nach Argentinien, ihre Heimat. Das nächste Treffen in Berlin war wieder eine Party: Der damalige Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit feierte seine Wiederwahl. Özdemir hatte Pia Castro gesagt, sie müsse am Eingang einen Code nennen, um rein­gelassen zu werden: liberación o muerte, also Befreiung oder Tod – die revolutionäre Kampfparole, die auch der kubanische Revolutionär Fidel Castro verwendete. Also eine Anspielung auf ihren Nachnamen. Hätte ziemlich schiefgehen können, dieser Scherz, mit dem er sie reingelegt hat, natürlich gab es den Eingangs-Code gar nicht. "Und ich habe diese Parole auch noch zum Türsteher gesagt", sagt Pia Castro. "Ich dachte: Der Typ kennt sich bei uns aus und hat einen feinen Humor. Aber ich musste erst mal schauen, wie es ist, mit einem Politiker zusammen zu sein. Bei uns in Südamerika, wo es Gewalt und Korruption gibt, haben Politiker nicht den besten Ruf."

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Das Multikulti-Paar

Pia Castro hat sich eingelassen. 18 Jahre sind die beiden jetzt zusammen. Die Argentinierin, in ­Buenos Aires geboren, hat italienische Vorfahren. Er, Sohn türkischer Gastarbeiter, ist in Bad Urach in ­Baden-Württemberg geboren, sein Deutsch hat einen schwäbischen Einschlag. Dass das Multikulti-Paar in Kreuzberg wohnt, erscheint da fast logisch. Eine Dachgeschosswohnung in einem Haus, in dem Leute unterschiedlichster Nationalitäten wohnen, einige sind Freunde des Paars.

Spanisch, Deutsch, manchmal auch Englisch – drei Sprachen schwirren in der Kreuzberger Wohnung herum, sie hören die Kinder, die 14-jährige Mia und der zehnjährige Vito, täglich. Nur nicht alles durcheinander, deutsche Sätze werden nicht mit ­spanischen Brocken durchmischt, da sind die Eltern streng. In der Türkei haben die Kinder Onkel und Tanten, in Bad Urach eine aus der Türkei stammende Großmutter, in Buenos Aires argentinische Großeltern. "Wir wollen, dass unsere Kinder Bodenhaftung und Weitblick zugleich haben", meint Özdemir. "Von Berlin übers Ländle und Anatolien bis nach Südamerika können sie sich rauspicken, was ihnen am besten gefällt."

Dass auch er sich um die Kinder kümmert – selbstverständlich, findet er. Vor allem dann, wenn seine Frau eine Nachtschicht hinter sich hat und ausschlafen will. Dass die Schnittmengen für gemeinsame Zeiten, für ein Dinner zu zweit, minimal sind, gehört zu ihrem Alltag. "Wir wünschen uns beide, manchmal alles stehen und liegen zu lassen und von morgens bis abends einfach nur zu tun, worauf wir Lust haben. Aber so ist das Leben nun mal nicht", sagt Cem Özdemir.

Cem Özdemir: Cem Özdemir und Pia Castro
© Urban Zintel

Der ehemalige Parteichef der Grünen sitzt sehr gerade auf dem Sofa des Fotostudios in Kreuzberg, wo wir uns treffen, während seine Frau lebhaft auf dem Sofa hin und her rutscht und immer wieder schallend lacht. Wenn er spricht, klingt das oft, als wolle er sich nach vielen Seiten absichern. Selten fällt er seiner Frau ins Wort, während sie ihn häufig unterbricht, wild gestikuliert, gelegentlich flicht sie spanische und englische Wörter mit ein. "Cem ist ganz anders als ich: Es dauert lange, bis er mal wirklich wütend wird oder die Fassung verliert. Ich bin lauter, nennen Sie es gern südamerikanisch", sagt Pia Castro. Was beide verbindet, ist die Liebe zur Musik. Zu Hause geht immer irgendein Sound über den Flur – Jazz, Rock, Hip-Hop, türkische, kurdische Musik. Am liebsten stellen sie sich gegenseitig ihre Neuentdeckungen vor.

Pia Castro, die heute für die Deutsche Welle TV arbeitet, kam als Austauschschülerin nach Deutschland. Sie stammt aus einer liberalen Mittelschichtfamilie, die Mutter Journalistin, der Vater Richter. Mehrere Jahre lebten sie in der Dominikanischen Republik, wo Pias Vater damals arbeitete. Als sie nach Argentinien zurückkamen, war die Militärdiktatur fast am Ende. "Bei uns wurde wenig über Politisches gesprochen", sagt Castro. "Ich habe mich dagegen immer für Politik interessiert. Auch für mich als Südamerikanerin war der Fall der Berliner Mauer etwas Prägendes. Ich war neugierig auf das Deutschland, das diese friedliche Revolution hinbekommen hatte. Als ich später Cem kennenlernte, hat mich beeindruckt, wie viel er über Südamerika wusste."

Meine Eltern wollten nicht anecken, unauffällig sein.

Özdemirs Eltern haben sich in Deutschland kennengelernt, der Vater war Fabrikarbeiter, die Mutter Änderungsschneiderin. Er, das einzige Kind, war für seine Eltern eine Zumutung, meint Özdemir. Er trug zerrissene Jeans, wurde früh Vegetarier und Mitglied bei den Grünen, wollte Erzieher werden. "Meine Eltern wollten nicht anecken, unauffällig sein. Als ich später als Staatsfeind in einer türkischen Zeitung auf Seite eins abgelichtet war, wegen meiner Kritik an der Menschenrechtslage in der Türkei und an der Kurdenpolitik, haben meine Eltern sehr gelitten." Dass Cem in seinem Privatleben zumindest eine wichtige Regel eingehalten hat, nämlich ordentlich zu heiraten, war für die Eltern ein Trost.

Wenn sich verschiedene Kulturen vereinen

Washington, 2003. Die Hochzeit findet unweit der amerikanischen Hauptstadt statt, unter freiem Himmel, am Potomac River, wie sie es sich gewünscht hatten. In den Vereinigten Staaten waren die bürokratischen Hürden für die Heirat deutlich kleiner als in Deutschland. Beide lebten damals zwischenzeitlich in den USA, er mit einem deutschen, sie mit einem argentinischen und italienischen Pass. Der Standesbeamte war jüdischer Herkunft und sprach Jiddisch, der Bräutigam stammt aus einem muslimischen, die Braut aus einem katholischen Elternhaus. Als die Trauung vorbei war, fing es an zu regnen. Schlechtes Zeichen? "Meine Schwiegermutter meinte, dass in der Türkei Regen zur Hochzeit Glück bringt", sagt Pia Castro. "Meine Mutter hielt dagegen: Bloß nicht, wir brauchen Sonnenschein!" Wer in verschiedenen Kulturen lebt, kann sich die beste Version aussuchen.

Würden sie heute genauso heiraten wie damals? "Ja, aber mit noch mehr Gästen und noch mehr Party", ruft Pia Castro fröhlich. "Genauso, aber dem Anlass entsprechender gekleidet", fügt Özdemir hinzu.

Cem Özdemir: Cem Özdemir und Pia Castro
© Urban Zintel

Er und seine Frau praktizieren ihre Religionen nicht. Aber sie versuchen, ihren Kindern Einblicke in die verschiedenen Weltanschauungen zu geben und Toleranz zu vermitteln. Daher das Bild aus ihrer eigenen Küchentheologie, das sie den Kindern mitgegeben haben: Jesus und Mohammed sind Freunde und schauen von oben, was die Menschen auf der Erde treiben. Vermutlich, so Özdemir, ärgern sie sich gemeinsam darüber, was wir mit den wunderbaren Gaben anstellen, die wir geschenkt bekommen haben.

Klimawandel - ein "heißes" Thema

Pia Castro, ebenfalls Mitglied bei den Grünen, sagt, sie reagiere viel emotionaler als ihr Mann auf den Klimawandel. "Bei uns in Argentinien ist das Ozonloch so groß, dass man in manchen Gegenden ab elf nur noch mit starkem Sonnenschutzmittel auf die Straße kann. Trotzdem mag ich nicht ständig über Klimawandel und Weltuntergang sprechen, ich bin ein sehr positiver Mensch." Auch zu Hause würden sie nicht permanent Umweltprobleme wälzen. Özdemir sieht das ähnlich pragmatisch. Ihm gefällt die Einstellung seiner Tochter, die sich bei Fridays for Future einbringt: Wir werden die Welt nicht mit schlechter Laune retten. Umweltschutz: unbedingt, aber mit Spaß dabei. "Es geht nicht darum, alles sofort zu 100 Prozent richtig zu machen. Es geht darum, überhaupt anzufangen und Gewohnheiten zu überdenken."

Cem Özdemir war zehn Jahre Parteichef der Grünen, momentan steht er weniger im Rampenlicht. Einerseits. Andererseits ist er nach wie vor einer der bekanntesten Grünen Deutschlands, den sich viele auch als zukünftigen Außenminister vorstellen können. Hat Pia Castro das Gefühl, "Frau von" zu sein? "Überhaupt nicht", sagt die Journalistin. "In Südamerika ist die Rollenverteilung genau umgekehrt, da ist sie bekannt wie ein bunter Hund", sagt Ödzemir. "Dafür kennt mich dort niemand."

Zurückhaltung trifft Temperament

Manchmal muss er seine Frau daran erinnern, in der Öffentlichkeit nicht zu laut zu sprechen, er will keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dann erinnert sie ihn daran, dass auch er ein ganz normaler Mensch ist – mit dem Recht, laut, traurig oder ungehalten zu sein. Laut wird sie auch, wenn es um diese Taxigeschichte geht. Wiederholt wurde Özdemir von türkischstämmigen Taxifahrern wegen seiner kritischen Haltung zur Türkeipolitik ­angemacht. Einmal wollte ihn ein Fahrer sogar zwingen auszusteigen. Özdemir wurde von der Polizei geraten, nicht mehr Taxi zu fahren – zu gefährlich.

Für Castro ein Unding: "Warum solltest du dein Leben ändern für eine zutiefst demokratische Haltung?", sagt sie. "Es dürfen doch nicht die bestimmen, die eine extreme Position haben, ob das nun AfD oder AKP ist." – "Da kommt dein Temperament durch, du willst dich wehren, und damit hast du recht", sagt er. "Als Politiker denke ich zu häufig, bestimmte Situationen aushalten zu müssen." – "Musst du nicht!", ruft sie.

In welcher Sprache streiten sie sich, wenn es knarzt? Deutsch, Spanisch, Englisch? "In der Sprache der Teller", sagt sie, und beide lachen. Dann stellt er klar: "Auf Englisch. Blöderweise verstehen das mittlerweile auch die Kinder."

Von Schwächen und Stärken

Wenn man Cem Özdemir danach fragt, was ihn an seiner Frau nerve, bleibt er in der Reserve. Dafür antwortet er sofort, wenn es um ihre Stärken geht. "Ich mag ihre Energie, ihre Power. Egal ob als Partnerin, Mutter, Liebhaberin, Journalistin, Joggerin, Musikexpertin oder Rock ’n’ Rollerin. Es tut mir gut, dass ihr Denken ganz anders funktioniert als das, was ich von der Parteiarbeit gewohnt bin. In der Berliner Käseglocke ist es das Beste, was mir passieren kann, wenn sie mich mit der Realität von draußen konfrontiert." Kann ihre Power auch mal erdrückend sein? Nein, er habe kein Problem mit starken Frauen. Seine Mutter sei damals allein nach Deutschland gekommen, seine Großmutter mütterlicherseits war in der Türkei Polizistin, eine der ersten Frauen, die das Kopftuch abgelegt und sich die Haare abgeschnitten hatten. "Und jetzt bin ich mit einer starken Frau verheiratet, die nicht aus diesem Land kommt und es manchmal trotzdem besser versteht als einige Kollegen von mir im Bundestag."

Pia Castro dagegen bewundert ihren Mann für seine positive Grundhaltung: "Egal wie schwierig eine Situation, wie langweilig ein Termin ist, Cem wird immer etwas Gutes daran finden. Nichts war umsonst." Was sie nervt? "Seine schwäbische Sparsamkeit. Wenn ich koche, dann nicht nur für uns vier, sondern für sechs oder acht Leute. Bei uns ist open house, es kommt immer jemand vorbei."

Pia Castro ist jemand, für die eine Party nicht lang genug sein kann. "Ich muss zugeben, sie hat die bessere Kondition", sagt ihr Mann. "Aber es lohnt sich immer mitzugehen." Irgendwann zieht es ihn dann nach Hause. War da nicht diese unangenehm frühe Sitzung am nächsten Morgen?

Pia Castro

wurde 1972 in Buenos Aires geboren. Sie kam als Austauschschülerin nach Deutschland, wo sie später Politik und Journalismus studierte. Seit 1999 arbeitet die Moderatorin bei der Deutschen Welle, erst als Sportmoderatorin, dann mit eigener TV-Sendung über Einwanderer in Deutschland. Heute moderiert sie das spanischsprachige Programm von Deutsche Welle TV. Ihre Sendung "¡Aquí estoy!" ist in Südamerika beliebt.

Cem Özdemir

1965 im schwäbischen Bad Urach geboren, ist Sohn türkischer Einwanderer. 1981 wurde der spätere Erzieher und studierte ­Sozialpädagoge Mitglied der Grünen, 1994 Bundestagsabgeordneter. Von 2008 bis 2018 führte er die Partei. Heute ist er Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur im Bundestag.

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