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Frauen in Island zeigen, wie es geht

Banken pleite. Geld entwertet. Jobs weg. Kann ein Land nach so einer Katastrophe wieder auf die Beine kommen? Island hat es geschafft, und das hat es vor allem seinen Frauen zu verdanken.

Am Tag, als der Premierminister seine Schicksalsrede an die Bevölkerung hält, steht die Wirtschaftsprofessorin Katrín Olafsdóttir mit einigen Universitätskollegen um einen Fernseher herum, sieht den Premier vor schwarzem Hintergrund und hört die unglaublichen Worte: "Gott segne Island." In den USA sagt ein Politiker so etwas fünfmal am Tag. In Island sonst nie.

Die gelernte Erzieherin Bedda Hallórsdóttir jobbt an jenem 6. Oktober 2008 gerade in einem Touristenbus, sie hört die Radio-Übertragung über Kopfhörer und denkt: "Wir sind am Arsch." Lóa Thorhallsdóttir, Unternehmerin, ist an diesem Tag mit Freunden zum Lachsangeln gefahren. Doch statt am Fluss zu stehen, sitzen sie im Auto und hören Radio.

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Nicht nur den drei Frauen, allen Isländern hat sich der Tag ins Gedächtnis eingebrannt. Ihr Land steht am Abgrund: Innerhalb weniger Tage sind drei Banken pleitegegangen, weil sie im Ausland wahnwitzige Kredite aufgenommen haben, die jetzt, nach der Immobilienkrise in den USA, auf einen Schlag zurückgefordert werden. In den Monaten darauf stürzt die Währung um 40 Prozent ab, der Staat kürzt Löhne und Sozialausgaben. Die Menschen gehen auf die Straße, jagen den Premierminister aus dem Amt, schreien ihre Wut heraus auf die Clique der Banker, mit deren Größenwahn alles begann, darunter auffällig viele junge Männer. "Bankster" werden sie jetzt genannt. Die Welt schaut mit Entsetzen auf Island: Wie kann dieses Vorzeigeland so plötzlich so tief fallen? Wenn das möglich ist, ist kein Land mehr sicher.

Heute, nur vier Jahre nach dem großen Knall, ist die Inflation gesunken, die Auslandsschulden sind getilgt, die Wirtschaft wächst. "Es geht uns wieder besser", sagt die Wirtschaftsprofessorin Olafsdóttir beim Treffen in einem gut besuchten Reykjavíker Café. Ohne Nachsicht benennt sie die Ursachen der Katastrophe: die "Macho-Kultur" in den höchsten Bank-Etagen, die ungehemmte Risikofreude, Vetternwirtschaft, Maßlosigkeit auch in der Bevölkerung: "Mehrere Autos und ein Sommerhaus zu haben galt als völlig normal. Und wenn einer den Rapper 50 Cent für seine Party buchte, ließ der andere Elton John einfliegen."

Für viele ist das Wunder von Island vor allem das Wunder der isländischen Frau.

Heute gehört die 47-Jährige zu denen, die etwas zu sagen haben im Land. Neben ihrer Arbeit an der Universität sitzt sie in einem Komitee der isländischen Zentralbank, das die Währungspolitik überwacht. Die Alleinherrschaft der männlichen "Bankster" ist gebrochen: Neun der 19 höchsten Posten der Zentralbank sind jetzt mit Frauen besetzt. Den Vorsitz des Aufsichtsrates hat eine Frau. Überall, wo in großem Maßstab Geld verwaltet und Wirtschaftspolitik gemacht wird, finden sich heute mehr Frauen in Führungspositionen - und zwar nicht nur, wie so oft üblich, bei Personal und Marketing.

Im Konferenzraum des Finanzministeriums hängt neben dutzenden Porträts der bisher durchweg männlichen Minister nun auch das Bild der ersten Finanzministerin Islands. Geführt wird die Regierung seit 2009 von Premierministerin Johanna Sigurdardóttir.

Auch für das so auf Gleichberechtigung bedachte Island ist so viel Weiblichkeit an den Hebeln der Macht ein Novum. Für viele ist das Wunder von Island vor allem das Wunder der isländischen Frau. Doch wer ist "die" Isländerin? Eine Wikingerin oder gar eine Trümmerfrau, wie es gelegentlich heißt? Oder eher eine wie Bedda? Wie alle Isländer, bis hin zu Politikern und Wirtschaftsbossen, lässt sie sich auch von Fremden gleich beim Vornamen nennen.

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Rotwangig, strahlend und stetig plaudernd steht die 35-Jährige im Eingangsbereich ihres Gästehauses, zwischen 60er-Jahre-Möbeln und Plattenspieler, Ohropax-Spender und Polaroid-Fotos ihrer Gäste. Die gelernte Erzieherin hat in diesem Haus einmal gewohnt. Im Flur hängen noch Bilder von ihrer Hochzeit und den drei Kindern. Doch oben in der Badewanne, wo sie ihren Jüngsten zur Welt brachte, duschen jetzt ausländische Touristen. Für sie lebt es sich jetzt in Island so billig wie lange nicht.

Dagegen musste Bedda mit ihrer Familie aus ihrem Haus ausziehen, weil ihr Kredit plötzlich nicht mehr 30, sondern 80 Millionen isländische Kronen kostete und sie die Raten nicht mehr hätte zahlen können. "Wir hatten das Darlehen damals so günstig bekommen", erzählt sie, "und wurden sogar ermuntert, viel mehr aufzunehmen, als für den Hauskauf nötig war."

Dann kamen Krise und Inflation. Bedda, die Umtriebige, die auch schon als Radiomoderatorin gearbeitet und als überdimensionale Zuckerpackung Werbung verteilt hat, dachte an das isländische Motto "Thetta reddast" - das wird schon wieder. Und baute ihr liebevoll eingerichtetes Haus mit den bunt gestrichenen Wänden zum Gästehaus um. Weh getan habe das nicht, beteuert sie. "Ich bin ja auch jetzt jeden Tag hier. Und alle sagen, wie schön sie es hier finden." Energisch fügt sie hinzu: "Island ist nicht so tief gefallen wie andere Länder. Wir haben immer noch gute Schulen, ein gutes Gesundheitssystem. Wenn ich höre, dass Leute am Boden sind, denke ich: Ihr habt es nicht richtig probiert, stellt etwas auf die Beine!"

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Sich zu helfen wissen, das wird großgeschrieben in diesem Land - besonders wohl unter den Frauen. Viele Isländer haben sich einen "Plan B" überlegt, manche nutzen jetzt ihr handwerkliches und künstlerisches Talent: Sie stricken, malen, schreiben, machen Musik. Früher hat man Altes einfach weggeworfen, jetzt repariert und verkauft man es. Kürzlich wurde berichtet, dass in Island mit Kultur mittlerweile genauso viel Geld erwirtschaftet wird wie mit dem Aluminiumschmelzen, einem der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes.

Wohl kein Ort steht so für die Blüte der Kultur wie das Konzerthaus Harpa am Hafen von Reykjavík. Geleitet wird es - natürlich - von einer Frau. Die Konzertpianistin Steinunn Birna Ragnarsdóttir ist hier seit zwei Jahren Musikdirektorin. Ihre schwierige Aufgabe: zu beweisen, dass das glitzernde, überdimensionierte Bauwerk nicht nur für den Größenwahn einer vergangenen Zeit steht, sondern auch für einen Neuanfang.

In der Krise gingen die Arbeiten monatelang nicht weiter, es war kein Geld mehr da für das in Boomzeiten geplante Prestigeprojekt, und die Bauruine wurde zum Sinnbild all dessen, was schiefgelaufen war. Jetzt holt die 53-jährige Chefin von der Rockband Jethro Tull über Jamie Cullum bis zur Violinistin Hilary Hahn alles in die Konzerthalle, was die Isländer mögen könnten. Die kommen und sind begeistert: Eine Million Karten sind im ersten Jahr verkauft worden. Dabei leben auf Island gerade einmal 320 000 Menschen. "Die Leute wissen jetzt Dinge mehr zu schätzen, die auch in schlechten Zeiten bleiben: Familie, Freunde - und eben Kultur", sagt Ragnarsdóttir.

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35 Jahre wird es dauern, bis die Kredite für das Konzerthaus abbezahlt sind - Geld, das anderswo eingespart werden muss. Viele Isländer macht das wütend. Andererseits versucht die Regierung, ihre Bürger nicht über das Erträgliche hinaus zu belasten. So wurden Steuern vor allem für die Besserverdienenden angehoben. Einige Steuern, die eingeführt oder erhöht wurden - etwa die auf zuckerhaltige Lebensmittel - waren zugleich ein Mittel der Gesundheitsförderung.

Um einer Massenarbeitslosigkeit vorzubeugen, wurden zum Beispiel im öffentlichen Dienst Gehaltskürzungen vereinbart und dafür Stellen erhalten. Nach der Bankenpleite wurden die Spareinlagen der Isländer abgesichert, dagegen haben viele ausländische Anleger - vor allem Holländer und Briten, aber zum Beispiel auch die Deutsche Bank - eine Menge Geld verloren.

In die Pflicht genommen wurden vor allem die Banken. Die drei wichtigsten Banken wurden aufgelöst und unter neuem Namen und staatlicher Aufsicht wieder eröffnet - mit strengen Regularien: So sollen die Geldhäuser vorrangig in die einheimische Wirtschaft investieren. Und in der Zentralbank kümmert sich eine neu geschaffene Abteilung mit 100 Mitarbeitern ausschließlich darum, Korruption und Betrug zu verhindern.

Es waren vielleicht 30 Kerle, die uns diese Misere beschert haben.

Warum geschieht das erst jetzt? Hat denn früher niemand hingesehen, niemand eingegriffen, als die Misswirtschaft immer schlimmere Ausmaße annahm? Lára Júliusdóttir steht dem Aufsichtsrat der Zentralbank vor und gehörte zu der Kommission, die in neun dicken Berichtsbänden die Ursachen der Krise analysiert hat. Die Erkenntnis der 61-Jährigen: "Es waren vielleicht 30 Kerle, die uns diese Misere beschert haben."

Begonnen hatte alles mit der Privatisierung der zuvor staatlich geführten Banken in den 90er Jahren: Unternehmen erwarben überteuerte Anteile an den Banken, diese gaben ihnen im Gegenzug viel zu leichtfertig günstige Kredite, für die sie sich selbst Unmengen Geld aus dem Ausland liehen. So gut wie jedes Geldhaus stand einer Partei nahe, die diskret wegschaute oder sogar die Deals unterstützte. Wer auf diese Art von Banken und Politikern protegiert wurde, konnte womöglich sogar eine Fluggesellschaft kaufen, ohne sich in diesem Geschäft auszukennen, ohne einen fundierten Businessplan vorlegen zu müssen. Die Medien fielen als Kontrollinstanz weg, weil viele ebenfalls einer Partei nahestanden oder selbst in der Hand eines Großunternehmers waren.

Lára Júliusdóttir hat miterlebt, wie die jungen "Bankster" immer mehr Einfluss gewannen: "Ältere Frauen, die ihr Leben lang an Bankschaltern gesessen hatten, sahen nun, wie die Jungen vier- oder fünfmal höhere Gehälter bekamen als sie. Und dann wurden sie gefeuert, weil die Banken sich erneuern wollten. Was wir erlebt haben, war eine Glorifizierung der Jugend."

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Wäre es anders gekommen, wenn mehr Frauen am Ruder gewesen wären? "Auf jeden Fall", sagt Lára Júliusdóttir. Die Unternehmerin Lóa Thorhallsdóttir ist anderer Meinung: "Wir hätten nicht nur mehr Frauen, sondern auch mehr Vielfalt gebraucht, etwa beim Bildungshintergrund und beim Alter." Ähnlich sehen es heute viele Isländerinnen. Sie wissen, dass sie nicht alles anders, womöglich besser machen als die Männer. Aber sie finden, dass sie künftig dabei sein müssen, wenn Entscheidungen fallen. Und sie wollen, dass sich am gesamten System etwas ändert.

Lóa Thorhallsdóttir ist sicher, dass ihr Land auf dem besten Weg ist, dieses Ziel zu erreichen. So ist jetzt ein Gesetz in Kraft getreten, das Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern verpflichtet, ihre Vorstände zu mindestens 40 Prozent mit Frauen zu besetzen. Die Zustimmung ist groß in Island, sagt Lóa Thorhallsdóttir: "Es gibt auch immer mehr Männer, die an uns glauben."

Text: Marike Frick Fotos: Heike Ollertz BRIGITTE WOMAN 05/2013

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