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Süße Sehnsucht

Tango sei ein trauriger Gedanke, den man tanzen könne, heißt es. Warum macht dieser Tanz trotzdem so glücklich? Auf der Suche nach einem großartigen Gefühl.

Ich fand die Liste im Internet. Eigentlich wollte ich nur kurz recherchieren, wo abends eine Milonga, ein Tangoabend, veranstaltet wird. Da poppte diese Frage auf: "Sind Sie ein Tango-Junkie?" Es folgten untrügliche Symptome, an denen man angeblich eine fortgeschrittene Tango-Sucht erkennen könne.

- Sie verrücken Möbel, um tanzen zu können - Sie sind todmüde, aber gehen trotzdem zum Kurs - Sie hatten letztens einen großen Tango-Streit mit Ihrem Partner - Sie haben Ihr Computer-Passwort geändert. Es beginnt jetzt mit T. - Sie müssen tanzen. - Sie müssen tanzen ...

Ich war eindeutig ein Junkie. Ich tanzte zwar noch nicht lange, war aber längst abhängig. Zeit, sich das einzugestehen. Ich legte die neue "Gotan Project"- CD auf (Elektrotango, sehr entspannend) und dachte daran, wie ich in diese Sucht hineingeraten war: eine Schnupperstunde in einem kleinen Kellerstudio. Musik aus einer anderen Zeit, eine enge, aber nicht zu enge Umarmung, geschlossene Augen, die ersten zögerlichen Schritte – und irgendwann dieses Gefühl, das ich fortan immer wieder suchen sollte: nur spüren. Nicht mehr denken. Sich völlig ein lassen auf die Musik, auf den Rhythmus, auf die Bewegungen des anderen. Damals hatte ich die Augen nur äußerst widerwillig wieder geöffnet. Eine Ewigkeit schien vergangen. Sie hatte gerade mal drei Minuten gedauert. Einen Tango lang. Noch abends im Bett lag auf meinem Gesicht das wissende Lächeln einer Infizierten.

Beim Tango tanzen geht es nicht um Sex, sondern um's Spüren

Ein typischer Einstieg in eine Suchtkarriere, wie ich mittlerweile aus vielen Gesprächen mit anderen Abhängigen weiß. Besonders in den großen Städten werden wir immer mehr, treffen uns in alten Theatern, modernen Bars, auf Schiffen und unter Brücken, schmiegen unsere Wangen aneinander und verhaken unsere Füße ineinander. Wir fordern Wildfremde auf, tanzen mit ihnen vertraut wie lang Verliebte und trennen uns wortlos wieder vonein ander. Frauen tanzen mit Frauen. Männer mit Männern. Früher war der "Schlampenschwoof", der "vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens", mal verboten. Ein Missverständnis. Hier geht es nicht um Sex. Hier geht es endlich mal um uns. Vielleicht verfallen Männer der Tango-Sucht auch deswegen etwas seltener als wir.

Hat es den angehenden "Tanguero" aber erwischt, ist er nicht mehr vom Tanzboden wegzubringen und experimentiert schon im Anfängerkurs mit hochkomplexen Figuren. Nach dem ersten bösen Unfall auf der Tanzfläche dämmert es ihm, dass Tango weniger mit Akrobatik zu tun haben könnte, als er dachte. Und Machos nicht automatisch die besseren Tänzer sind. Aber jeder verdient einen zweiten Tango. Denn kein Tango ist wie der andere. Wenn es schlecht läuft, heißt es einfach nur: keine Verbindung unter dieser Umarmung. Wenn es sehr gut läuft, werden aus vier Beinen zwei. Wenn es sehr gut läuft, bin ich einen Abend lang die Frau, die ich auch sein könnte. Dann tanzt das Glück in mir herum.

Natürlich habe ich es schon mal mit einer Entziehungskur probiert. Standard/Latein. Ich habe es dort zwei ganze Stunden ausgehalten. Die schlechten Popsongs und das Gute-Laune-Programm der zertifizierten Tanzlehrerin machten mich irgendwie depressiv. Tango ist kein Partyknaller. Tango ist der Tanz der Heimatlosen, der Gestrandeten, der Besiegten. Seine Lieder erzählen von Melancholie, von Einsamkeit und Wehmut. Aber gerade diese Sehnsucht ist so süß, dass man sie immer wieder spüren will. Spüren muss.

Infos zum Tango tanzen:Tango Argentino im Netz; Tangomagazin mit großer Linksammlung; Kurse z. B. in Hamburg

Text: Sina Teiglkötter<br/><br/>Foto: Marc Sante<br/><br/>Produktion: Christiana Graf

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