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Audrey Niffenegger: Die Zwillinge von Highgate

"Die Zwillinge von Highgate", der neue Roman von Audrey Niffenegger, spielt an einem ganz besonderen Ort: dem Londoner Friedhof Highgate.

Mit einem metallenen Ächzen öffnet sich das gotische Gittertor, als die alte Dame sich dagegenstemmt. Hilfsangebote von Umstehenden lehnt sie strikt ab: "Ich mache das ein Dutzendmal am Tag, Liebes!" Derweil gleitet Audrey Niffenegger einfach still durch den geöffneten Spalt. Sie weiß es besser. Es ist vollkommen zwecklos, mit ihrer resoluten Freundin Jean in diesem Punkt zu argumentieren. Jean Pateman verstaut den riesigen Schlüsselbund in der Tasche ihres weiten Mantels und verschwindet in der Kapelle, in der ihr Büro ist. Seit über 30 Jahren ist der viktorianische Totenacker von Highgate der Lebensinhalt der 88-jährigen. 1975 kaufte die ehrenamtliche Organisation "Friends of Highgate Cemetery" den bankrotten Privatfriedhof, einst Londons beliebteste letzte Adresse. Seitdem kämpft Mrs Pateman gegen Verfall, Vandalismus, Schlingpflanzen, macht sich stark für die Würde der Todes und die Vielfalt an seltenen Pflanzen und Tieren in diesem schönsten aller Gärten des Todes.

Die Zwillinge von Highgate

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Bald wird eine neue Bedrohung der idyllischen Grabesruhe vor dem Eisentor auftauchen: Horden von Literaturtouristen. Denn Audrey Niffeneggers neues Buch "Die Zwillinge von Highgate" spielt hier. Ihr Roman "Die Frau des Zeitreisenden" machte die 46-jährige amerikanische Kunstdozentin vor sechs Jahren weltbekannt, und in ihrer Heimatstadt Chicago können manche Menschen bereits ein Lied davon singen, wie es ist, am Schauplatz eines internationalen Bestsellers zu leben. In der Newberry- Bibliothek, in der der "Zeitreisende" im ersten Roman arbeitet, werden mittlerweile schon Infozettel an die Besucher ausgegeben, damit die entnervten Angestellten nicht ständig Fragen beantworten müssen.

Auf keinen Fall durfte es Sex auf dem Friedhof geben.

Doch als Jean die Schriftstellerin auf ihren Friedhof ließ - der, von wenigen Führungen abgesehen, für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist -, waren derartige Entwicklungen nicht abzusehen. "Mein erster Roman war noch gar nicht veröffentlicht", erzählt Audrey auf dem von der Herbstsonne beleuchteten Vorplatz, während sie darauf wartet, dass die letzte Tour zurückkehrt, um sich vom Führer das Walkie-Talkie auszuleihen. Denn ohne so ein Gerät darf keine Gruppe in den dichten Dschungel aus Bäumen, Buschwerk und rund 52000 Gräbern - zu viele lose Steinkreuze und gefallene Engel, morsche Bäume und unter den Füßen nachgebende Erdmassen.

"Als ich über mein neues Buch nachdachte, hatte ich zuerst nur eine Szene im Kopf", sagt Audrey konzentriert. "Ein Mann verlässt nie seine Wohnung, ein junges Mädchen besucht ihn." Sie streicht ihr langes tizianrotes Haar zurück. "Dann begann ich in Gedanken in der Wohnung umherzugehen, sah aus dem Fenster. Da war ein Friedhof." Ursprünglich sollte dieser Friedhof auch in Chicago liegen, doch dann erinnerte sich Audrey an einen Besuch in Highgate in den Neunzigern. Damals hatte sie an einer Tour durch den unzugänglichen Westteil des Friedhofs teilgenommen. Und war als Liebhaberin viktorianischer Schauerliteratur und Sammlerin ausgestopfter Tiere sofort fasziniert von diesem exzentrischen Ort.

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"Ich rief also 2003 im Büro des Friedhofs an und sprach mit Jean. Auf meine Auskunft, ich sei Schriftstellerin und wolle über den Friedhof schreiben, antwortete sie nur: 'Oh je, Liebes, ich glaube, das ist keine gute Idee!'" Trotzdem durfte sich Audrey mit Jean treffen. Als sie das Manuskript von "Die Frau des Zeitreisenden" gelesen hatte, gab Jean ihr Einverständnis, die Schrifstellerin zur Recherche einzulassen. "Allerdings unter zwei Bedingungen: Es sollte in dem neuen Buch nicht geflucht werden wie im 'Zeitreisenden', und unter keinen Umständen dürfte Sex auf dem Friedhof eine Rolle spielen." Audreys Mundwinkel kräuseln sich in stillem Amüsement. "Nicht, dass ich Sex auf dem Friedhof eingeplant hatte."

Die Autorin wurde Mitglied der Friends; um mehr über die Geschichte des Friedhofs zu lernen, besuchte sie so viele Touren wie möglich, las sich durch alles, was es an Aufzeichnungen gab, und begann schließlich, selbst als Führerin zu arbeiten.

Die Zwillinge von Highgate: Auch Audreys Figuren lieben diesen Ort

Ein ehrenamtlicher Job, den auch mehrere Figuren in ihrem Roman ausüben. Die Geschichte beginnt damit, wie Elspeth Noblin, die in einem Haus lebt, das direkt an den Friedhof grenzt, an Krebs stirbt. Sie wird im Familienmausoleum bestattet; ihr Freund und Nachbar Robert, ein Historiker, der gerade seine Doktorarbeit über Highgate Cemetery schreibt und Touren führt, bleibt trauernd zurück. Er weiß nicht, dass Elspeth als Geist in ihrem alten Zuhause gefangen ist, unsichtbar, unhörbar - doch mit langsam wachsenden Kräften. Die Wohnung hat Elspeth den Zwillingstöchtern ihrer Schwester in Amerika vermacht - und als die jungen Mädchen einziehen, nehmen Verwicklungen ihren Lauf, die den Leser am Schluss des Romans überaus schaurig überrumpeln. Es ist eine Geistergeschichte und trotzdem ein Roman, der vor allem in die Abgründe der Beziehungen zwischen lebenden Menschen blickt. Zwischen Liebenden, Eltern und Kindern, Ehepaaren und natürlich Zwillingsschwestern, beglückt und zugleich verdammt, in den ewigen Spiegel ihrer selbst zu blicken.

Die letzte Tourgruppe tröpfelt auf dem Vorplatz ein, Audrey bekommt ihr Walkie-Talkie. Ein Paar junger Männer fällt ihr sofort auf: "Zwillinge! Wenn man einmal auf so etwas zu achten beginnt, sieht man sie überall." Vielleicht bringt das ja auch Glück, so wie die zwei Elstern, die sie vorher bemerkt hat. Man spürt die Lust, die Audrey Niffenegger am Symbolhaften hat, überall in ihrem Roman sind symmetrische Paarungen versteckt. Aber auch bildhafte Zeichen sind eine große Lust für die immer noch sehr aktive bildende Künstlerin.

Sie taucht in das Dickicht ein, das sich hinter der steilen Treppe zum abschüssigen Friedhofsgelände auftut, und zeigt nach ein paar Schritten auf einen verwitterten Stein: "Eine meiner liebsten Darstellungen: ein Pelikan, der sich die Brust aufreißt und mit dem Blut seine Jungen füttert. Ein Symbol für die Auferstehung. Im Roman fi ndet es sich auf den Türen zu Elspeths Mausoleum, sehr passend, nicht?"

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Es sind die Ornamente und Inschriften auf den Steinen, die ständig zu der Autorin sprechen, auch wenn außer dem Tosen in den Eschenwipfeln nichts zu hören ist. "Erstaunlich, wie viel auf diesem Friedhof gesagt wird!" Sie zeigt auf den schlafenden Löwen auf dem Grab des Menageristen George Wombwell: "Dieser Mann hatte Raubkatzen, Affen, Schlangen. Er schaffte es, diese exotischen Tiere am Leben zu erhalten in einer Zeit, in der die Menschen an allen möglichen Krankheiten starben. Was sagt uns das? Dass er ein kunstfertiger Tierhalter gewesen sein muss."

Die Zwillinge von Highgate: Du willst das doch nicht alles drin lassen?

Der Friedhof, den die Friends mit Mühe in einem Zustand "kontrollierter Verwahrlosung" bewahren, steckt voller Geschichten von Größenwahn und Verzweiflung, Menschlichkeit und Skurrilität. Unter Efeu und Farnen, in Grüften im ägyptischen oder gotischen Stil liegen Menschen im Tode vereint, die zu Lebzeiten durch Klasse und Profession getrennt waren: nationale Geistesgrößen wie der Naturwissenschaftler Michael Faraday und Kriminelle wie der Kunst- und Diamantendieb Adam Worth, angeblich die Vorlage für Professor Moriarty, den Sherlock Holmes einen "Napoleon des Verbrechens" nannte. Vor dem Mausoleum der lesbischen Schriftstellerin Radclyffe Hall stehen immer frische Blumen, und auf der Grabstätte des mit Polonium vergifteten ehemaligen Geheimagenten Alexander Litwinenko verbleicht seit seiner Beisetzung 2007 seine Fotografie. Bestattungen finden hier nach wie vor statt. Schon allein deshalb wünscht sich die Friedhofsleitung nicht zu viele Touristentrupps, die über die geweihte Erde marschieren.

Es gibt ein Kapitel im Roman, in dem die Zwillinge eine Tour von Elspeths Freund Robert mitmachen. "Ursprünglich hatte ich die ganze Führung - meine eigene - wortwörtlich übernommen", erzählt sie, "aber mein Lektor meinte: Du willst das doch nicht im Ernst alles drinlassen?" Sie habe sich gebremst, sagt Audrey Niffenegger, zu viele viktorianische Andekdoten lenkten nur von den Gefühlen der Charaktere ab. Und ihr Protagonist Robert, dessen Dissertation über den Friedhof im Roman auf über 1400 Seiten anschwillt - ohne absehbares Ende -, ist auch gleichzeitig immer warnendes Beispiel, sich nicht zu sehr in den Schicksalen der ungefähr 170000 Toten zu verlieren.

"In Wirklichkeit gibt es keine derartige Arbeit über Highgate Cemetery", sagt Audrey Niffenegger, als sie vor dem mächtigen Tor zur Ägyptischen Avenue Halt macht. "Aber vielleicht verleitet mein Roman ja endlich einen Historiker dazu, seine Zähne in dieses Thema zu schlagen." Die bildhafte Sprache klingt, so wie die Schriftstellerin in einer düsteren Allee aus Mausoleumseingängen steht, in ihrer blutsaugerischen Anmutung überaus stimmig.

Der fiktive Robert, sagt Audrey vergnügt, habe sie jedenfalls beim Schreiben schnell überholt: "Während er die Seiten anhäufte, kam ich streckenweise gar nicht voran." Das lag vor allem an dem unerwarteten Erfolg ihres ersten Romans. Audrey musste zu unzähligen Lesungen, Festivals, Interviews - es blieb nur sehr wenig Zeit, um für Führungen nach London zu kommen, noch weniger, um in Ruhe zu schreiben.

"Die Zwillinge von Highgate" feiert bald seine Veröffentlichung

Jean war eine der Ersten, die das neue Werk in Manuskriptform lesen durften. Der Roman ist ihr gewidmet, und sie taucht auch als literarische Figur darin auf. "Sie hatte sich lauter Sachen notiert", erzählt Audrey. "Ich dachte: 'O Gott, was sind das jetzt alles für Einwände?' Tatsächlich hatte sie nur alle meine kleinen, albernen Amerikanismen korrigiert!"

Unten auf dem Vorplatz kommt die stets wachsame Jean wieder aus ihrem Kapellenbüro hervor. Sie zeigt uns ihre Grabstelle, gleich hier am Rand. "Schön, nicht?", sagt sie zufrieden. Ihr Mann liegt bereits dort, und auf dem Grabstein ist noch eine leere Stelle, an der irgendwann ihr Todesdatum stehen wird.

Dann verschwindet sie mit energischen Schritten wieder im Büro, es gibt noch so viel zu tun, denn Audreys Roman wird bald seine Veröffentlichung in England feiern. Hier in Highgate. Mit allem, was ein Bestseller so mit sich bringt: Presse, TV, allgemeiner Medienrummel. Seinetwegen werden viele Leser demnächst für die wenigen Führungen vor dem Tor Schlange stehen. Aber Highgate Cemetery hat in seiner 170- jährigen Geschichte schon einiges überstanden und Jean in ihren 88 Lebensjahren einen guten Teil mit: den Bombenkrieg, den Pleitegang der Betreibergesellschaft, Geldmangel, Satanisten, die sich nachts hereinschlichen, Vampirjäger, Verrückte. Im Angesicht der Ewigkeit fallen ein paar Niffenegger- Fans kaum ins Gewicht.

"Die Zwillinge von Highgate"

Audrey Niffenegger: "Die Zwillinge von Highgate" (Ü: Brigitte Jakobeit, 464 S., 19,95 Euro, S. Fischer)

Text: Meike Schnitzler Fotos: James Pfaff, Ulrike Leyens

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