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A. M. Homes: Von der eigenen Mutter verfolgt

Die Schriftstellerin A. M. Homes war 31 Jahre alt, als plötzlich ihre leibliche Mutter in ihr Leben trat - und anfing, sie zu verfolgen. Homes verarbeitete die Geschichte in einer Autobiografie, die beim Lesen eine Gänsehaut macht.
A. M. Homes
A. M. Homes
© Marion Ettlinger

Sie kann sich nicht daran erinnern. Sie weiß nicht mehr, wann und wie ihre Eltern ihr erzählten, dass sie als Neugeborenes adoptiert worden war. Sie muss damals noch sehr klein gewesen sein, sagt sie. "Die Verhältnisse waren immer klar. Ich habe mich nie besonders dafür interessiert, wer meine biologischen Eltern sind", sagt A. M. Homes an diesem Nachmittag und lacht. Kleine Pause, Schulterzucken. "Was soll ich sagen? Es ist eine seltsame Geschichte."

Und dann erzählt Homes von Erlebnissen, die sie nie erleben wollte. Sie beschreibt, wie sie von ihrer leiblichen Mutter gesucht und gefunden und dann wie von einer Stalkerin verfolgt wurde. A. M. Homes ist eine amerikanische Bestseller-Autorin und heute 46 Jahre alt, sie hat langes braunes Haar und blaue Augen, um die fröhlich ein paar Fältchen tanzen, wenn sie lacht. Homes trägt eine schwarze Bluse, schwarze Jeans und rosenrote Crocs, diese Gummischuhe mit den Löchern, die an einen Schweizer Käse erinnern. Es ist ein warmer, sonniger Tag in New York, sie sitzt vor einem Café um die Ecke ihrer Wohnung im West Village. Eigentlich schreibt A.M. Homes Romane, aber nun ist ihre Autobiografie erschienen: "Die Tochter der Geliebten" (Kiwi, 236 Seiten, Ü: Ingo Herzke), und diese Tochter ist sie.

A. M. Homes: "Ich bin die Tochter der Geliebten"

Sie war 31, lebte bereits als Schriftstellerin in New York, als ihre Vergangenheit von vorn begann. Homes kann sich daran erinnern, wie ihre Adoptiveltern ihr erzählten, dass ihre leibliche Mutter Kontakt zu ihr aufnehmen wolle. "Es war kurz vor Weihnachten, 1992", sagt sie, "ich fuhr damals nach Washington, um meine Familie zu besuchen."

Am Abend meiner Ankunft sagte meine Mutter gleich nach dem Essen: "Komm ins Wohnzimmer. Setz dich. Wir müssen dir etwas erzählen." Ihr Tonfall machte mich nervös. Meine Eltern sind eigentlich nicht so förmlich - man setzt sich nicht ins Wohnzimmer.

So beginnt ihr Buch. Erschrocken fragte A. M. Homes damals: "Wer ist gestorben?" Niemand, antwortete ihre Mutter: "Wir wurden angerufen. Jemand sucht nach dir." Ein Anwalt hatte sich bei den Adoptiveltern gemeldet.

Als ich aufstehe, weiß ich etwas über mich: Ich bin die Tochter der Geliebten. Meine leibliche Mutter war jung und unverheiratet, mein Vater älter und verheiratet. Als ich im Dezember 1961 geboren wurde, rief ein Anwalt meine Adoptiveltern an und sagte: "Ihr Päckchen ist angekommen, und es hat eine rosa Schleife."

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Das Leben ihrer Adoptiveltern sollte mit dem kleinen Mädchen wieder in Ordnung kommen: Als Phyllis und Joseph Homes heirateten, brachte Phyllis einen Sohn mit in die Ehe, der von Geburt an unter einem schweren Nierenschaden litt und mit neun Jahren starb. "Ich hatte immer das Gefühl, meine Aufgabe in der Familie war Heilung, ich sollte einen toten Jungen ersetzen. Als Kind war das eine schwere Bürde", sagt A. M. Homes. Bis heute benutzt sie ihre Vornamen nicht. Seit frühester Kindheit wurde sie immer nur mit ihren Initialen gerufen: A. M. Das A steht für Amy, zu dem M mag sie nichts sagen. "Mein mittlerer Name ist irrelevant." Mehr gibt sie nicht preis.

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Homes wuchs in Chevy Chase auf, einem Vorort von Washington D.C., gutbürgerlich: Ihr Vater war Künstler, ihre Mutter im Schuldienst, die Familie ging oft ins Museum und ins Theater. Homes spielte Schlagzeug. "Ich wäre gern Musikerin in einer Band geworden", sagt sie, "aber ich war sehr schüchtern. Lieber schrieb ich, da konnte ich für mich sein."

Mit 19 Jahren begann sie mit ihrem ersten Roman, der von einem 15-Jährigen handelt, dessen Vater sich als homosexuell outet. "Jack" erschien 1989 und wurde unter anderem mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Homes war nach New York gezogen, "ich hatte mir ein Leben aufgebaut, es ging mir gut", sagt sie. Dann kreuzte ihre leibliche Mutter auf. Homes hatte damals einen Roman geschrieben, "In A Country Of Mothers". "Darin ging es um eine Mutter, die ihr Kind zur Adoption freigegeben hatte. Es war das erste Mal, dass ich etwas Autobiografisches verarbeitet hatte." Es sollte auch das letzte Mal sein, doch dann ging ihre Adoptionsgeschichte erst los.

A. M. Homes wollte mehr über ihre Mutter erfahren

Von ihrer Adoptivmutter erfuhr sie den Namen ihrer leiblichen Mutter: Ellen Ballman. Homes schwankte, sie war ängstlich, aber auch neugierig: Wie ist diese Frau? Was macht sie? Ist sie so, wie sie sich ihre Mutter vorgestellt hatte? "In meinen Träumen war sie schön wie ein Filmstar und hatte ein glanzvolles Leben, in dem nur ich fehlte." Homes rief den Anwalt an: "Ich hätte gern einen Brief", sagte sie - von ihrer Mutter. Zehn Tage später kam Post. Ellen Ballman schrieb, es sei "die schwierigste Entscheidung" ihres Lebens gewesen, sich von ihrem Baby zu trennen, "aber für ein junges Mädchen gehörte es sich nicht, ein uneheliches Kind zu bekommen". Sie endete mit den Worten: "Ich habe nie geheiratet, ich habe mich immer schuldig gefühlt, dass ich dieses kleine Mädchen weggegeben habe."

Ich lese den Brief gleichzeitig langsam und schnell, will alles aufnehmen und kann es doch nicht. Ich lese ihn einmal und noch einmal. Was will sie mir sagen?

Homes wollte mehr wissen. Wieder rief sie den Anwalt an: "Könnten Sie nachfragen, wer der Vater ist?" Wieder schrieb Ballman: "Ich sollte dir von Norman Hecht erzählen. Ich habe für Norman im Princess Shop in Washington D.C. gearbeitet. Damals war ich 15." Und Hecht bereits verheiratet und Vater. Er begann eine Affäre mit Ballman, die sieben Jahre dauerte: Immer wieder versprach er ihr die Ehe, aber er ließ sich nie scheiden. Als Ellen schwanger wurde, war die Affäre beendet.

A. M. Homes rief ihre leibliche Mutter an. "Ihre Stimme war erschreckend", sagt sie heute. Tief, nasal, rau. "Oh Gott", schrie Ballman, "das ist der schönste Tag meines Lebens." Und dann: "Wann können wir uns sehen?" Aber Homes brauchte Zeit, und sie wollte über den Kontakt zu Ballman selbst bestimmen, nachdem die Situation 31 Jahre lang außerhalb ihrer Kontrolle gelegen hatte. Sie verschwieg der Mutter ihren Nachnamen, ihre Telefonnummer. Wann es Kontakt gab, das wollte Homes selbst entscheiden.

Doch Ballman wollte im Eiltempo erzwingen, was sie drei Jahrzehnte lang nicht hatte haben können: ein Mutter-Tochter-Verhältnis. "Wenn du rausgehst, zieh dir einen Kaschmirpulli an, damit dir nicht kalt wird", gab sie ihrem Kind mit. "Warum willst du mich nicht sehen?", drängelte sie. "Du quälst mich. Für deinen Hund sorgst du besser als für mich. Du solltest mich adoptieren - und für mich sorgen." Homes antwortete: "Du machst mir Angst."

Bei jedem Telefonklingeln hielt A. M. Homes die Luft an

Sie wandte sich von Ellen Ballman ab, die so anders war, als sie es sich erhofft hatte. Und ihr Vater? War er angenehmer? Homes gab ihre Hoffnung nicht auf, schrieb ihm einen Brief und bat um ein Treffen. Es dauerte, bis der Vater sich bei ihr rührte.

Dafür hinterließ ihre Mutter verstörende Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter, sie hatte recherchiert: "Ich weiß, wer du bist und wo du wohnst. Ich lese deine Bücher." Homes ging nicht mehr ans Telefon, bei jedem Klingeln hielt sie die Luft an. Dann erschien ihre Mutter plötzlich bei einer ihrer Lesungen. "Du hast denselben Körperbau wie dein Vater", sagte sie. Und verschwand. Homes kann sich kaum erinnern, wie ihre Mutter aussah: Braunes Haar, zarte Knochen, mehr blieb von ihr nicht hängen.

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Und dann war ihr Vater auf dem Band: "Ruf mich doch an." Norman Hecht lebte in Washington D.C., Homes verabredete sich mit ihm. Er hatte ein rosiges Gesicht, weiße Haare - und Oberschenkel, die Homes von sich kannte, "stämmig, dick. Zum ersten Mal sah ich jemand anderen in meinem Körper", sagt sie. Der Vater erzählte ihr von seiner Affäre mit Ellen Ballman: "Sie war ein Flittchen, viel zu reif für ihr Alter." Und er behandelte die Tochter wie seine einstige Geliebte, nur ohne sexuellen Kontakt: Hecht traf Homes öfter, aber immer heimlich, seine Gattin sollte nichts davon erfahren. Er bestellte sie in billige Hotels und versprach ihr immer wieder, sie werde seine Familie später sicher kennen lernen. Er überredete sie zu einem Vaterschaftstest. Kaum war das Ergebnis da (positiv), brach er den Kontakt ab.

A. M. Homes hat viel über sich gelernt

A. M. Homes geht davon aus, dass Norman Hecht noch lebt; sie hat nie wieder etwas von ihm gehört. Damals dachte sie oft: "Mein Kopf explodiert. Er fühlte sich an wie die Festplatte eines Computers, die gegen eine größere ausgetauscht werden muss, weil zu viele Informationen darauf sind." Ellen Ballman starb 1998 an Nierenversagen, und Homes zog einen vorläufigen Schlussstrich: Sie wollte in ihr Leben zurückfinden, es mussten ein paar Jahre vergehen, ehe sie sich der "Tochter der Geliebten" widmen konnte.

"Ich habe nicht gesucht", sagt sie. "Es war nicht die perfekte Geschichte. Gerade deshalb wollte ich sie aufschreiben." Ihr Buch handelt von Enttäuschung und Erniedrigung, es ist oft beklemmend, aber immer mitreißend.

Homes sagt, sie habe durch die ganze Geschichte viel gelernt über sich, und am wichtigsten sei gewesen: Sie wünschte sich ein Kind. Homes bekam eine Tochter, Juliet ist heute fünf Jahre alt.

Text: Ulrike von Bülow

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