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Interview: Gérard Depardieu - Frankreichs Gott

Ein Interview mit Gérard Depardieu ist alles - nur nicht gewöhnlich. Eine Begegnung in Paris.

Zum Interview mit Gérard Depardieu

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Mitten in Paris, im feinen St. Germain, besitzt Gérard Depardieu einen Fischladen und ein Bistro, renoviert ein Stadtpalais und lässt ein zweites errichten. Alles in einer Straße. Wenn er nicht dreht oder irgendwo auf der Welt seinen Wein verkauft, kann man ihn dort sehen. Vorausgesetzt, man erkennt ihn. Denn Depardieu ist der grau gekleidete Koloss auf einem Motorrad, der die Rue du Cherche-Midi, so der Name der Straße, rauf und runter knattert. "Gestern war er da", sagen die Bauarbeiter. Die Fischverkäufer sagen dasselbe. Gut, dann könnte er heute auch da sein. Wir sind verabredet, aber für einen Depardieu gelten keine Gesetze. Eine Verabredung, ein Termin - Vabanque-Spiele. Dieser Mann kann alles, darf alles - und tut es auch. Fressen, saufen, beleidigen. Wenn er keinen guten Tag hat. Wenn er allerdings einen guten Tag hat, heißt es, dann sei er der großzügigste, sanfteste, lustigste Mensch überhaupt. Wir betreten die Baustelle. Ohrenbetäubender Lärm, ein Dutzend Handwerker im Einsatz. Das Stadtpalais, die Fassade gerade frisch gestrichen, ist noch nicht fertig. Links und rechts zwei Concierge-Häuschen. Absurd, aber hier lebt er. Ein Riese im Zwergenhaus. In dem einen befinden sich Bett und Bad, im anderen Küche und Sofa. Wenn Depardieu zu Hause ist, dann sind die Häuschen voll. Niemand passt dazu. Zufall? Kaum. Der 62-Jährige lebt allein trotz Freundin, die 29 Jahre jünger ist und von ihm "ma petite Clémentine" genannt wird. Plötzlich, eine Häuschentür öffnet sich, Depardieu erscheint.

"Bonjour, ich komme gleich!", deutet ein Lächeln an und ist wieder weg. Es folgt der bühnenreife Auftritt seiner Haushälterin im Kittel, mit Besen und Eimer. Wer wissen will, wie es Depardieu geht, fragt am besten sie. Sie kennt sein Leben, seine Lieben. "So eine wie Elisabeth, die gibt es nicht wieder", sagt sie und kehrt den Schutt, der überall herumliegt, energisch zusammen. Elisabeth Guignot, seine große Liebe, seine erste Frau, die Mutter seiner beiden ältesten Kinder. Ein unglaubliches Paar. Sie, klein und zierlich und aus großen Verhältnissen, und er - das Gegenteil. Es ging nicht gut. Depardieu hatte nie Zeit für die Familie und fühlt sich bis heute schuldig. "Sprechen Sie bloß nicht von ihr!", rät die Haushälterin. Überhaupt Familie, Frauen, sein auf tragische Weise gestorbener Sohn Guillaume, diese Themen gehen alle gar nicht. Was geht? Wird sich zeigen.

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Depardieu erscheint wieder, begrüßt enthusiastisch Jörg Lehmann, den Fotografen, der sein Freund ist - sonst wären wir nicht verabredet. In einer gigantischen Empfangshalle, die noch im Rohbau ist, sind Stühle übereinandergestapelt, davor ruht eine Art Holzstamm. "Kunst", sagt Monsieur, greift sich einen Stuhl, lässt sich fallen. Und weist huldvoll auf den niedrigeren Platz auf dem Stamm. Dann schaut er sich um mit leicht entrücktem Blick, als säße er in einem Kloster in Tibet und begrüße nun seine Mönche zum Morgengebet.

Er sagt: "Morgens gehe ich durch das leere Haus, rieche an den Steinen, schaue mir alles in Ruhe an. Ganz früh, am liebsten um fünf, da stört mich niemand. Es wird langsam hell. Ich mag die Nacht nicht. Die Leute werden depressiv. Ich auch. Es ist grell in der Stadt und laut. In der Natur ist alles anders, da ist es ruhig. Ich liebe das Erwachen. Wenn das Leben wieder beginnt."

BRIGITTE WOMAN: Wenn Sie die Natur so lieben, warum leben Sie dann hier mitten in der Stadt?

Gérard Depardieu: Ich brauche beides. Ich mag diese Ecke von Paris. Hier leben Intellektuelle, Ausländer, und es gibt vie- le religiöse Menschen. Diese Mischung gefällt mir.

BRIGITTE WOMAN: Was meinen Sie mit religiösen Menschen?

Gérard Depardieu: Ich bin religiös, ohne an einen bestimmten Gott zu glauben. Als Kind habe ich viel gebetet. Da drüben wohnen Nonnen, sie leben in einem Gebäude aus dem 17. Jahrhundert, und irgendwie leben sie so wie früher, abgeschieden von der Welt. Sie haben keinen Fernseher. Ich spreche gern mit ihnen.

BRIGITTE WOMAN: Worüber sprechen Sie?

Gérard Depardieu: Über alles, über ihren Garten, das Wetter und immer wieder über Gott, Gebete, ihre Lektüre. Sie leben nach den Regeln des heiligen Augustinus, den ich sehr verehre. Wir diskutieren viel, ich will wissen, was sie überzeugt. Die Oberin kennt sich extrem gut aus in der Theologie, wir beide haben immer etwas zu reden.

BRIGITTE WOMAN: In Ihrer Familie wurde dagegen nicht viel gesprochen.

Gérard Depardieu: Ich rede nicht über meine Familie.

BRIGITTE WOMAN: Kennen Sie das deutsche Wort Heimat, das es so im Französischen nicht gibt?

Gérard Depardieu: Nein, das sagt mir nichts, was ist das?

BRIGITTE WOMAN: Schwierig, es ist ein Lebensgefühl. Da sein, wo man herkommt oder hingehört. Das kann ein Haus sein, aber auch Menschen, ein Garten, eine Stadt.

Gérard Depardieu: Ich verstehe. Nein, nein, das habe ich nicht. Vielleicht habe ich manchmal diese Momente, in denen ich gern bleibe, um mich zu spüren. Bei Büchern habe ich das. Bücher sind meine Heimat. Balzac habe ich komplett in New York gelesen, Baudelaire in der Wüste. Ich bin oft unterwegs, ich fliehe oft vor Häusern, die voll sind, auch vor Menschen.

Ich habe keinen Terminkalender und kein Telefonbuch. Die Nummern, die mir wichtig sind, habe ich alle im Kopf.

BRIGITTE WOMAN: Was treibt Sie um? Sie sind sehr viel unterwegs und könnten doch in aller Gelassenheit einfach irgendwo sein.

Gérard Depardieu: Nein, gerade das kann ich überhaupt nicht. Ich will mich nirgendwo niederlassen. Ich will mich nicht festlegen. Ich suche keine Nähe.

BRIGITTE WOMAN: Wie halten Sie dann Verbindungen aufrecht?

Gérard Depardieu: Ich sage Ihnen was: Ich habe keinen Terminkalender und kein Telefonbuch. Die Nummern, die mir wichtig sind, habe ich alle im Kopf. Ich schreibe Briefe. Keine E-Mail. Mich fasziniert das überhaupt nicht. Dabei liebe ich die Kommunikation, Gespräche, aber richtige! (blickt bedrohlich)

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BRIGITTE WOMAN: Sie sind einer der meistverehrten Schauspieler Frankreichs, aber es war ein langer Weg nach oben. Als kleiner Junge wurden Sie in der Schule ausgelacht, auch als junger Mann konnten Sie nicht richtig reden. Sie stotterten und hatten Hemmungen, den Mund aufzumachen.

Gérard Depardieu: Das stimmt. So war das. Ich hatte die Sprache verloren. Bei uns herrschte ein lautes Schweigen. Bevor ich reden konnte, lernte ich zu schreien.

BRIGITTE WOMAN: Wie kommt jemand, der nicht reden kann, ausgerechnet auf die Idee, Schauspieler zu werden?

Gérard Depardieu: Zufall, ich lungerte am Bahnhof rum, traf einen Freund, der nach Paris fuhr und zu mir sagte: "Ich gehe zur Schauspielschule, komm doch mit." Ich hatte trotz allem einen schrecklichen Drang nach Kommunikation, ich musste wohl früher oder später ans Theater. Alle hatten Angst vor der Bühne. Ich nicht. Spielen machte mich ruhig. Da gab mir jemand Worte, die ich nie besessen hatte. Ich fing an, Bücher, Texte zu verschlingen. Da war ich 17.

BRIGITTE WOMAN: In Kritiken heißt es, Sie liebkosen Worte, spielen mit Versen von Racine oder Corneille. Wie haben Sie das geschafft, wie haben Sie überhaupt zur Sprache gefunden?

Gérard Depardieu: Ich hatte einen wundervollen Lehrer an der Schauspielschule in Paris, er schickte mich zu einem ungewöhnlichen Arzt, der mich mit Mozart therapierte. Monatelang habe ich Mozart gehört, immer in anderen Frequenzen, allmählich wurde ich ruhiger. Mein gestörtes Sprechen hing offenbar mit einem gestörten Hören zusammen. Eines Tages platzte der Knoten.

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BRIGITTE WOMAN: Heißt deshalb einer Ihrer Weine Cuvée Mozart?

Gérard Depardieu: Nein, nein, eine hübsche Idee. (lächelt)

BRIGITTE WOMAN: Ist Musik für Sie eine posttherapeutische Angelegenheit?

Gérard Depardieu: Nein, ich liebe sie, sie ist göttlich. Ich liebe Mozart. Wenn er eine Sonate erklären sollte, hat er sie einfach gespielt. Das ist doch genial. Seine Musik ist immer wieder neu, je nachdem, wer sie interpretiert, höre ich ein anderes Stück.

BRIGITTE WOMAN: Wann finden Sie dafür die Zeit?

Gérard Depardieu: Nie. Ich höre nie einfach nur Musik, sondern ich beschäftige mich mit Musik. Wenn ich arbeite, wie zum Beispiel mit Riccardo Muti bei den Salzburger Festspielen.

BRIGITTE WOMAN: Haben Sie manchmal Angst, die Sprache noch einmal zu verlieren?

Gérard Depardieu: Ich spielte letztes Jahr in dem Film "Small World" einen Alzheimer- Patienten. Die Krankheit ist schrecklich, aber oft mehr für die anderen als für den Kranken. Doch es gibt helle Momente, Augenblicke des Lächelns. Ich habe Alzheimer-Patienten getroffen, auch Annie Girardot (kürzlich verstorbene frz. Schauspielerin; Anm. d. Red.) steckt mittendrin, sie erkennt niemanden mehr. Grausam, man findet sich nicht mehr zurecht in der Welt, geografisch und auch sonst nicht. Ich stelle mir das sehr schmerzhaft vor. Schwierig, auf diese Weise behindert zu sein, wenn man Freiheit gewohnt ist. Wenn mir das passierte, möchte ich eine Spritze haben. Das könnte ich nicht ertragen, dann will ich lieber gehen.

BRIGITTE WOMAN: Ich habe gelesen, Sie hatten eine Tante, die an Alzheimer litt?

Gérard Depardieu: Ja, sie war verwirrt, rannte durch den Wald. Das wusste ich lange nicht. Eines Tages habe ich auf einem Speicher einen Brief meines Vaters gefunden, den er in seiner Verzweiflung seiner Mutter geschrieben hat. Dieser Brief ist absolut erstaunlich. Sie müssen wissen, mein Vater war praktisch Analphabet, konnte gar nicht schreiben. Ich habe den Brief meiner Freundin Marguerite Duras gezeigt. "Schau, das ist von jemandem, der nicht richtig lesen und nicht schreiben kann, wie findest du die Sprache?"

BRIGITTE WOMAN: Wieso Marguerite Duras, woher kannten Sie denn die Schriftstellerin?

Gérard Depardieu: Das ist eine lustige Geschichte. Ich war 19 und sollte in einem Stück nach einem ihrer Bücher einen Kindermörder spielen. Margeruite wollte mich kennen lernen. Also ging ich zu ihr, ich sah aus wie ein Hippie, hatte lange Haare. Sie war winzig. Später hat sie mir erzählt, warum ich sie besuchen sollte: Sie wollte sehen, ob ich einer bin, vor dem man Angst haben kann.

BRIGITTE WOMAN: Und hatte sie Angst?

Gérard Depardieu: Ja, genau. Danach habe ich alle Bücher von ihr gelesen.

BRIGITTE WOMAN: Und dann hatten Sie wahrscheinlich Angst?

Gérard Depardieu: Nein, nein, ich bewunderte sie. Wir sind Freunde geworden.

BRIGITTE WOMAN: Was sagte denn die Duras über den Brief Ihres Vaters?

Gérard Depardieu: Sie war beeindruckt, es war eine Sprache mit eigenen Kodifizierungen, eine Sprache, die vielleicht nur eine Mutter verstehen kann - und ein Vater, wenn er denn da ist.

BRIGITTE WOMAN: War das zwischen Ihnen und Ihrer Mutter auch so?

Gérard Depardieu: Das ist doch egal. Ich will nicht über meine Familie reden. Ich habe genug davon.

BRIGITTE WOMAN: Sie haben angefangen mit der Familie.

Gérard Depardieu: Ich spreche lieber allgemein über Empfindungen.

Ich mag den Sonntag, da ist Ruhe, dann koche ich, fahre Motorrad. Ich liebe das, den Wind zu spüren und einfach loszufahren.

BRIGITTE WOMAN: Wir haben gerade über Alzheimer- Patienten geredet, diese Menschen haben kein Gefühl für Zeit. Gestern, heute, morgen, all das ist ihnen fremd. Ist Zeit, Vergänglichkeit ein Thema, das Sie beschäftigt? Sie machen so viel, so viel Verschiedenes. Haben Sie Sorge, etwas zu verpassen?

Gérard Depardieu: Nein, nein. Ich war schon immer sehr, sehr neugierig. Auf alles. Deswegen mache ich so viel.

BRIGITTE WOMAN: Die Tatsache, dass Sie Häuser kaufen, ein altes renovieren und ein neues bauen, hat das etwas mit Zukunft zu tun, vielleicht mit der eigenen?

Gérard Depardieu: Die Zukunft interessiert mich nicht. Ich werde hier nicht wohnen, ich liebe das Entstehen, den Prozess des Wachsens. Wenn alles fertig ist, dann suche ich mir etwas Neues, dann ziehe ich weiter. Ich brauche - Platz. (Er holt weit aus und zeigt auf den nackten Raum)

BRIGITTE WOMAN: Am Anfang unseres Gesprächs sagten Sie, Bücher seien Ihnen Heimat. Gibt es vielleicht noch etwas, an dem Sie hängen?

Gérard Depardieu: Ich habe nicht einmal einen Schrank, ich brauche keinen Besitz. Ich reise ohne Gepäck. Eine Hose und meine Bücher, mehr brauche ich nicht.

BRIGITTE WOMAN: Sie leben allein, auf einer Baustelle, umgeben von Leuten, die immer etwas von Ihnen wollen. Wie halten Sie das aus?

Gérard Depardieu: Gut. Das sehen Sie ja. Ich mag den Sonntag, da ist Ruhe, dann koche ich, fahre Motorrad. Ich liebe das, den Wind zu spüren und einfach loszufahren. Oder ich zeichne, mache Skulpturen, die ich verschenke, wenn sie denn jemandem gefallen.

BRIGITTE WOMAN: Gefallen Ihnen eigentlich Ihre Filme?

Gérard Depardieu: Ich schaue sie mir nie an, wenn sie fertig sind, ist es vorbei. Dann kommt das Nächste. Etwas beenden macht mir Angst, am liebsten würde ich vor dem Ende aufhören.

BRIGITTE WOMAN: Was macht Ihnen denn Freude?

Gérard Depardieu: Viel. Sehr viel. Ein Wein, eine Blume im Herbst, ein Sonnenaufgang. Spielen, das erfüllt mich zutiefst. Zusammen mit anderen zu spielen. Oder ein Gespräch. Ich rede viel lieber mit Frauen als mit Männern. Männer haben meist nichts Großartiges zu sagen. Von Frauen habe ich alles gelernt - von den Dichterinnen Marguerite Duras, Nathalie Sarraute, der Schauspielerin Jeanne Moreau, der Sängerin Barbara. Sie sind meine Heldinnen.


Während er erzählt, wird im Hintergrund gebohrt und gehämmert, das stört ihn nicht, er scheint es nicht einmal wahrzunehmen. Bis wieder ein Handwerker auftaucht. Er müsse ihn dringend sprechen. Sofort. Depardieu bittet um Verständnis.</antwort>

BRIGITTE WOMAN: Nur eine Frage noch, wann gefällt Ihnen eine Frau?

Gérard Depardieu: (Er lacht laut und begeistert.) Wenn sie aufhört, Fragen zu stellen.

Gérard Depardieu

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Gérard Depardieu wird am 27. Dezember 1948 in Châteauroux als drittes von sechs Kindern geboren. Mit 13 Jahren fängt er eine Druckerlehre an und lernt boxen. Er gilt als aufsässig und schwierig. 1965 nimmt ihn ein Freund mit nach Paris auf die Schauspielschule. Sein Leben beginnt. Seit Jahrzehnten gilt Depardieu als einer der großen französischen und europäischen Schauspieler überhaupt. Er kann alles und spielt alles: Cyrano, Asterix, Rodin; Liebende, Verzweifelte, Arbeiter, Bourgeoise, Außenseiter - insgesamt mehr als 180 Filme. Er war einmal verheiratet und hat vier Kinder. Sein Sohn Guillaume ist vor drei Jahren mit 37 Jahren gestorben. Depardieu besitzt Weinberge, u. a. in Frankreich, Spanien, Marokko, Argentinien. Er lebt, wie er arbeitet: exzessiv.

Zwei Bücher über und von Gérard Depardieu:

"Kulinarische Festspiele: Gérard Depardieu trifft Roland Trettl", Collection Rolf Heyne, 352 S., 58 Euro.

Gérard Depardieu: "Gestohlene Briefe (Lettres Volées)". Ende der 80er Jahre beginnt der Schauspieler Briefe zu schreiben - an seine Mutter, Freunde, Familie. Er wollte sie vernichten, sie wurden ein Buch. Ein kleiner Schatz, nur noch antiquarisch zu finden.

Text: Carla Woter Fotos: Jörg Lehmann BRIGITTE WOMAN Heft 05/2011

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