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Pseudoküsse und Knatterküsse

Pascale Hugues ist ein ungewöhnliches Buch über zwei Freundinnen gelungen: ihre Großmütter. Deren Leben spiegelt ein spannendes Kapitel deutsch-französischer Geschichte.

An einem milden Herbsttag im Jahr 1908 streckt ein elsässisches Mädchen einem Mädchen aus der Pfalz eine Handvoll Karamellbonbons entgegen. Beide sind sechs Jahre alt, tragen weiße Kittelschürzen und wohnen im selben Haus in Colmar. So beginnt eine faszinierende Freundschaft, die über 90 Jahre dauern und etlichen Belastungen standhalten wird.

In "Marthe und Mathilde" hat Pascale Hugues, die Enkelin beider Frauen, die Geschichte dieser Freundschaft aufgeschrieben. Lange Zeit, sagt die französische Journalistin, habe sie mit diesem Projekt gezögert. Ein Buch über die eigenen Großmütter? Wen sollte das interessieren? Und wollten die beiden überhaupt so viel Persönliches preisgeben? "Die Schamgrenzen waren in dieser Generation ja viel niedriger." Andererseits ließen sie die Frauen nicht los. Es gab da etwas, was erzählt werden musste, eine buchstäblich unerhörte Geschichte, die hinter der Familiengeschichte lag, die man auf unzähligen Feiern bei ihren Großmüttern zum Besten gab.

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Nett und harmlos fängt alles an. Marthe und Mathilde, die im Elsass aufwachsen, sind von der ersten Begegnung an unzertrennlich. Wenn die eine verreist, wartet die andere sehnsüchtig auf ihre Heimkehr. Auf Postkarten schwören sie sich in dem für sie typischen Sprachen-Mix ewige Treue: "Marthele. Du besch mi noch net los!! Je reviens." Später bekommen sie fast gleichzeitig ihre Kinder - zwei davon werden sich vermählen. Sie streiten sich oft, denn Mathilde, schlank, elegant und schöner als die andere, ist oft gereizt und in ihren Stimmungen unberechenbar. Ihre Freundin, die meist fröhlich und ausgeglichen ist, verzeiht ihr diese Attacken stets.

Ihre enge Beziehung endet erst, als Marthe an Alzheimer erkrankt und die andere einfach vergisst. Nur wenige Jahre dauert diese Trennung im Leben. Sie verlassen es fast gemeinsam. Kurz nachdem Marthe stirbt, folgt ihr Mathilde.

Pascale Hugues erzählt das alles völlig unsentimental. Da heißt es schon mal, die "ewigen Großmütter" sehen aus "wie ein Gespann zweier untrennbarer Gäule", wenn sie, vom Alter gebeugt, aneinandergeklammert durch die Stadt wanken. Oder sie wundert sich über das unterschiedliche Verhalten der beiden Frauen, von denen die eine, Marthe, stets emsig ist, während Mathilde rumsitzt und sich von ihr bedienen lässt. Warum macht Marthe das mit? Warum nimmt sie sich immer so zurück? Fragen, auf die sie erst viel später eine Antwort finden wird.

Pascale Hugues gibt dem Schweigen eine Stimme

Überhaupt kommt ihr die etwas steife Mathilde als Kind manchmal komisch vor. Ihre dahingehauchten "Pseudoküsse" mag sie nicht, im Gegensatz zu den Küssen der anderen Oma, die nur so über ihre Kinderwangen "knattern". An Sonntagen, wenn sich die ganze Familie bei Marthe zum Essen trifft, sitzt Mathilde, missmutig in den Qualm ihrer Zigaretten gehüllt, abseits von den anderen, während ihre Freundin alle in der Runde mit ihrer Fröhlichkeit ansteckt. Pascale Hugues' Kommentar: "Mathildes Eifersucht ging mir auf die Nerven." Ein Irrtum, wie sie später einräumt. "Ich habe lange nicht begriffen, welch unendliche Traurigkeit dann in ihr aufstieg. Mathilde fühlte sich ausgeschlossen. Ihre Geschichte interessierte niemanden."

Erst nach vielen Jahren kommt diese Geschichte ans Licht. Es ist Silvester 1989. Gerade ist die Mauer gefallen. Im Fernsehen knallen die deutschen Feuerwerke. "Mit Steinen und Pferdeäpfeln haben sie sie vertrieben", sagt Mathilde plötzlich mitten in den Feierlichkeiten zu ihrer Enkelin. Die erkennt ihre raue Stimme kaum wieder. Zitternd zeigt die alte Frau ihr einen Stapel Fotos, der viele Jahre in einem Schuhkarton auf dem Schrank gelegen hat.

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Die Bilder, aufgenommen in Colmar 1919, dokumentieren die erste Vertreibungswelle der Deutschen aus dem Elsass. Sie zeigen Familien, die mit Koffern und ein paar Habseligkeiten unter dem Arm auf der Straße stehen. Schaulustige Jungen stehen am Rand, einige spucken auf die Menschen, bevor sie auf Planwagen über den Rhein geschickt werden. Jahrzehntelang haben sie friedlich zusammengelebt, sich unter Bismarcks Regie sogar ein bisschen Autonomie für ihre Region erkämpft. Doch jetzt sind die französischen Befreier im Land, und das Elsass entledigt sich seiner Deutschen, als seien sie aussätzig.

Mathilde, damals 17, steht irgendwo daneben und duckt sich. Die in der Pfalz geborene Tochter einer Belgierin und eines Deutschen, die seit 13 Jahren in Colmar lebt, hat Angst, ebenfalls ausgewiesen zu werden. Eine Feigheit, die sich die über 80-Jährige nicht verzeiht. Nie zuvor hat sie von dieser erniedrigenden Szene des Nachkriegswinters gesprochen. Nun klagt sie zum ersten Mal an. Und Pascale Hugues verleiht ihr eine Stimme. Sie bricht damit nicht nur das Schweigen, das viele Jahre wie ein Stein auf ihrer Familie lag, sondern versteht zum ersten Mal auch, warum Marthe sich gegenüber ihrer schwierigen Freundin stets zurückgenommen hat. "Als ich die verborgene Lebensgeschichte Mathildes entdeckte, wurde mir klar, dass Marthe die einzige Konstante ihres Lebens war, das Verbindungsstück, das die beiden Teile vor und nach 1918 zusammenhielt." Sie begibt sich damit auch auf eine historische Spurensuche. Jahrzehntelang hat sich niemand in Frankreich für das Schicksal der deutschstämmigen Elsässer interessiert. Die Deutschen als Opfer? Undenkbar.

Der Hass auf die "Boches" hält noch heute an

Vier Jahre Nazidiktatur im Zweiten Weltkrieg schüren einen Hass auf die "Boches", der zum Teil bis heute anhält. "Das deutsche Erbe, im Elsass ohnehin schon tabu, wurde nach 1945 zum nationalsozialistischen Erbe", schreibt sie an einer Stelle. Im Gegensatz zu den vertriebenen Ostdeutschen gebe es für die aus dem Elsass nach 1919 vertriebenen Deutschen keine Lobby, keine Verbände, kein Denkmal. Doch noch etwas anderes treibt sie an, über dieses bislang kaum bekannte Kapitel der Geschichte zu schreiben. Es hat etwas mit ihrem eigenen deutschen Erbe zu tun und ihrem gespaltenen Verhältnis dazu.

Sie sitzt in ihrem Lieblingscafé. Kleine wackelige Bistrotische, Holzstühle, die Kaffeemaschine dröhnt im Hintergrund. Ein typisch fran zösisches Ambiente, könnte man sagen, das zu der lebhaften und offenen Französin passt. Doch das Café befindet sich nicht in Straßburg oder Paris, sondern in Berlin, im Stadtteil Schöneberg. Um die Ecke wohnt sie. Ausgerechnet hier, in dem Land, mit dem sie lange Zeit "nichts am Hut haben" wollte.

Als Teenager, erinnert sie sich, fand sie die Deutschen einfach nur langweilig. Mit tiefer Abneigung betrachtete sie die Horden an deutschen Reisebussen, die täglich in ihrer Heimatstadt Straßburg einfielen und diese arroganten, aber immer etwas plump wirkenden Touristen ausspuckten. Komische Wesen, die sich mit Shorts und Wanderschuhen ausgerüstet hatten, nur um den Vorplatz des Straßburger Münsters zu überqueren. Sie stand mit ihrer ablehnenden Haltung nicht allein da. Auf Familienausflügen in den Schwarzwald spottete ihr Vater über die fehlende Leichtigkeit der Deutschen: "Hier stehen sogar die Tannen stramm."

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Pascale Hugues scheut sich nicht, in ihrem Buch die ganze Palette an Ressentiments noch einmal zu zitieren. "Es gehörte im Elsass zum guten Ton, die Deutschen zu verachten", sagt sie ganz offen. Warum, das lässt sich in Geschichtsbüchern nachlesen: Die Bewohner des geschundenen Grenzlandes zwischen Rhein und Vogesen mussten im Lauf von 74 Jahren viermal ungefragt die Nationalität wechseln.

In diesem Nationalitätenchaos mit seinen absurden und oft demütigenden Folgen wachsen Marthe und Mathilde auf. Auseinanderbringen können sie die "Kameradle", wie sie sich nennen, jedoch nicht. Als die Franzosen 1919 das Elsass nach 47 Jahren "befreien", jubelt das Land zwar, doch ein Großteil der Bevölkerung spricht kein Französisch mehr.

Marthe, die problemlos als Französin anerkannt wird, aber nur Elsässisch kann, muss die Sprache wieder mühsam lernen. Mathilde, die von ihrer belgischen Mutter perfekt Französisch gelernt hat, darf dagegen nicht mehr zur Schule gehen. "Bei uns keine Boches", teilt ihr eines Morgens die Direktorin mit. Ihre ehemaligen Mitschüler verspotten sie auf der Straße. Eine Zeit lang verlässt sie kaum noch das Haus. Nur Marthe besucht sie jeden Tag. Monatelang erwartet Mathildes Familie die Abschiebung. Ihr Vater, Karl Georg Goerke, ein angesehener Kaufmann, verliert sein Geschäft. Er und viele andere der über 100 000 "Altdeutschen" schreiben Bittbriefe an die Behörden, in denen sie ihre Frankreichtreue darlegen. Jahrzehnte später sitzt Urenkelin Pascale heulend in einem Archiv in Colmar, als sie diese unterwürfi gen Briefe liest, aus denen die nackte Angst spricht.

Deutsch? Französisch? Zerissen!

Später gelingt es der Familie, ihre deutsche Herkunft zu kaschieren. Das Gefühl, nicht erwünscht zu sein, bleibt. "Bloß nicht auffallen, eine mustergültige nationale Gesinnung an den Tag legen" wird zu Mathildes Lebensmotto. Am 14. Juli, dem Nationalfeiertag, schwenkt sie zwar stets ihr Papierfähnchen, doch ihre Enkelin merkt ihr an, wie schlecht gelaunt sie dabei ist. Dennoch verbindet die Bewohner des Grenzgebiets etwas, ob sie nun Deutsche oder immer schon Elsässer waren, man könnte es ein Gefühl der Minderwertigkeit nennen. In ihrem eigenen Land gelten sie nur noch als "verkleidete Franzosen".

"Dieses Hin und Her zwischen zwei Ländern ist ein Riesentrauma im Unterbewusstsein der Elsässer", sagt die Autorin in fast akzentfreiem Deutsch. Bis heute gebe es diese Angst, als zu deutschfreundlich und damit als Verräter zu gelten. "Wir müssen deshalb ständig beweisen, dass wir Franzosen sind." Wie tief das auch noch in ihr verwurzelt ist, sei ihr erst neulich wieder klar geworden, erzählt sie, als sie ein Taxifahrer in Berlin fragte, ob sie Deutsche sei, und sie etwas zu heftig darauf antwortete: "Aber nein, ich bin Französin!" Hinterher habe sie nur den Kopf über sich schütteln können.

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Seit fast 20 Jahren lebt sie in Berlin. Kurz vor der Wende verlässt sie London, wo sie zuvor sieben Jahre gewohnt hat, um als Korrespondentin für die Tageszeitung "Libération" in Deutschland zu arbeiten. Ihr Chefredakteur ist erleichtert, dass sich jemand aufopfert, zu den Boches zu gehen -"Ja, so hat er es wirklich formuliert", sagt sie lachend.

Für viele in der Generation ihrer Eltern seien die Deutschen im besten Fall langweilig, im schlimmsten beunruhigend gewesen. Doch als sie in Berlin ankommt, fühlt sie sich dort überhaupt nicht fremd. Die alten Paläste erinnern sie an die herrschaftlichen Gebäude in Straßburg, die dort von denselben preußischen Archi tekten errichtet wurden. Mehr noch: Sie heiratet einen Deutschen, den Filmemacher Thomas Kufus, bekommt mit ihm zwei Söhne, inzwischen zwölf und neun Jahre alt, und bleibt. Ihre Großmutter Mathilde freut sich. Die Enkelin bleibt kritisch. In ihrer seit vielen Jahren erscheinenden Kolumne im "Tagesspiegel" kann man das nachlesen. Witzige und scharfsinnige Texte, in denen sie deutsche, aber auch immer wieder französische Sitten und Befi ndlichkeiten unter die Lupe nimmt.

Vier Jahre hat Pascale Hugues an "Marthe und Mathilde" gearbeitet. Verblichene Schnörkelschrift in Tagebüchern und Briefen entziffert, bis ihr die Augen weh taten. In alten Zeitungen und Archiven gestöbert. Und vor allem in ihrem Gedächtnis ge graben. Vieles habe sie schon gewusst, sagt sie. Resultat zahlreicher Tischgespräche im Haus ihrer Großmutter Marthe. "Erzähl doch mal!", damit begannen und endeten regelmäßig die opulenten elsässischen Mahlzeiten bei ihr. Die Handlung ihres Buchs folgt diesem Erinnerungsstrom, ist eher assoziativ und sprunghaft als chronologisch.

Die Erinnerung ist nicht ohne Lücken

Viele Fragen bleiben offen. Die Erinnerung ist wie ein Filter, vieles fällt unten durch. Dass die Erzählerin das nicht verschweigt, ist ihr hoch anzurechnen. Sie hat sich mit diesem Buch auch etwas von der Seele geschrieben. Als Mathilde stirbt, scheint sie ihre "gewaltige Geschichte" mit ins Grab zu nehmen. "Ich bin die Letzte, die all das erzählen konnte", sagt Pascale Hugues. Sie hat das Gefühl, dass ihre Großmutter erst jetzt ihre Ruhe gefunden hat. Auch sie selbst holt damit etwas Versäumtes nach. Erst beim Schreiben begreift sie, dass die Wutausbrüche dieser Frau, die sie als Kind so befremdeten, nur die Nachwehen ihrer alten Angst waren, ausgegrenzt, gedemütigt, vertrieben zu werden.

Am Ende besucht sie noch einmal ihr Grab, das unter einem Baum auf einem Berg in den Vogesen liegt. Und stellt das erste Mal fest, dass man von dort oben bis nach Deutschland blicken kann. Es ist, als hätte sich die alte Dame zuletzt doch noch mit diesem schwierigen Erbe versöhnt. Und sie selbst? "Ich liebe Berlin", antwortet sie, ohne zu zögern. Vor anderthalb Jahren hat sie endlich die Unterlagen für eine doppelte Staatsbürgerschaft angefordert. Sie kann dann Französin und Deutsche sein. Irgendwann einmal, vielleicht . . .

Buchtipp: Pascale Hugues: "Marthe und Mathilde: Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland", Rowohlt, 288 Seiten, 19,90 Euro

Text: Ariane Heimbach Fotos: Nelly Rau-Häring

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