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Wann hatte das Schweigen begonnen?

Reglindis Rauca ist die Enkelin des SS-Hauptscharführers Helmut Rauca, einem Massenmörder. Totgeschwiegen in der eigenen Familie. Mit ihrem Roman hat sie das Tabu gebrochen.

Sie geht durch ihre Heimatstadt wie ein Gast. Es ist ein Donnerstagnachmittag im August, über Plauen im Vogtland, einer kleinen Stadt mit Fachwerkfassa¬den, strahlt die Spätsommersonne, die Menschen sitzen mit vollen Einkaufstaschen in den Straßencafés. Reglindis Rauca, 41, besucht die Johanniskirche, die sie liebt, den Bach, dessen Rauschen klingt wie ein lange nicht gehörtes Lied, sie bestellt sich in einem Biergarten Roulade mit Kartoffelklößen, freut sich über den Geschmack der vogtländischen Küche wie ein Kind, fühlt sich jetzt zu Hause angekommen und ist es doch nicht. Zu Hause sein hieße, Vater und Mutter in die Arme schließen zu können. Ihre Tür werden ihre Eltern aber nicht öffnen, das haben sie ihrer Tochter in einem Brief geschrieben. Vier Zeilen, mit Schreibmaschine. In einer von ihnen heißt es: "Solange Du stolz auf dieses Buch bist, brauchst Du Dich nicht mehr blicken zu lassen."

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Dieses Buch. "Vuchelbeerbaamland", vogtländisch für Vogelbeerbaumland, steht auf dem Cover. Es geht auch um Plauen, um die Provinz, um eine Region, mit der die Menschen hier sehr verwachsen sind, vor allem aber geht es um eine Familie im Osten Deutschlands, die verstummt ist vor Scham und Entsetzen. Es ist die Familie der Autorin. Im Roman nennt sich Reglindis Rauca selbst Marie. Sie beschreibt sich als ein Mädchen mit roten Haaren, klein, schmächtig, rebellisch, anders als die anderen Kinder um sie herum. Sie lebt mit ihren Geschwistern, ihrer Mutter, einer Hausfrau, ihrem Vater, einem Wissenschaftler, in einem Jugendstilhaus. Eine bürgerliche Fassade, hinter die sich die Familie vor dem Draußen, dem realen sozialistischen Leben, flüchten kann: "Beim Abendessen verkündet Mutter feierlich: ‚Kinder, heute Abend ist Kino im großen Salon'... Hat jeder ein Glas eiskalte Himbeerlimonade? Mutter eilt in die Küche, plündert die geheimnisvolle Vorratskammer und kommt, etwas langsamer, mit einer großen gläsernen Schale voll Käsegebäck zurück. Käsegebäck aus dem Westen! Das duftet. Das knackt so schön zwischen den Zähnen. Rrr-n-knack. Knack."

Was sich die Familie an diesem Abend auf der Leinwand anschaut, sind Dias, die mit der Post gekommen sind. "Mutter spricht voller stolz: ‚Es sind Bilder von weit her. Seid aufmerksam, Kinder, hier könnt ihr was lernen, das haben andere Leut nicht.'" Der Projektor schickt sie auf die Leinwand, eins nach dem anderen, Fotos eines Mannes in heller Windjacke und Bundhose, der mal vor Elchen, Motels oder Wasserfällen steht. Schnappschüsse, die den Großvater zeigen, der in Kanada lebt.

Der Massenmörder hat sich seine Opfer persönlich ausgesucht

Im Roman heißt er Hartmut Albert. Sein richtiger Name ist Rauca. Helmut Rauca. SS-Hauptscharführer Rauca, bekennender und überzeugter Nazi, führendes Mitglied eines Rollkommandos, dass von August bis Oktober 1941 die gesamte jüdische Bevölkerung der litauischen Landgemeinden ermordete. Gestapo-Beauftragter für jüdische Angelegenheiten im Ghetto Kaunas, Litauen, verantwortlich für den Tod von 11584 Menschen, darunter über 4200 Kinder. Es heißt, er habe vor den Erschießungen auf einem Hügel des Ghettos gestanden und sich die Opfer persönlich ausgesucht.

"Als ich zum ersten Mal diese unglaublichen Zahlen gehört habe, hat der Boden unter mir geschwankt. Ich bin auf die Toilette gerannt und habe mich übergeben", erinnert sich Reglindis Rauca. Das war vor fünf Jahren. Bis dahin, sagt sie, habe sie nur gemutmaßt, dass da etwas mit der SS gewesen sein musste, etwas Größeres, Schwerwiegendes, denn sonst wäre Helmut Rauca ja nicht an die BRD ausgeliefert worden. 1983 kam es zu einer Anklage, aber nicht zu einer Verurteilung, da Rauca ein Jahr später, noch in Untersuchungshaft, verstarb. Es hatte Berichte in westdeutschen Medien gegeben, die man vermutlich auch in der DDR empfangen konnte. Am Plauener Abendbrottisch erzählte man jedoch eine eigene Geschichte: "Meine Eltern haben nie etwas Genaueres verraten. Sie sagten nur: ‚Wenn euch jemand fragt, sagt, nach der Auslieferung ist die Hauptanklage wieder fallen gelassen worden.' Punkt. Mehr war nicht rauszukriegen. Da war eine Wand, dicker als die Berliner Mauer."

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Irgendwann hört sie auf zu drängen, sie ist 15, ein junges Mädchen, beschäftigt mit der Zukunft, die gerade erst beginnt und die sie weit wegtragen soll, weg aus Plauen, raus aus dem Haus der Eltern. Sie will Schauspielerin werden, weiß aber nicht, wie, lernt erst einmal Krankenpflegerin, schafft 1989 die Aufnahme an die Schauspielschule Ernst Busch in Berlin, spielt an vielen deutschen Bühnen, zieht nach Düsseldorf, arbeitet am dortigen Schauspielhaus. Als die Engagements nachlassen, besinnt sich Reglindis Rauca auf ihr Talent zum Schreiben und verdient ihr Geld als Werbetexterin.

2003, inzwischen 36 Jahre alt, stößt sie im Internet auf den Namen ihres Großvaters. "Auf einer Party hatte mir jemand erzählt, er hätte mal seinen Namen gegoogelt und wäre ganz überrascht gewesen von den vielen Treffern. Da bin ich neugierig geworden", erzählt sie. Als sie ihren eigenen Namen in die Suchmaschine eingibt, erscheint gleich als einer der obersten Treffer der Name ihres Großvaters, Helmut Rauca. Er taucht auf einer Internetseite eines kanadischen Verlages auf, der damals dort ein Buch des Journalisten Sol Littman über die Anklage und Auslieferung von Rauca vorstellte, mit dem Titel "War Criminal on Trial: Rauca of Kaunas". In der Beschreibung wurde auch die Zahl genannt: 11584 Opfer.

"Ich war zuerst unglaublich geschockt, später aber auch erleichtert. Endlich wusste ich, was mit meiner Familie los ist. Da war immer so ein Druck spürbar. Als hätte die ganze Zeit ein Schatten über allem gelegen", sagt Reglindis Rauca.

Das Leben mit der Schuld setzt sich immer weiter fort

Das Entsetzen, die Scham, das Leben mit der Schuld der Eltern und Großeltern und der deutschen Geschichte, setzen sich fort von Generation zu Generation, in unzähligen deutschen Familien. Hört es je auf? Hätte Reglindis Rauca Kinder, dann müsste sie ihnen irgendwann erklären, warum ihre Eltern, die Großeltern ihrer Kinder, mit ihr gebrochen haben. Dann müsste sie die Worte finden.

Hätten ihre Eltern diese Worte finden können und müssen? Was haben sie vor 1982, vor der Auslieferung Helmut Raucas, gewusst? Wann hatte das Schweigen begonnen? Schon bei der Großmutter von Reglindis Rauca, die nicht mit ihren beiden Söhnen nach Kanada auswanderte und 1956 die Scheidung einreichte? Was hat sie ihren Söhnen erzählt? Und war es dem Vater von Reglindis Rauca überhaupt je möglich, den Verbrechen seines Vaters offen ins Gesicht zu sehen? In der DDR, einer Gesellschaft, in der es offiziell keine Aufarbeitung der Mittäterschaften im Dritten Reich gab und geben musste? Die Täter lebten schließlich im Westen. In der DDR gab es nur Opfer, hier hatte niemand Schuld.

Das sind Fragen, auf die Reglindis Rauca keine Antworten hat. Fragen, die sie noch heute gern ihren Eltern stellen würde. Jetzt, bei ihrem ersten Besuch nach der Veröffentlichung des Buches, übernachtet sie zum ersten Mal nicht zu Hause, sondern in einer Plauener Pension. Und es wird vielleicht nicht das letzte Mal sein. Die Autorin, klein und zart, mit heller, fast durchscheinender Haut und roten Haaren, wirkt aufgeregt. Ihre Hände begleiten ihre Sätze. Sie bereue nichts, sagt sie. Nicht das Buch und nicht den Bruch. "Ich mache meinem Vater keine Vorwürfe. Es muss schlimm für ihn sein. Aber mich betrifft es eben auch. Seitdem ich das Buch geschrieben habe, geht es mir besser. Ich bin ruhiger geworden."

Nachdem sie im Internet ihren Namen gesucht hatte und zufällig auf die Verbrechen ihres Großvaters auf einer kanadischen Verlagsseite gestoßen war, bestellte Reglindis Rauca das Buch von Sol Littman, begann es ins Deutsche zu übersetzen und schrieb ihm einen Brief. Der jüdische Autor und Direktor des kanadischen Simon-Wiesenthal-Zentrums antwortete, ein regelmäßiger Austausch von E-Mails begann, 2005 kam Littman sogar nach Düsseldorf zu Besuch. Von ihm bekam Reglindis Rauca endlich Antworten auf ihre Fragen. Die Recherche der Hintergründe, das Wissen um die Schicksale hinter den Zahlen, das Reden über das Unaussprechliche, sagt sie, hätten es ihr es erleichtert, damit umzugehen, Enkelin eines Massenmörders zu sein.

Ein Roman, in dem das Grauen zwischen den Zeilen schwebt

Die Seiten in ihrem Computer füllten sich in den nächsten Jahren wie von selbst. Es gab bereits einige biografische Notizen, vor allem über ein rothaariges Mädchen, dass von den Mitschülern gehänselt und von der Mutter mit seinen Nöten nicht ernst genommen wird. Das sich isoliert fühlt, zerrissen zwischen den Welten, dem christlich-antikommunistischen Zuhause und der staatlichen Ideologie, die es in der Schule verordnet bekommt.

Warum ist es ein Roman geworden und keine Autobiografie? Warum hat die Autorin kein Pseudonym benutzt? Vieles habe sich beim Schreiben erst ergeben, erklärt Reglindis Rauca, die Figuren, Dialoge, Szenen. "Das Buch ist schon stark autobiografisch, aber einiges habe ich zugespitzt und verfremdet. Es gibt im Roman zum Beispiel ein viertes Kind. Wir waren aber nur drei Kinder. Ich wollte, dass meiner Familie klar wird, dass sie nicht eins zu eins gemeint sind. Ich wollte sie ja nicht bloßstellen. Ein Pseudonym wäre aber auch keine Lösung für mich gewesen. Dann hätte das Verstecken ja nicht aufgehört", sagt sie beinahe atemlos. Es klingt, als hielte sie ein schon oft geführtes Plädoyer, als müsse sie sich immer wieder vor sich selbst verteidigen.

Das Buch findet einen Verlag, bekommt den Förderpreis für Literatur der Stadt Düsseldorf, sie kündigt es vor der Veröffentlichung bei den Eltern an, schickt es mit einem Brief von Düsseldorf nach Plauen. Sie hoffe, sagt sie, ihre Mutter habe ihrem Vater dann nicht nur einige Stellen daraus vorgelesen, sondern er habe das Buch selbst in der Hand gehabt. Reglindis Rauca hat einen Roman geschrieben, in dem das Grauen zwischen den Zeilen schwebt. Es ist aber auch ein poetischer Text geworden, gespickt mit Zitaten aus Gedichten von Christian Morgenstern. Zeilen, die sie als Kind gemeinsam mit dem Vater rezitierte. Sie sind eine Liebeserklärung.

Text: Antje Liebsch<br/><br/>Fotos: Stephan Floss

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