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Mutmacher Märchen

Gerade in Krisenzeiten sind Mutmacher wie Märchen gefragt - und damit Menschen wie Susanne Coy, die sich zu Märchenerzählern ausbilden lassen. Und anderen so helfen.

Das Klassenzimmer der Hamburger Förderschule ist märchenhaft hergerichtet: Auf einem großen orientalischen Teppich bilden Sitzkissen und Kerzen einen großen Kreis – umgeben von einem schummrigen Licht sowie von drei einsturzgefährdeten Wänden aus großen verzierten Stofftüchern. An einem Ende des Teppichs sitzt Susanne Coy. Sie holt tief Luft, setzt dann mit den altbekannten Worten der Grimmschen Märchen an: "Es war einmal..."

Mit ihrem ganzen Körper, den Händen, der Mimik, der Sprache verkörpert die 64-Jährige die Volksgeschichte, zieht die 13-jährigen Schüler immer wieder in ihren Bann – ohne Buch, ohne Verkleidung. Mit ihren Zuhörern hat sich Susanne Coy ein anspruchsvolles Publikum ausgesucht: Sie stecken mitten in der Pubertät und haben Schwierigkeiten sich zu konzentrieren. Doch auch das weiß sie für sich zu gewinnen: Coy ist eine ausgebildete Märchenerzählerin.

Immer mehr Menschen möchten Märchen

Das Märchenerzählen ist wieder im Trend. Es gibt immer mehr, die sich ausbilden lassen, um Menschen jeder Altersstufe die alten Volksweisheiten näher zu bringen. Möglich ist das zum Beispiel bei der Europäischen Märchengesellschaft in Rheine, bei der auch Susanne Coy ihre Ausbildung absolviert hat: "Wir bieten verschiedene Kurse an, in denen Märchenkunde und Erzähltraining auf dem Programm stehen", erklärt Sabine Lutkat, die Vize-Präsidentin. Sogar eine freiwillige Abschlussprüfung kann man dort ablegen.

Auch wenn man in der Regel nicht vom Märchenerzählen allein leben kann, bestimmt auch hier die Nachfrage das Angebot. Heißt: Immer mehr Menschen möchten Märchen hören. Susanne Coy hatte beispielsweise in der Vorweihnachtszeit letzten Jahres so viele Aufträge wie noch nie. Der Grund für das neu entdeckte Bedürfnis nach Märchen ist wohl die Moral von der Geschicht: Das Gute wird belohnt, das Böse nicht. Ein Bild, das von der Wirklichkeit konterkariert wird, gerade in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise, in denen Bankmanager trotz Misswirtschaft Abfindungen in Millionenhöhe kassieren. "In Märchen steckt viel Weisheit", sagt die Erzählerin. Und fügt hinzu: "Märchen machen Mut." Schließlich geht es immer um eine Notlage, den Weg, um das Problem zu lösen und ein glückliches Ende. Viele Erwachsene sehen darin einen Teil ihres eigenen Lebens – mit einem entscheidenden Unterschied: Im Märchen ist alles einfach, läuft immer nach denselben Regeln. Viele scheinen sich nach dieser Einfachheit zu sehnen.

Es sind vor allem Frauen über 40, die sich dem Märchenerzählen zuwenden. Die Gründe dafür sind vielfältig: die Suche nach einer neuen Herausforderung während der Rente, der Wunsch seinen Enkeln zu erzählen. "Oft stopfen gerade Frauen mit dem Erzählen das Loch, das sie empfinden, wenn ihre Kinder aus dem Haus sind. Sie suchen nach etwas Eigenem, das ihnen Spaß macht", sagt Hanna Dose, Leiterin des Deutschen Wesersagenmuseums in Bad Oeynhausen. Ein positiver Nebeneffekt: "Viele durchleben eine phantastische Persönlichkeitsentwicklung. Durch die Schulung erhalten Sprache und Ausstrahlung einen ganz neuen Schub", weiß Dose.

Laufend kommen neue Geschichten dazu

Trifft man Susanne Coy, weiß man, was die Museumsleiterin meint. Ihre Aussprache ist sehr klar, ihre Sätze sind flüssig ohne lästige ähs und öhms. Vor sechs Jahren begann sie ihre Ausbildung, vor drei Jahren legte sie ihre Prüfung bei der Europäischen Märchengesellschaft ab. Inzwischen wird die 64-Jährige zwei bis drei Mal im Monat gebucht.

Über 40 Geschichten hat sie in ihrem Repertoire, aus Österreich, Skandinavien, dem Balkan und Russland. Und von den Gebrüder Grimm. Laufend kommen neue Geschichten dazu. "Ein guter Märchenerzähler lernt die Geschichten inwendig", sagt Susanne Coy. Der Erzähler müsse Bilder vor Augen haben, so lebendig wie in einem Film. Nur dann könne er sie seinen Zuhörern vermitteln.

Bis sie einen Text perfekt beherrscht, muss Susanne Coy ihn 40 bis 50 Mal laut vorlesen. Sie tippt ihn ab und schreibt ihn mehrmals um, sodass er Form annimmt - und damit ein Stück ihrer Persönlichkeit. Ihre Stimme trainiert die Erzählerin, indem sie regelmäßig Klang-Yoga macht und die Tonleiter des Chakras rauf und runter singt. "Das klingt ziemlich esoterisch, hilft aber", sagt Susanne Coy.

Leben kann sie von ihren Einnahmen als Märchenerzählerin nicht. Das Erzählen ist für Coy eher Berufung als Beruf, denn die Volksweisheiten begleiten sie schon ihr Leben lang: "Je länger ich das jetzt mache, desto mehr wird mir bewusst, dass mich Märchen schon seit der Kindheit beschäftigen." Für ihre Märchenstunden verlangt Coy nur ein geringeres Honorar, um auch Vorstellungen in Institutionen wie die Hamburger Förderschule zu ermöglichen. Der Mutmacher Märchen ist schließlich für alle da.

Hier können Sie sich zur Märchenerzählerin ausbilden lassen

Sie möchten sich auch zur Märchenerzählerin ausbilden lassen? Augen auf bei der Seminarwahl, denn unter den Ausbildungsstätten tummeln sich viele schwarze Schafe. Wir nennen Ihnen ausgewählte Adressen, die eine seriöse Ausbildung anbieten.

Europäische Märchengesellschaft in Rheine

Die Europäische Märchengesellschaft (EMG) gilt als eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Institution zum Thema Märchen im deutschsprachigen Raum. Sie bringt Wissenschaftler und Praktiker zusammen, veranstaltet mehrmals im Jahr Kongresse. Sie bietet außerdem zahlreiche Seminare zur Märchenkunde und Erzählförderung für Anfänger und Fortgeschrittene an. Diese dauern in der Regel ein verlängertes Wochenende und kosten mehrere Hundert Euro. Hat man zehn Kurse absolviert und mindestens 30 Märchen im Repertoire, kann man freiwillig eine Prüfung ablegen und wird in die Liste der von der EMG empfohlenen Märchenerzähler aufgenommen. Hier finden Sie weitere Informationen.

Figurentheater-Kolleg in Bochum

Das Figurentheater-Kolleg bietet eine berufsbegleitende Fortbildung zum Märchenerzählen an. 2010 wird sie zwei Mal bei zwei unterschiedlichen Kursleitern angeboten. Die Fortbildung findet über das Jahr verteilt an verschiedenen Wochenenden statt und kostet insgesamt 1105 Euro. Je nach Kursleiter variieren die Schwerpunkte. Abschließend wird ein öffentlicher Erzählabend organisiert, bei dem die Teilnehmer ein Zertifikat erhalten. Hier finden Sie weitere Informationen.

Stuttgarter Märchenkreis

Der Stuttgarter Märchenkreis bietet eine Grundausbildung in Märchenerzählen an. An zehn Abenden wird man in Märchenkunde und Sprechtraining geschult. Am Abschlussabend wird vor mitgebrachtem Publikum die Echtsituation eines Auftritts simuliert. Die Absolventen der verschiedenen Jahrgänge treffen sich einmal im Monat, um sich auszutauschen. Hier finden Sie weitere Informationen.

Schweizerische Märchengesellschaft in Ersingen

Die Schweizerische Märchengesellschaft (SMG) bietet zum Thema Märchen, Mythen und Sagen verschiedene Veranstaltungen wie Kurse, Seminare, Workshops und Symposien an. Sie verwalten außerdem eine Liste empfehlenswerter Märchenerzähler. Hier finden Sie weitere Informationen.

Deutsches Märchen- und Wesersagenmuseum in Bad Oeynhausen

Das Deutsche Märchen- und Wesersagenmuseum veranstaltet am ersten Freitag jeden Monats eine Märchenerzählstunde. Ein Erzählkreis trifft sich regelmäßig alle 14 Tage am Dienstagabend (außerhalb der Schulferien in Nordrhein-Westfalen. Dort kann man sich mit anderen Erzählern austauschen und hat ein Forum, um neu eingeübte Märchen einem kleinen fachkundlichen Publikum vorzustellen. Dieser kostenlose Erzählkreis ist eine gute Begleitung zu Seminaren und Kursen.

Märchenforum Hamburg

Das Märchenforum Hamburg bietet regelmäßige Treffen an, bei denen Märchenerzähler im kleineren Kreis ihre neuen Stücke erzählen können. Außerdem sind auch Seminare im Programm enthalten sowie größere Veranstaltungen wie das 2. Märchenfest im Museum für Völkerkunde Hamburg am 30. und 31. Januar 2010. Vorsitzende ist unsere Märchenerzählerin Susanne Coy. Hier finden Sie weitere Informationen.

Fränkischer Sagen- und Märchenkreis

Der Fränkische Märchen- und Sagenkreis bietet laufend Erzählabende zu bestimmten Themen an, außerdem Fortbildungen und Seminare für Pädagogen und andere Interessierte mit Vorkenntnissen. Der Märchenkreis gilt als einer der aktivsten in Deutschland. Hier finden Sie weitere Informationen.

Text: Roxana Wellbrock Foto: Cinetext; Brigitte Dorrinck

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