Anzeige

Hunger auf das Leben

Die belgische Schriftstellerin Amélie Nothomb hat ständig Hunger. Als sie erfuhr, dass die Menschen in Vanuatu von allem gesättigt sind, schrieb sie ihre "Biographie des Hungers".

Das hätten sich die Bewohner des fernen Inselstaats Vanuatu bestimmt nicht träumen lassen: Ihre Heimat im Südpazifik schreibt Literaturgeschichte. Und das verdanken sie der Bestseller-Autorin Amélie Nothomb. Früher hieß die Inselgruppe Neue Hebriden und stand unter französisch-englischer Gemeinschaftsherrschaft. Amélie Nothomb stieß durch Zufall auf sie: Ein Bewohner Vanuatus ließ der Autorin 2003 einen von ihm herausgebrachten Katalog mit ozeanischer Kunst zukommen. Sie kannte den Mann nicht und wunderte sich über seine Widmung: "Für Amélie Nothomb. Auch wenn ich weiß, dass Ihnen das ganz egal ist."

image

Nothomb blätterte in dem Katalog und fand ihn in der Tat langweilig. Doch ihr Interesse für Vanuatu war geweckt, sie forschte weiter und fand heraus, dass es in dem Inselstaat, der überwiegend von Landwirtschaft, Fischerei und Tourismus lebt, niemals Hunger gab. "Vanuatu faszinierte mich. Eben weil dort Überfluss herrscht, fehlt den Menschen der Appetit, das Streben. Vanuatu ist sozusagen der Gegenpol zu mir, zu meinem Hunger", sagt die Autorin. Sie hat dem Archipel in ihrem neuen Buch gleich mehrere Seiten gewidmet.

Schon der Titel, "Biographie des Hungers", ist seltsam, überraschend. Fast anmaßend. Schließlich ist Amélie Nothomb, 1967 im japanischen Kobe geboren, Tochter eines belgischen Diplomaten, im Wohlstand aufgewachsen. Hunger? Weiß sie, wovon sie schreibt? "Ich kenne viele Arten von Hunger: Schokoladen-Hunger, Schreib-Hunger, Lebens-Hunger. Hunger ist das Beste, was es gibt." Häufig schießt die Autorin solche Sätze ab, die knallen wie Sektkorken. Die provozieren, kokett sind, anstrengend, unheimlich. Kann man sie glauben? In diesem Fall schon. "Ich habe als Kind tatsächlich ständig Hunger gehabt. Meine Mutter sagte einmal: ,Das ist ja eine richtige Krankheit!' Ich habe mich dann gefragt, ob ich überhaupt normal bin. Ich brauchte mehrere Jahre, um zu begreifen, dass es Menschen gibt, die mehr Hunger haben als andere. Dieser Hunger hat niemals aufgehört, ich lebe sehr gut damit."

Amélie Nothomb hat mehr als 60 Bücher geschrieben

Amélie Nothomb sitzt sehr aufrecht auf ihrem Stuhl, während sie erzählt, wie sie auf die Idee kam, aus ihrem ewig knurrenden Magen ein Buch zu machen. Ihr Büro, ein winziger Raum in ihrem Pariser Verlag Albin Michel, ist dunkel. Hinter dem Schreibtisch stapeln sich hunderte von Leserbriefen, die die Autorin alle selbst beantwortet - handschriftlich. Sie trägt einen langen schwarzen Rock und darüber einen schwarzen Mantel, den sie die ganze Zeit nicht auszieht, als sei sie auf dem Sprung. Dunkle lange Haare, die Gesichtsfarbe fast weiß. Vor uns auf dem Schreibtisch liegt ihr neues Buch. Auf dem Cover das Gesicht einer Frau, ein schönes Gesicht, der Blick drängend, ein bisschen beunruhigend. Ist sie das? "Natürlich", sagt Nothomb knapp. Ein kurzes Lächeln, nur ein paar Sekunden, nervös. Auf anderen Fotos trägt sie einen großen schwarzen Hut, die Lippen sind knallrot geschminkt. Ihre Fans verehren sie wie eine Ikone.

17 Bücher hat die 41-Jährige, die in Paris und Belgien lebt, bereits veröffentlicht, knapp 50 fertig geschriebene liegen in der Schublade. Mit ihrem Debüt, "Die Reinheit des Mörders", landete sie 1992 prompt einen Bestseller. Ein Roman über einen zynischen krebskranken Schriftsteller und eine gescheite Journalistin, gespickt mit vielen Dialogen - typisches Merkmal von Nothombs Büchern. Manche ihrer Texte sind stark autobiografisch, so wie auch das neue Buch über ihre Kindheit und Jugend.

Hunger ist, wenn man so will, die Hauptfigur in diesem Lebensbericht. Hunger, der nicht aus der Not geboren ist, nicht mit Mangel zu tun hat, sondern mit Verlangen, Gier, Wünschen, Wollen. Hunger als Existenzform, als Lebensgefühl. Der sehr gut zu Nothombs Rhythmus passt. Wenn sie von sich erzählt, legt sie ein erstaunliches Tempo vor, Jahre rasen im Zeitraffer dahin. Mitunter hat man das Gefühl, in einem Film zu sitzen, voller starker, intensiver Bilder ohne Weichzeichner. Das Extreme, das Exzessive ist der rote Faden in ihrem Leben, sie kann nicht anders.

Eine Kindheit wie ein Roadmovie

Ihr neues Buch ist keine gewöhnliche Autobiografie, sondern wirkt stellenweise wie ein Drehbuch, mit schnellen Schnitten, vielen Dialogen. Amélie Nothomb, die Diplomatentochter. Aufgewachsen in Japan, China, USA, Bangladesch, Burma, Belgien. Sechs Länder, sechs Leben. Die sie alle auf rund 200 Seiten kondensiert: herzzerreißend, überspannt, todtraurig, euphorisch, schonungslos. Der "Überhunger", wie sie es nennt, begleitet Amélie schon während ihrer Kindheit in Japan. "Ich habe Unmengen von Süßigkeiten gegessen - das ist bis heute so. Natürlich mag ich auch belgische Pralinen." Gesunde Ernährung interessiere sie nicht, sagt sie.

Eine weitere Kindheitssünde ist der Champagner. Ihre Eltern gaben mondäne Empfänge, irgendwann gingen die Gäste, übrig blieben die halb gefüllten Champagnerflöten. Perlende Perfektion, fand Amélie und trank, gemeinsam mit ihrer vier Jahre älteren Schwester Juliette. Und ihre Eltern? "Ich hatte totale Freiheit. Solange ich exzellente Schulnoten nach Hause brachte." Das tat das blitzgescheite kleine Monster. Bestnoten für Pralinen und Schaumwein.

Als Amélie acht war, zog die Familie 1975 vom maoistischen China nach New York. Ein größeres Kontrastprogramm lässt sich kaum denken, Amélies Lebenshunger bekam neue Nahrung. Jahre vergingen wie im Rausch, Konzerte, Musicals, Restaurantbesuche, Amélie amüsiert sich. Und weiß gleichzeitig, dass ihr Glück nur ein begrenztes Haltbarkeitsdatum hat. Das Schicksal der Diplomatenkinder. Eine Kindheit als Roadmovie. Vielleicht hat ihr Lebenshunger auch mit ihrer frühen Erfahrung zu tun, dass nichts von Dauer ist und der nächste Abschied immer schon bevorsteht - ein Leben im mentalen Transit. Amélie Nothomb sagt heute, dass sie eigentlich keine Wurzeln hat. Das Extreme, das Exzessive ist der rote Faden in ihrem Leben

Als sie elf ist, zieht die Familie nach Bangladesch, und Amélie begreift, was Hunger wirklich ist, lebensbedrohlich und schrecklich: "Diese unfassbar mageren Körper ( . . . ) waren für mich wie ein Schlag in den Magen", schreibt sie. Zwei Jahre später erkrankt sie an Magersucht: Zum ersten Mal will sie den Hunger besiegen, Hungerkünstlerin sein - ein Protest gegen den eigenen Körper, der Brüste und Rundungen bekommen hatte, die sie nicht mag. Zweieinhalb Jahre isst sie kaum etwas. Und ersetzt ihren Hunger nach Essbarem durch Buchstaben-Hunger. Ein dickes Wörterbuch studiert sie von A bis Z, Eintrag für Eintrag. Amélie Nothomb, die Besessene, die keine halben Sachen macht, nicht mal bei der Lektüre einer Enzyklopädie.

Jahre habe es gedauert, bis ihre Ernährung wieder ins Lot gekommen sei, sagt die Autorin. "Heute esse ich, wenn ich Hunger habe, gern auch bei Freunden. Ich selbst bin die schlechteste Köchin der Welt." Die Autorin lacht, und dieses Mal klingt es fröhlich. Hat sie mit ihren Eltern über ihre Krankheit gesprochen? "Schwierig", sagt Nothomb. Könnte es sein, dass die Diplomatentochter in einer Familie von Verdrängern aufgewachsen ist? "Vielleicht. Zumindest gibt es bei uns die Tendenz, Probleme zu verharmlosen, zu leugnen."

Amélie Nothomb schreibt immer frühmorgens - begleitet von starkem Tee

Sie selbst sucht in ihren Büchern Halt, flüchtet sich in die immer neuen Schleifen ihrer Fantasie. Bereits mit 17 war sie vom Schreib-Hunger getrieben, produziert seitdem ein Buch nach dem anderen. Ihre "Biographie des Hungers" hat sie, wie alle ihre Texte, in den frühen Morgenstunden geschrieben, neben sich eine Kanne mit einem halben Liter starkem kenianischem Tee. Zuvor hat sie nicht mehr als drei oder vier Stunden geschlafen, mehr, meint die Autorin, schaffe sie nicht. Wach-Hunger. Der zu der ängstlichen Anspannung passt, die sie, wie sie sagt, fast immer begleitet.

Die "Biographie des Hungers" ist ein sehr persönliches Buch. Man könnte meinen, Nothomb wolle hier den Schleier, ihre mysteriöse Aura, ein Stück weit lüften. Oder? Die Autorin wehrt ab: "Es interessiert mich nicht, ob ich mysteriös wirke oder nicht. Mich interessiert höchstens, mich selbst besser zu verstehen." Hat sie jemals an Psychoanalyse gedacht? "Ich möchte das nicht machen. Das wäre eine Menge Arbeit, und ich käme von der Couch überhaupt nicht mehr runter. Und wer weiß, ob ich dann noch den Antrieb hätte zu schreiben."

Amélie Nothomb steht auf. Sie müsse jetzt dringend los, sagt sie. Noch einmal ihr kurzes, nervöses Lächeln. Und schon ist sie aus der Tür heraus. Es ist zwölf Uhr mittags. Essenszeit.

image

Amélie Nothomb: "Biographie des Hungers" (Ü: Brigitte Große, 208 S., 18,90 Euro, Diogenes)

Text: Franziska Wolffheim Fotos: iStockphoto, Getty Images

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel