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A wie Agnès und assoziativ

Agnès Varda macht die heitersten und melancholischsten Filme. Und zeigt, um was es in der Kunst wirklich geht: um die Zuneigung zu den Menschen und den Dingen.

Bevor Agnès Varda einen Film dreht, schlägt sie gern im Lexikon nach. Alphabetisch nähert sie sich ihren Themen, assoziativ – und wer von ihr und ihrem Lebenswerk erzählen möchte, beginnt am besten mit dem Buchstaben A. A wie Arlette. So nannten ihre Eltern das 1928 in Brüssel geborene, jedoch in Arles gezeugte Mädchen. Weil Arlette aber immer schon ihren eigenen Kopf hatte, ging sie, kaum volljährig geworden, auf das Rathaus im südfranzösischen Hafenstädtchen Sète, wohin die Familie während des Zweiten Weltkriegs emigriert war und wo sie jahrelang auf einem Segelboot lebte. Sie beantragte eine Namensänderung und nannte sich Agnès. Agnès Varda.

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Fortan sollte ihre Lebenslinie an der Schnittstelle zwischen Land und Wasser verlaufen. Als Flüchtlingskind am Strand von Sète, als Kunstgeschichtsstudentin und Filmemacherin am linken Flussufer der Seine, als Reisende am Strand von Los Angeles, als Mutter, Ehefrau und Witwe am Strand von Noirmoutier. "Wenn man Leute öffnen würde, fände man Landschaften, in mir findet man Strände", sagt Agnès Varda. Gestrandetes und Strandgut, Muscheln, Steine und Menschen.

In ihrem neuen autobiografischen Film "Die Strände der Agnès" stellt sie ihre Kamera an den Strand und verteilt große Spiegel im Sand. Darin spiegeln sich Kinder und Weggefährten, alte Filmschnipsel und aktuelle Interviews, Reflexionen und Kommentare auf surrealistische Weise. Sie vervielfältigen sich in Wasser und Himmel und lösen sich im Alles und Nichts auf. Dann breitet die Filmemacherin ihre Arme aus und geht rückwärts, neugierig wie ein Mädchen, ihrer Vergangenheit entgegen.

Schon 1954, in einer Zeit, als ihr Beruf noch männlich war, wurde Agnès Varda "der bedeutendste weibliche Filmregisseur der Welt" genannt. In ihrem spektakulären ersten Film "La Pointe Courte" erzählt sie vom Fischerleben im gleichnamigen südfranzösischen Fischerdorf und einem Liebespaar, das sich trennen will, aber nicht kann.

Agnès Varda - Filmemacherin aus Herzenslust

Damit begründete sie den Autorenfilm der "Nouvelle Vague", einer Stilrichtung, auf die sich Filmgrößen wie François Truffaut und Jean-Luc Godard beriefen. 53 Jahre später sucht Agnès Varda für ihre Filmautobiografie die Menschen aus "La Pointe Courte" noch einmal auf. Sie kommt als Filmemacherin und Freundin. Was für ein Wiedersehen: Vor der Kamera fällt man sich unzählige Male in die Arme. Weil man sich gern hat. Denen, die damals Kinder waren und die heute als Fischer mit wettergegerbten, schrundigen Gesichtern zur See fahren, hilft Agnès Varda in einer Szene spontan beim Netzeflicken. Das hatte sie gelernt, als sie nach dem Abitur mit einem Fotoapparat im Rucksack ausgebüxt war und in Korsika mit Seeleuten gearbeitet hatte.

Nach ihrer Rückkehr, Ende der 40er Jahre, studierte sie Kunstgeschichte und machte sich als Fotografin einen Namen. Bevor ihre Bilder sich in Bewegung setzten und die französischen Kritiker jubelten: "Zum ersten Mal spricht eine Frau zu uns – welch ein Ereignis!" Und Agnès Varda? "Ich pfeife darauf, berühmt zu sein", sagte sie, "aber ich möchte mir die Möglichkeit schaffen, etwas auszusagen, worüber sich die Leute freuen und nachdenken." Sie selbst kann sich über die kleinsten Dinge freuen: In ihrem Film "Die Sammler und die Sammlerin" (2000) stapft die kleine kugelige Frau mit Gummistiefeln über einen Acker irgendwo mitten in Frankreich – und entdeckt eine Kartoffel in Herzform. "Darf ich die haben?", fragt sie die Kartoffelsammler, die nach der Ernte auflesen, was übrig bleibt. Mit der einen Hand hält sie das Kartoffelherz, mit der anderen filmt sie. Das steht in keinem Drehbuch, aber jeder kann es jetzt sehen: wie schön so eine Kartoffel ist!

Agnès Varda hebt auf, was ihr unter die Finger kommt, staunt und filmt aus Herzenslust. Selbst ihre Frisur, dieser gefärbte Pagenschnitt aus den 70ern, der rund wie eine Wollmütze auf ihrem Kopf sitzt, ist weniger Markenzeichen als Experimentierfeld: Manchmal lässt sie die Farbe herauswachsen, bis der grau-weiße Scheitel sichtbar wird. Weil es sie interessiert, wie das Älterwerden aussieht.

Wie ein Lorbeerkranz nämlich, nur nicht grün, sondern rot. Ihrem schwerkranken Mann, dem Filmregisseur Jacques Demy, strich sie kurz vor seinem Tod mit der Kamera über die faltigen Arme und Hände, während er versonnen den Sand durch die Finger rieseln ließ. "Das Glück ist ein Spiegelspiel und nur geteilt vollkommen", lautet ein schöner Satz von ihr. Sie ist ein glücklicher Mensch, weil sie liebt, was sie beobachtet, teilt und mitteilt.

Dokumentation und Fiktion: Agnès Varda macht beides

Das Banale und das Surreale, das Kleinbürgerliche, den Schmutz und das Exotische, Dokumentation und Fiktion, Mutter sein und Filme drehen: Agnès wollte immer alles gleichzeitig, und es gelang ihr auch. Als sie wegen ihres kleinen Sohnes nicht reisen, sondern so viel wie möglich von ihrem Pariser Haus aus arbeiten wollte, drehte sie 1975 einfach einen Film über die Läden und Handwerksbetriebe ihrer Straße: die "Daguerréotypes" nannte sie die poetischen Bilder und Interviews vom Bäcker und seiner Frau, vom Klempner und vom Mann am Zeitungskiosk.

Dazu brauchte sie nichts weiter als eine Kamera und eine Kabeltrommel mit einem langen Kabel, das sie morgens zu Hause in die Steckdose steckte, abrollte und abends wieder zusammenrollte. Bis heute lebt sie mit ihren Katzen in der Rue Daguerre im 14. Arrondissement und arbeitet in ihrer 1954 gegründeten Produktionsfirma Ciné- Tamaris. Hier kann sie nach ihren eigenen Vorstellungen tun und lassen, was sie will, und vom Exposé bis zur Kopie alles selbst machen.

Das Glück ist nur geteilt vollkommen.

Sogar einen eigenen Erzählstil hat Agnès Varda erfunden: die "Cinécriture", das "Film-Schreiben". Er beginnt bei der Filmidee, der sie eine Struktur, aber kein Drehbuch gibt. Sie umkreist ihr Thema, kommt vom Hundertsten ins Tausendste zum Eigentlichen und mischt ein vielschichtiges Puzzle aus Innen-, Neben- und Außenperspektiven, um am Ende überrascht zu sehen, was daraus geworden ist – ein heiterer sozial-politischer Film, der nicht anklagt, oder ein feministisch-künstlerischer. Engagiert war Agnès Varda immer: 1972 ging sie mit dickem Bauch auf die Straße, um für die Legalisierung der Abtreibung zu demonstrieren. Ihr Roadmovie "Vogelfrei", in dem die französische Schauspielerin Sandrine Bonnaire als Obdachlose im Winter durch den kalten Midi zieht, erhielt nicht nur den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig, sondern entfachte auch eine Debatte zur Obdachlosigkeit.

Der Rhythmus ihrer Filme folgt dem Schaukeln des Segelboots auf den Wellen aus Vardas Kindheit. Luftig und frei, auch wenn hin und wieder jemand ins Wasser fällt. Intuitiv lässt sie sich treiben, spielerisch, von einer Entdeckung zur anderen – und erzählt von Menschen am Rande unserer Wegwerfgesellschaft. Mit ihrer Digitalkamera folgt sie dem Obdachlosen, der sich niederbeugt und aufklaubt, folgt den pickenden Vögeln und den teerverseuchten, die an der Küste aufgesammelt werden, weil sie nicht mehr fliegen können. Mit Blei in den Füßen, weil die Welt so schrecklich ist, wie sie einmal sagte. Und zugleich mit Flügeln, wie eine sorglose Möwe, die den Mast eines Segels umkreist.

Text: Marianne Mösle<br/><br/>Fotos: Getty Images

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