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"Krankwerden ist ein Verlust, aber auch ein Auftrag"

"Krankwerden ist ein Verlust, aber auch ein Auftrag"
© Webb/Corbis
Besser, schneller, effektiver - nach diesem Motto funktionieren wir im Alltag und haushalten mit unserer Gesundheit. Dabei hat jeder Mensch innere Heilkräfte, die er nutzen sollte, meint der Medizinethiker Giovanni Maio. Ein Gespräch über Performance-Druck und Glaubenssätze.

BRIGITTE WOMAN: Herr Maio, Sie kritisieren in Ihrem neuen Buch "Geschäftsmodell Gesundheit", dass die moderne Medizin uns vorgaukelt, ein Leben ohne Leid und Schmerz sei möglich. Was ist das Ungehörige daran?

Giovanni Maio: Niemand von uns möchte leiden oder Schmerzen empfinden. Das Problem ist der verinnerlichte Machbarkeitsglaube. Wir denken, wir brauchen nur die richtige Methode oder den richtigen Arzt und können so das Leid grundsätzlich aus der Welt schaffen. Damit wird uns suggeriert, dass wir Schmerzfreiheit herstellen können. Das ist ein Mythos. Die Illusion eines leidlosen Lebens macht den modernen Menschen unglücklich: Er geht davon aus, wenn er alles richtig macht, gibt es keinen Schmerz. Deshalb sind wir auch so intolerant demjenigen gegenüber, dem es schlecht geht. Wir erwarten stillschweigend von ihm, dass er sein Leid zu managen lernt.

Warum ist diese Illusion so mächtig geworden?

Wir haben eine ökonomische Sichtweise auf das Leben übernommen. Täglich wird uns vorgemacht, dass wir Unternehmer unserer selbst sein sollten. Nach dem Motto: Wenn ich gut in mich investiere, ernte ich Erfolg. Einziges Ziel ist heute das Gewinnen eines Wettbewerbs. Dabei vergessen wir, wir selbst zu sein. Jeder Mensch ist mehr Schicksal als Machsal: Wir sind ins Leben hineingeworfen worden. Mit den Eltern, die wir uns nicht ausgesucht haben. Mit den Fähigkeiten, die uns mitgegeben wurden. Wir aber glauben, wir könnten uns die Welt neu schaffen.

Giovanni Maio
wurde 1964 in San Fele, Italien, geboren. Er studierte in Freiburg Medizin und Philosophie. Zunächst praktizierte er als Arzt an einer Klinik, später begann er zu schreiben und zu unterrichten. Heute ist Maio Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Im Juni erscheint sein neues Buch: Geschäftsmodell Gesundheit. Wie der Markt die Heilkunst abschafft (192 S., 8,99 Euro, Suhrkamp)
© dpa/Oliver Lieber

In welchen Momenten müsste ich das Schicksal respektieren?

In denen ich lerne zu realisieren, dass ich nie bei null anfangen kann. Ich habe Stärken und auch Schwächen, die ich als Teil meiner Selbst anerkennen muss. Die wollen wir aber wegcoachen. Weil der moderne Mensch glaubt, er müsste sich mit nichts mehr anfreunden. Er ist wie ein Kunde, der durch den Supermarkt streift: Das hätte ich gern für mein Leben und das. Aber es ist ein Irrtum, dass ich mir alles aussuchen kann.

Warum hadern wir so heftig mit unserer Nichtperfektion?

Wir glauben, sie hindere uns daran, leistungsfähig, interessant und somit wertvoll zu erscheinen. Wir orientieren uns an marktgängigen Standards und kaschieren genau das, was uns ausmacht. Aber aus welchem Grund? Wir haben nur dieses eine Ich. Wir müssten viel mehr darauf Acht geben, welche einzigartigen Fähigkeiten in uns stecken. Jeder Mensch ist unverwechselbar, einzigartig und dadurch faszinierend. Stattdessen beugen wir uns einer Normierung. Es muss um neue Qualitäten gehen wie Kreativität, Sensibilität, Einfühlungsvermögen, die sich aber schlecht messen lassen.

Ein tröstlicher Gedanke: dass wir auch im Diffusen Großes schaffen können. Sie kritisieren ja, dass heutige Mediziner dazu angehalten sind, den Patienten wie einen Automaten zu behandeln, der einfach wieder funktionstüchtig gemacht werden muss.

Wir sind darauf gedrillt, permanent leistungsfähig zu sein. Daher erscheint jedes Symptom, das diesem Performancedruck entgegensteht, als eine Katastrophe, als das vermeintliche Ende des Glücks. Weil sich Patienten in ihrem Kranksein zu Unrecht wertlos fühlen, bräuchten wir Ärzte, die uns vermitteln können: Auch als versehrter Mensch bin ich wertvoll. Eine Medizin, die dem Patienten nicht sagt: Auch in einem veränderten Zustand steckt neues Leben, halte ich für unmenschlich.

Sie wünschen sich wieder mehr Gespür in der Medizin, dass wir wegkommen weg vom rein technisch und wirtschaftlich effektiven Handwerk.

Wir werden einem kranken Menschen nicht dadurch gerecht, dass wir ihn verobjektivieren und nur an seinem Körper hantieren: Röntgenbild, Laborbefund, Eingriff. Möglicherwiese lässt sich ein Tumor sogar verkleinern. Aber nur in einer mechanistischen Denkweise zu verharren ist zu einseitig. Das Krankwerden stürzt den Menschen in eine existenzielle Krise. Die muss unbedingt mitbehandelt werden. Weil jeder Mensch innere Heilkräfte hat, die ein einfühlsamer Arzt mobilisieren kann.

Das klingt ein bisschen nach Wunderheiler.

Ich sage nicht: Wenn der Patient sich gut fühlt, wird der Tumor kleiner. Wir sprechen nicht von Magie. Es geht darum, dass der Mensch sich nicht restlos der Krankheit ausgeliefert fühlen muss, wenn er seine inneren Ressourcen erkennt. Es gibt chronisch Kranke, die durch ihre innere Einstellung ein volles Leben führen können.

Es muss einen Menschen doch enorme Überwindung kosten, um Krankheit so gelassen zu betrachten.

Krankwerden ist ein Verlust, aber auch ein Auftrag. Sie fordert mich dazu auf, mich neu zu orientieren. Bis gestern glaubte ich, ich hätte noch Jahrzehnte Zeit. Jetzt weiß ich, mein Radius ist deutlich kleiner. Aber damit ist nicht jegliches Glück verwirkt. Vielleicht kann ich keine langen Wanderungen mehr machen. Aber ich kann in den Himmel schauen, fühlen, lesen. Mit meinen Kindern, Enkeln, Freunden sprechen. Wenn ich mich selbst nur noch als Schwundstufe betrachte, finde ich nicht zum Reichtum des Lebens in der Krankheit.

Trotzdem steht ein Arzt, der uns dazu anleitet, eine Krankheit zu überwinden oder auch mit ihr zu leben, nicht hoch im Kurs. Stattdessen soll er sie schnell "wegmachen". Schließlich lassen wir uns lieber die Burnout-Spritze geben, als nach dem Sinn einer Krise zu fragen.

Auch viele Patienten haben ein mechanistisches Menschenbild verinnerlicht und glauben, man könnte die Trauer über den Verlust eines Menschen durch Tod oder Scheidung einfach wegtherapieren. Dass solche Zustände Zeit brauchen, um bewältigt zu werden, erscheint uns antiquiert. Hinzu kommt, dass unser System den Arzt dazu anhält, den Patienten nur zu vermessen. Wenn er auf Gespräch und Verständnis setzt, sagt die Krankenkasse: nichts geleistet.

Wird es da denn noch einmal einen gesellschaftlichen Umschwung geben? Dass wir wieder auf Ärzte mit Gespür treffen und wir selbst uns von dieser enormen Erwartung verabschieden?

Ich begegne vielen jungen Ärzten - die wollen helfen, die sind gar nicht so wirtschaftlich motiviert. Die sind furchtbar irritiert, wenn sie abgemahnt werden: "Du hast etwas außer der Reihe getan, das kriegen wir nicht bezahlt. Du hast nicht schnell genug gearbeitet, du hast zu viel geredet." Aber es gibt Widerstand. Es rumort im System. Schon jetzt sehen wir, dass Krankenhäuser, die auf menschlichen Kontakt Wert legen, viel mehr Zulauf bekommen.

Dann kämen wir auch von der Ideologie weg: Ich gebe dir eine Pille, und du wirst glücklich?

Die Pille kann nie glücklich machen. Erst die Beziehung zwischen Arzt und Patient wird die Wirksamkeit der Medikamente ausmachen. Ich muss ja auch an das Medikament glauben. Das kann ich aber erst, wenn ich weiß, da war einer, der hat sich für mich interessiert, der versteht meine Not. Deswegen ist die Situation in der Medizin ja auch so dramatisch. Für das Personal dort ist es frustrierend und sinnentleerend, von den Möglichkeiten des Helfens so abgeschnitten zu sein. Der bettlägerige Mensch braucht ein Gegenüber, das ihm sagt: "Du bist nicht allein." Deshalb dürfen wir es auch nicht hinnehmen, dass Menschen einsam sterben.

Sie zitieren in Ihrem Buch den Neurologen Viktor Frankl, der herausfand, den Menschen "zerstört nicht das Leiden, sondern das sinnlose Leiden". Was ist damit gemeint?

Frankl, über viele Jahre ein KZ-Gefangener, schrieb genau in dieser Zeit: "Mein Leben ist nicht sinnlos." Obwohl er damit rechnen musste, bald ermordet zu werden. Er besaß eine innere Freiheit. Solange wir leben, ist diese immer möglich. Auch wenn wir im Gefängnis sitzen, im Gefängnis unserer Krankheit. Wir müssen das Licht erkennen, das in uns ist, solange wir sind. Im 18. Jahrhundert sprach man von der Seelenkraft des Menschen. Daran glaube ich nach wie vor.

Was ist der Mensch jenseits seiner Leistungsfähigkeit?

Das Faszinierende am Menschen ist seine Lebendigkeit. Die Tatsache, dass er nicht festgestellt werden kann, weil jeder Mensch grundsätzlich unbestimmbar ist. Dadurch ist jede Begegnung von Menschen immer etwas vollkommen Neues, eine Überraschung. Auch der Mensch, mit dem man 20 Jahre verheiratet ist, kann eine Überraschung sein, wenn wir nur offen genug für ihn bleiben.

Haben wir das aus den Augen verloren, die Offenheit für Überraschung und Lebendigkeit?

Ja, weil wir in der leistungsorientierten Welt das Selbst auf äußerliche Qualitätsmerkmale festzurren. Das beraubt uns des inneren Wesens, unserer Aura. Wer die eigene Existenz nur von der Produktivität abhängig macht, programmiert sein Unglücklichsein vor. Denn er muss ja davon ausgehen, dass diese Quelle eines Tages versiegen wird.

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Das versetzt uns in Panik?

Ja. Wir sind überzeugt, dass das Leben sich in dem erschöpft, was wir daraus machen. Wir waren nie so unfrei wie heute. Weil die soziale Erwartung uns einsperrt. Sie sagt: Du bist nur dann wertvoll, wenn du erfolgreich bist. Wenn nicht, bist du selbst daran schuld. Doch wir verkennen völlig, dass die Tatsache der eigenen Existenz das größte Geschenk ist, das wir in unseren Händen halten. Man muss sich nur einmal ausmalen, was wäre, wenn es mich nicht gäbe: Dann wäre nichts. Das ist eine unerträgliche Vorstellung. Doch wenn wir sie nicht auch mitdenken, werden wir den Kern des Lebens nicht erfassen.

Die Quelle, aus der wir bis ans Lebensende schöpfen können, wäre demnach das Sein und die Menschen, die wir dort hineinlassen?

Wir marschieren als Einzelkämpfer durchs Leben und erschrecken furchtbar, wenn wir an einen Punkt kommen, an dem wir bedürftig sind. Ohne die Einbindung des Eigenen in eine Form von Gemeinschaft wird man eine innere Leere nicht verhindern können. Wir finden nur über das Du zum Ich. Die Verbindung zu anderen macht das Leben so kostbar. Das, was ich bin, ist das Resultat meiner Begegnungen.

Aber die Sehnsucht nach dem anderen, die ist doch sehr groß.

Die Sehnsucht ist da. Aber wir haben verlernt, uns einer Sache ganz hinzugeben. Wie Passanten, die sich alles anschauen, sich aber nicht festlegen. Weil Entscheidungen andere Optionen wegfallen lassen. Ein Beispiel: Immer mehr Frauen lassen sich Eizellen einfrieren. Das ist deshalb so ein großer Markt, weil Paare heute in einem Zustand der Vorläufigkeit leben: Jeder wartet, ob sich nicht noch ein Besserer findet.

Dahinter steckt ja auch die fixe Idee, dass der Beste das Leben glorreich macht. Ein Superlativ, der die Grauzonen des Lebens aufwerten soll.

Genau. Deshalb haben Partnervermittlungen so einen Zulauf - ja nichts dem Zufall überlassen, nur nach den eigenen Kriterien selektieren. Aber den Besten gibt es nicht. Er existiert nicht. Was dabei auf der Strecke bleibt: Ich werde nicht erfahren, was es bedeutet, mich einem Menschen zu öffnen. Der Modus der Vorläufigkeit verhindert Intensität. Das Tragische daran ist: Wir haben wenig Zeit. Das Leben ist sehr kurz. Wir müssen Entscheidungen fällen, sonst leben wir am Leben vorbei.

Der Psychiater Arthur Barsky hat Ende der 80er festgestellt: Je gesünder eine Gesellschaft, desto kränker fühlen sich die Menschen. In der Tat rennen wir wegen Bagatell-Erkrankungen zum Facharzt oder bilden uns Krankheiten ein, wie etwa eine Laktose-Intoleranz. Warum ist das so?

Wir sind dem Glaubenssatz verfallen, der auf vielen Hochglanzprospekten steht: Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Wir sind überzeugt, das Leben ist nur vollkommen, wenn alles geht. Das ist ein gebrochenes Verhältnis zu den eigenen Grenzen: Wir wollen ewig leben, den Tod ganz abschaffen. Wir nehmen unseren Körper als eine zu modellierende Masse wahr. Deswegen schauen wir so panisch auf mögliche Symptome, die es auszuschalten gilt. Der moderne Mensch hat zuweilen keine anderen Inhalte mehr als die Funktionsfähigkeit seines Körpers.

Gleichzeitig verbannen wir alles, was der Gesundheit schaden könnte. Das Glas Wein, die Zigarette, das genüssliche Mahl...

Man kann nur ein gutes Leben führen, wenn man die Balance hält. Zwischen der Sorge um mögliche Risiken und dem Zulassen des Lebens. Wir müssen uns mehr den Dingen öffnen, die dem Leben Tiefe und Würze bereiten. Da dürfen wir nie radikal werden. Das exzessive Sichkümmern um die Gesundheit verhindert Leben und am Ende auch die Gesundheit.

Dass wir uns ständig selbst optimieren, macht unglücklich, wie Sie sagen. Aber wann weiß ich, wann ich aufhören kann, mich zu verbessern? Schließlich begreifen wir uns ja als Wesen, die sich stets weiterentwickeln.

Ich finde das überhaupt nicht schwer. Es geht um die simple Frage: Wer willst du sein? Wir müssen uns nicht neu erfinden, sondern uns neu entdecken. Ohne Widerspruch von außen. Wir müssen unserer Identität viel mehr Raum lassen.

Interview: Katja Nele Bode BRIGITTE WOMAN 06/2014

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