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Good Vibrations fürs Leben

Musik ist Stimmungsmacher und Balsam für unsere Seele. Sie ist Erinnerungsanker, Beziehungskitt und Auslöser für Gänsehaut. Musik hat Macht. Und Heilkraft für unser Leben.

Der Abend ist grau und trist, es nieselt. Mein Tag war lang, das spüre ich, als ich endlich im Auto auf dem Weg nach Hause sitze. Ich schalte das Radio ein. "Hey Jude", singt Paul McCartney. Und plötzlich ist alles ganz anders: Ich bin wieder 14, habe lange Haare, die im Takt mitschwingen, bin unternehmungslustig und neugierig auf die Welt. Je länger die Ballade in meine Ohren und mein Gehirn dringt, desto lockerer werden meine Schultern. Mein Kopf fühlt sich frei an, der Alltag fällt von mir ab. Das Stück, das Julian Lennon nach der Scheidung seiner Eltern trösten sollte, tut auch mir gut. Eine siebenminütige Verjüngungskur, ein Song nur, doch meine Müdigkeit ist wie weggeblasen.

"Hey Jude" steht auf meiner persönlichen Hitliste ganz weit oben. Nicht unangefochten an der Spitze, aber schon auf einem der höheren Plätze. Die Beatles rufen Erinnerungen in mir wach: an jugendlichen Lebenshunger und Widerstand gegen elterliche Bevormundung, an hart erkämpfte Freiheit und erste abenteuerliche Begegnungen mit der Erwachsenenwelt, an schier unendliche Kraft und Energie.

Musik ist Heimat

Musik, die positive Erinnerungen weckt, tut immer gut – egal ob Beat oder Blues, Schlager, Klassik, Jazz oder Volkslieder, hat Professor David Aldridge von der Universität Witten/Herdecke festgestellt. In seinem internationalen Forschungsprojekt "My Top Ten" fragt er Menschen nach den wichtigsten Musikstücken ihres Lebens und den Geschichten, die damit verbunden sind. Fest steht schon jetzt: Musik, die uns in jungen Jahren begeistert hat, lässt uns unser Leben lang nicht mehr los. Sie ist und bleibt unsere musikalische Heimat, bei deren Klängen wir uns zu Hause und wohl fühlen.

Aber auch Musik, die gemeinsam mit anderen gehört wird, klingt lange in unserem Gedächtnis nach und erweckt schon nach den ersten Takten diese Erinnerung zu neuem Leben. Starke Gefühle inklusive. So bekommen viele bei den Fußballliedern der letzten Weltmeisterschaft noch heute weiche Knie. Oder wir geraten bei einem Rolling-Stones-Hit in ekstatische Verzückung wie beim Livekonzert. Ganz zu schweigen von den Paaren, die sogar nach der Silberhochzeit noch sehnsüchtig dahinschmelzen, wenn ihr Kennenlernsong im Radio ertönt. "Darling, they are playing our tune"- Phänomen nennen Musikwissenschaftler diese emotionale Kettenreaktion, die Nervenzellen im Frontalhirn aktiviert, wie beim Sex und nach einem guten Essen. Und da dieser Teil des Gehirns eng mit unserem limbischen System, das Hormone, unbewusste Reaktionen und Emotionen steuert, verbunden ist, gilt dabei: Je tiefer die Gefühle, desto stärker die Signale und desto mehr vom Glückshormon Dopamin schüttet das körpereigene Belohnungssystem aus. "Musik und Rhythmus", wusste schon Plato, "finden ihren Weg zu den geheimsten Plätzen der Seele.

Das Herz schlägt höher, in der Kehle sitzt ein Kloß, ein Schauer läuft wie auf Knopfdruck über den Rücken, die Augen werden feucht. Musik verzaubert. "Dream a little dream of me", auch einer meiner ganz privaten Top-Hits. Erinnerungen an einen warmen Junitag auf dem Land, ein rauschendes Fest, eröffnet mit einem entgegen allen Konventionen eng umschlungenen Hochzeitstanz statt des obligatorischen Walzers. Glück pur. The Mamas & The Papas gehen mir auch heute noch, Jahre später, unter die Haut.

Das Herz schlägt höher, in der Kehle sitzt ein Kloß, die Augen werden feucht.

Maurice Ravels "Bolero", Igor Strawinskys "Le Sacre du Printemps" und Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie gelten als klassische Gänsehaut-Musik. Aber: "Gefühlsmäßig stark aufwühlen können nur vertraute, mit der eigenen Biografie verbundene Stücke", sagt Dr. Oliver Grewe. An der Hochschule für Musik und Theater Hannover hat er zusammen mit Professor Eckart Altenmüller den Gänsehaut-Effekt von Musik untersucht. Sein Fazit: "Das perfekte Chill-Stück gibt es nicht. Jeder muss für sich selbst herausfinden, welche Songs Wohlfühlwirkung haben." Oder umgekehrt eher deprimieren und die Stimmung vermiesen.

Musik ist Gedächtnis

"Erinnerungslose" Musik wie fernöstliche Meditationsstücke, Gong- oder Panflötenklänge kann wunderbar entspannend wirken. Starke Emotionen und den Kloß in der Kehle ruft sie jedoch nicht hervor. Sie tut uns deshalb erst wirklich gut, wenn sie uns durch wiederholtes Hören vertrauter und mit angenehmen Gefühlen neu besetzt ist. Doch Töne mit der richtigen Erinnerungs-Frequenz bringen nicht nur physikalisch als Schallwellen unser Trommelfell zum Schwingen, sondern schlagen auch in unserem Gedächtnis die entsprechende Saite an, die unsere Seele berührt.

Je abwechslungsreicher eine Melodie, desto mehr Areale im Gehirn spricht sie an. 100 Millionen Nervenzellen verarbeiten allein im primären Hörzentrum, der ersten Verarbeitungsstation im Kopf, die elektrischen Impulse, die im Innenohr, in den 3500 Haarzellen der Schnecke, aus den Luftdruckschwankungen entstehen. Und jede einzelne Ton-Information hinterlässt in unserem Gehirn "Gedächtnisspuren", wie Professor Manfred Spitzer, Hirnforscher der Universität Ulm, sie nennt. Sie formen und verändern es, immer wieder, ein Leben lang – und nicht nur einen Teil von ihm, sondern, wie neue Studien gezeigt haben, das Organ als Ganzes. "Es gibt kein Musikzentrum", betont Spitzer. "Das gesamte Gehirn macht Musik." Kein Wunder also, dass unserer ganzer Körper zum Resonanzboden wird.

Rhythmus geht deshalb nicht nur ins Ohr, sondern auch in die Beine und in den Bauch. Er lässt den Fuß unbewusst wippen, die Finger auf den Tisch trommeln oder, wenn er schwungvoll genug ist, die Produktion der Sexualhormone in die Höhe schnellen. Musik ist, das haben Wissenschaftler längst durch zahlreiche Untersuchungen bewiesen, mehr als Balsam für die Seele. Musik ist Medizin, ein Therapeutikum mit ganzheitlicher Heilkraft in jedem Lebensalter.

Ob Beatles-Songs, Volkslied oder Bachs Matthäus- Passion – schnellere, stark akzentuierte Rhythmen, vorwiegend in Dur-Tonarten, harmonisch, aber oft mit Dissonanzen, sind ein wunderbar aktivierendes und stimulierendes Tonikum, das das sympathische Nervensystem beeinflusst, Atmung und Puls beschleunigt, den Blutdruck erhöht, Stress abbaut und das Immunsystem ankurbelt. Doch wer diese, wie Musikpsychologen sagen, ergotrope Musik im Übermaß oder in zu hoher Lautstärke hört, riskiert unangenehme Nebenwirkungen wie Verspannungen und Aggressionen, wenn die eigene "Schmerzgrenze" überschritten wird.

Musik ist Medizin

Dagegen kann ein Musikstück in langsamem Tempo, unterhalb der Frequenz des Herzschlages von 60 bis 70 Schlägen in der Minute, beruhigend und entspannend wirken. Blutdruck, Muskelspannung und der Spiegel der Stresshormone sinken, und der Körper schüttet vermehrt schmerzlindernde Endorphine aus. Ängste und Schmerzen klingen ab. Zahnärzte nutzen den Musik-Effekt inzwischen ebenso wie Geburtskliniken. Musik lindert, wie Studien gezeigt haben, zahlreiche Krankheiten – von Depressionen und Angststörungen über Burn-out-Symptome bis hin zu psychosomatischen Beschwerden und Tinnitus. Sie macht Darmspiegelungen erträglicher, Schlaganfallpatienten schneller wieder beweglich, und Demenzkranke sprechen auf Töne besser an als auf Worte.

Musik ist der innere Sandstrand.

In der anthroposophischen Medizin hat die Musiktherapie schon lange ihren Platz, um krank machende Disbalancen im Körper auszugleichen. Inzwischen setzt auch die Schulmedizin ergänzend und vorbeugend auf Töne und Schwingungen. "Musik kann zwar nicht allein heilen, aber sie kann unbegrenzt heilsam sein", sagt Professor Hans-Helmut Decker-Voigt, Direktor des Instituts für Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Mit dem Einlegen einer "Therapie- CD" ist es jedoch meist nicht getan. Standardisierte Klangmischungen für bestimmte Indikationen haben nur begrenzt Erfolg. Eine sicher wirkende Komposition gegen Schmerzen oder Bluthochdruck für alle Patienten gibt es nicht. Mozart hat nicht immer denselben Effekt. Musik ist etwas ganz Persönliches, Intimes. Professionelle Musiktherapie geht deshalb stets auf die Suche nach den individuellen durch Melodien, Dynamik, Klänge und Rhythmen geprägten Gedächtnisspuren. "Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem", schrieb schon Novalis. Das Heilmittel für ein Leiden klingt jedoch bei jedem von uns anders. Und auch wenn wir Missstimmungen und alltägliches Rumoren im Körper übertönen wollen, greift jeder von uns intuitiv etwas anderes aus seiner CD-Sammlung heraus.

Janis Joplin oder Vivaldi, "Me and Bobby McGee" oder der "Frühling" aus den "Vier Jahreszeiten", kraftvolle Stärke, die mich schon durch etliche schlechte Tage getragen hat, oder fröhlich-beschwingte Leichtigkeit, die auch abends die Sonne scheinen lässt – oft keine einfache Entscheidung. Doch ich muss nur in mich hineinhören. Spätestens beim ersten Ton weiß ich, ob ich die richtige Wahl getroffen habe, ob mein musikalisches Hausmittel mir das gibt, was ich gerade brauche.

Je öfter wir Musik bewusst als Ritual genießen, desto heilsamer wirkt sie.

"Musik kann niemals eine Tablette sein", sagt Hans- Helmut Decker-Voigt. "Wir müssen uns jedes Mal wieder neugierig fragen, was uns genau in diesem Augenblick gut tun würde. Nur so können wir uns an unseren inneren Sandstrand begeben." Flexibel und breit gefächert muss sie also sein, unsere musikalische Hausapotheke, individuell zusammengestellt und stets offen für neue Entdeckungen. Dann können wir je nach Stimmung und Beschwerden mal dies, mal jenes Stück auswählen, uns auf der Suche nach Wohlbefinden aber auch musikalisch über die mit Jugendreminiszenzen beladenen Klänge hinaus weiterentwickeln. Und statt uns nebenbei berieseln zu lassen, sollten wir achtsam und ganz Ohr sein. Frühstücksradio und Kaufhaus-Endloskonserven sind eher akustische Belästigung als wohltuende Töne. Je mehr Raum wir jedoch ausgewählter Musik in unserem Leben geben, je öfter wir sie bewusst als Ritual genießen, desto besser kann sie ihre Good Vibrations entfalten, und desto heilsamer wirkt sie.

Musik ist Lebenselixier

Noch wirkungsvoller ist es jedoch, selbst Musik zu machen oder den eigenen Stimmbändern Töne zu entlocken. Jeder zehnte Bundesbürger hat bereits die heilende, stimmungsaufhellende Kraft von Musik für sich entdeckt. Gospel- und Kirchenchöre, Gitarrenensembles, Blasorchester und Trommelgruppen haben regen Zulauf. Musik verbindet, schenkt Geborgenheit und Kontakte zu Gleichgesinnten. Zusammen mit anderen zu singen und zu musizieren macht Spaß, entspannt und steigert zudem Konzentrationsfähigkeit und Denkvermögen. Kinder, die ein Instrument spielen oder regelmäßig ein Lied anstimmen, sind intelligenter als sang- und klanglose Gleichaltrige. Und auch Erwachsene formen und trainieren dadurch noch ihr Gehirn.

Musik wirkt vitalisierend. Das beste Beispiel dafür sind "The Zimmers". Obwohl die 40 Mitglieder der englischen Rentnerband, Durchschnittsalter 78 Jahre und benannt nach einer Gehhilfe, nicht mehr alle Zähne im Mund haben, eroberten sie mit ihrer Version des Rockklassikers "My Generation" von The Who im Sturm die Charts. Davon profitiert nicht nur ein britisches Alten- Hilfswerk, dem die Erlöse zugute kommen, den frisch gebackenen Stars hat ihr musikalisches Engagement sichtlich neuen Schwung geschenkt.

Musik ist Lebenselixier und Stimmungsmacher. "Mit Musik können wir, geschickt eingesetzt, unsere eigenen Emotionen kreieren", sagt Dr. Oliver Grewe. Der Körper antwortet dann darauf. Eine fantastische Chance, uns selbst im Alltag Gutes zu tun. Also nur Mut: Wer – auch außerhalb der Badewanne – öfter mal aus voller Kehle ein Liedchen schmettert oder seinen Lieblingssong mitsingt, erhöht den "Chill-Effekt" ungemein.

Therapie nach Noten

Musiktherapie wird zum Beispiel bei Patienten mit Schmerzen, Herzleiden oder Angststörungen als begleitende Behandlung eingesetzt. Als künstlerisch-psychotherapeutisches Verfahren arbeitet sie mit zwei verschiedenen Methoden: Bei der rezeptiven Version spielt der Therapeut dem Patienten Töne, Klänge oder Musikstücke vor. Bei der aktiven Methode improvisiert der Patient selbst auf speziellen Instrumenten, die einen spontanen Ausdruck erlauben, und der Therapeut antwortet musikalisch darauf. Durch die Musik kommen bisher unbewusste Gefühle und Konflikte zutage, die dann in Gesprächen verarbeitet werden. Möglich ist sowohl eine Einzel- als auch eine Gruppentherapie. Ob sich die Krankenkasse an den Kosten für Behandlungen, die außerhalb einer Klinik in freier Praxis stattfinden, beteiligt (je nach Dauer 50 bis 120 Euro), ist noch nicht geregelt. Einzelne Kassen machen jedoch Ausnahmen. Daneben bieten Musik- und Volkshochschulen, Erwachsenenbildungsstätten und freie Therapeuten auch Workshops zur "musiktherapeutischen Selbsterfahrung" an, die immer selbst bezahlt werden müssen. Mehr Informationen: Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie e.V., Libauer Str. 17, 10245 Berlin, Tel. 030/29 49 24 93, www.musiktherapie.de. Anschriften von Therapeuten: Berufsverband der Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten in Deutschland e.V. (BVM), Postfach 11 46, 86951 Schongau, Tel. 088 61/24 07 25.

Zum Weiterlesen und Hören

  • Hans-Helmut Decker-Voigt: "Aus der Seele gespielt", 368 S.,
  • 12 Euro, Goldmann 2000 sowie "Mit Musik ins Leben", 200 S.,
  • 16,90 Euro, Reinhardt 2007
  • Manfred Spitzer: "Musik im Kopf",
  • 468 S., 19,95 Euro, Schattauer 2006
  • Tom Reynolds: "I hate
  • myself and want to die. Die 52 deprimierendsten Songs aller
  • Zeiten", 272 S., 10,80 Euro, Schwarzkopf & Schwarzkopf
  • 2006
  • Ralph Spintge: "Musik als Medizin: Blutdruck erfolgreich
  • senken" (mit CD), 124 S., 19,95 Euro, Trias 2003

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