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Haben wir Hunger?

Wir sind satt. Und trotzdem allzeit bereit zu essen. Weil wir Appetit haben - auf Genuss und aufs Leben. Mit Hunger haben hat das eigentlich nichts zu tun.

Die Häuser sind aus Kuchen, statt Steinen liegt Käse herum. In den Bächen fließen Milch, Honig und Wein. Und alle Tiere hüpfen oder fliegen vorgegart und in mundgerechten Happen durch die Luft. Genießen ist die größte Tugend der Menschen, Arbeit ist eine Sünde. So war das im Schlaraffenland. Ich sitze mit Simone beim Italiener und erzähle von diesem Märchen. Simone findet es nicht lustig. Sie verbietet sich heute das Essen und hat nur Wasser bestellt. Ich finde einen Restaurantbesuch mit einer Hungrigen nicht lustig. "Wie wäre es mit einem kleinen Salat?", frage ich. "Nein", sagt Simone streng. Ich bestelle Wein und Spaghetti. Dazu bringt der Ober eine Schale mit Brot. Simones Blick flackert. Ich kaue einsam meine Nudeln. "Isst du das nicht?", fragt Simone und starrt das Brot an. Ich schüttele den Kopf. Schnell schlingt sie die Scheiben in sich hinein. Schlaraffenland ist anderswo. Es wird ein kurzer und in jeder Hinsicht magerer Abend. Und während ich später in meinem Bett schlafe, fällt Simone in ihrer Küche über den Kühlschrank her.

Hunger ist menschlich

Essen muss sein. Wenn in fernen Ländern Dürre und Politik zu Hungerkatastrophen führen, sind wir bestürzt. Wenn wir Warnungen vor der Verknappung von Nahrungsmitteln hören, sind wir beunruhigt. Wenn wir köstlich und hemmungslos schlemmen, machen wir uns Vorwürfe. Essen ist eine komplizierte Angelegenheit geworden. Wir zählen Kalorien und meiden bestimmte Fette. Wir wissen, welche Stoffe für welche Organe gut sind. Und die pure Lust auf ein Marmeladenbrot können wir inzwischen mit Erkenntnissen aus der Hirnforschung erklären. Schmeckt Marmelade dadurch besser? Oder können wir die Sehnsucht im Bauch besser kontrollieren, wenn wir wissen, wie der Kopf tickt? Und was sagt unser ursprünglicher Instinkt, das Hungergefühl, zu all dem Durcheinander rund ums Essen?

Hunger ist Notstand im Körper.

Der Magen ist (zu lange) leer, Luft und Magensäfte "verwirbeln", so entsteht Borborygmus, besser bekannt als Magenknurren. Wesentlich leiser macht sich ein Hormon auf den Weg, das Ghrelin. Es signalisiert nicht nur "Mahlzeit" an das Gehirn, es schärft auch unsere Wahrnehmung für Gerüche. Sie bestimmen zu 80 Prozent unsere Lust auf Essen, Geschmack ist nur zu 20 Prozent daran beteiligt. Unsere oberste Schaltzentrale wird aktiv. Das Gehirn denkt nicht an Sushi oder Salat, das Gehirn will Glucose, vor allem für sich selbst. Es prüft, ob genügend Energiereserven im Blut kreisen oder ob Nachschub nötig ist. Wenn der Mensch seinem Drang zu essen jedes Mal sofort nachgibt, verlernt das Gehirn, sich aus der körpereigenen Speisekammer zu bedienen. So wird der Hunger korrupt. Wenn alles lecker aussieht, entwickelt sich Appetit. Die Speichelproduktion erhöht sich, das Begehren kommt in den Kopf und mehr Insulin ins Blut. Die Lust will befriedigt werden.

Nagenden Hunger kennen wir in diesem Land nicht mehr.

Allzeit bereit sind wir trotzdem. Wir essen, weil Essenszeit ist. Weil man den Teller leer isst. Weil das Menü bezahlt ist. Weil die Schwiegermutter eingeladen hat.Wir essen, wenn wir mit Freunden zusammen sind, wenn wir fröhlich oder traurig sind. Eigentlich gibt es nur einen Grund, nicht zu essen: wenn man satt ist. Dass man satt ist, merkt man leider erst etwa 15 Minuten, nachdem der Magen es schon weiß.

Oft schlagen wir uns den Bauch voll, weil die Seele gefüttert werden will.

Seine Rezeptoren haben die Dehnung der Magenwände überprüft, der Dünndarm hat die Zusammensetzung der Nahrung registriert, und ein Eiweißstoff, das Leptin, schwimmt aus dem Fettgewebe ins Blut und informiert das Gehirn über die erfolgreiche Füllung der Energiespeicher. Schade, dass der Magen sich nicht für Kalorien interessiert. Eis, Pudding oder Hamburger verursachen mangels Volumen im Bauch ein geringeres Sättigungssignal als Gemüse oder Müsli. Auch Pizza und Pommes frites gaukeln dem Organismus vor, er brauche noch mehr "zwischen die Zähne". Das Signal "satt" hängt eng mit Dauer und Intensität des Kauens zusammen. Alles, was wir herunterschlingen, wird vom Bauch zunächst nicht für voll genommen. Ein Happen geht noch. Geht gar nicht, sagt die Waage am Morgen danach. Die Folge: Wir verkneifen uns Gelüste, lassen Mahlzeiten aus, essen immer unregelmäßiger. Bis wir es nicht mehr aushalten und in Fressattacken alles in uns hineinstopfen, was der Kühlschrank bietet.

Heißhunger ist eine andere Variante der Gier.

Er will nicht alles, er will etwas Bestimmtes. Gern Süßes. Das liegt in unserer Natur. Ungeborene nehmen ab der 32. Woche schon den leicht süßlichen Geschmack des Fruchtwassers wahr. Später erkennen Babys das Süße in der Muttermilch wieder, noch später gibt es zur Feier des Tages, für ein gutes Zeugnis oder gegen Liebeskummer - natürlich - Schokolade. Ein Stück fürs Glück. Tatsächlich transportiert die Kombination von Fett und Zu-cker den Eiweißbaustoff Tryptophan ins Gehirn. Dort wird er in das Glückshormon Serotonin umgewandelt.

Der Trost ist kurz. Der Hunger wird zum persönlichen Feind.

Studien der Flinders-Universität in Australien haben gezeigt, dass der gemeinsame Nenner aller Essensgelüste eine besonders plastische Vorstellung ist. Wir sehen die ersehnte Praline, den glitzernden Rollmops oder die knusprigen Chips buchstäblich vor uns. In Therapien werden die Heißhunger- Visionen deshalb durch andere Bilder ersetzt. In einem Versuch ließen Forscher schmachtende Studenten Bilder von Regenbögen oder Landschaften auf einem Monitor anschauen. Danach war die ursprüngliche Gier tatsächlich geringer geworden. Netter Versuch. Aber wohin mit dem Heißhunger hinter dem Heißhunger? Nicht selten schlagen wir uns den Bauch voll, weil die Seele gefüttert werden will. Knabbern gegen Langeweile, lutschen als Trost, löffeln, um sich zu verwöhnen, wenn es sonst niemand tut. Der Trost ist kurz, die Folgen sind lang. Aus Angst vor Übergewicht fangen wir an, uns zu kontrollieren. Der Hunger wird zum persönlichen Feind, Verzicht zur Tugend erklärt. Freude macht das nicht. Also wieder schlemmen, ausnahmsweise. Bitterer Nachgeschmack ist garantiert, wir fühlen uns schuldig, weil wir unsere Gelüste nicht im Griff haben. Bei dem Hin und Her zwischen Verlockung und moralischem Versagen werden Körper und Seele ihre eigentlichen Bedürfnisse immer fremder.

Hunger ist Begehren, satt sein ist (momentane) Bedürfnislosigkeit.

Wenn der Hunger über den eigenen Tellerrand hin-ausschaut, nennt man ihn Neugierde, Sehnsucht, Lust auf Neues. Lebenshunger. Als wir jung waren, waren wir neugierig auf Erfahrungen. Wir wollten alles probieren, um herauszufinden, was wir mögen und was uns bekommt. Wir haben vom Leben gekostet, nicht alles hat geschmeckt, und manchen Appetit haben wir auf später verschoben. Um die 50 haben wir zuweilen das unheimliche Gefühl, dass die Zeit fürs Wünschen und Genießen knapp wird, dass wir etwas verpassen könnten. Die Nervösen fangen jetzt an, Erlebnisse wie Vorräte zu sammeln: große Reisen, ein Sportcabrio fahren, Fotokurs. Mit dem Lebenshunger ist es ähnlich wie mit dem Körperhunger: Wir müssen auf unseren Bauch hören. Hat "der Bauch" wirklich Lust auf Opernpremieren, oder werden wir zum Opernfan, weil alle Bekannten auch gerade ihr Interesse daran entdecken? Überfressen wir uns mit "immer mehr", um eine innere Leere zu betäuben? Oder entdecken wir für uns plötzlich Genüsse, von denen wir bisher nicht ahnten, dass sie köstlich sind?

Wer ein Leben lang seine Wünsche an das angepasst hat, was ihm sowieso aufgetischt wurde, vergisst, wie sich Hunger nach mehr anfühlt. Dann tut man so, als sei man ohnehin satt. Neue Bücher, Filme, Theaterstücke? Brauche ich nicht, kenne ich schon - das ist der Begleitsatz zur appetitlosen Langeweile. Die einen machen eine emotionale Diät, weil sie fürchten, Leidenschaft, Sehnsucht, eine neue Liebe nicht mehr verdauen zu können. Die anderen verlassen sich auf ihren altbewährten Geschmack, verbringen ihren Urlaub zum zehnten Mal in dem kleinen Hotel am Meer. Und die Dritten werden mit der Zeit zum Feinschmecker im Befriedigen ihrer Bedürfnisse. Eine Freundin von mir gehört zu den Dritten. Sie ist in ihrem Leben viel gereist. Im vergangenen Jahr ist sie für fünf Tage nach Rom gefahren - aus einem einzigen Grund: Sie wollte in der Kirche San Pietro in Vincoli den von Michelangelo gestalteten Moses sehen. An jedem der fünf Tage hat sie sich die Statue angeschaut, hat die Struktur des Marmors, die Haltung des Moses, seinen Blick und seinen Ausdruck in sich aufgesogen. Es war das pure Glück. Natür-lich. Denn die Botenstoffe, die das Hirn ausschüttet, wenn uns die Sinne Genuss vermitteln wollen, sind immer die gleichen. Egal, ob jemand sich freut, weil er etwas Wunderbares gegessen oder ein Kunstwerk vollkommen verstanden hat.

Ein Artikel aus BRIGITTE WOMEN Heft 6/2012 Text: Regina Kramer

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