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Was richtige Atmung bewirken kann

Wenn der Atem frei fließt, fühlen wir uns wohl, denken klarer und sind leistungsfähiger. Doch wie funktioniert richtige Atmung?

Auf einmal sind da nur Schmerzen. Im Rücken, im Nacken, in den Schultern. Dabei habe ich mich bloß ausgiebig gedehnt und geräkelt. Und - wie die anderen zehn Frauen im Atemkurs - bei ruhigen, fließenden Bewegungen die Luft mit einem "Huuuh" aus dem Mund strömen lassen. "Setzt euch ganz vorn auf den Hocker", rät unsere Lehrerin Helga Dzuck-Böcker, "sobald ihr eure Sitzknochen im Po spürt, kippt das Becken etwas nach vorn, und der Körper richtet sich von allein auf." Stimmt. Automatisch fließt die Luft in den unteren Bauch, der Brustraum weitet sich. Fühlt sich gut an. Aber die Verspannungen im Rücken sind immer noch da, so intensiv wie sonst kaum. "Sich bewusst mit dem Atem zu beschäftigen macht sensibel für seelische und körperliche Vorgänge, die wir im Alltag oft nicht mehr spüren", sagt die Atemlehrerin. Üben wir das Atmen nicht sowieso dauernd? Stimmt: Neugeborene holen etwa 50-mal pro Minute Luft, Kinder bis zu 35- mal und Erwachsene mindestens 15-mal und mehr. Macht pro Tag über 20000 Atemzüge, mit denen wir mindestens 10000 Liter Luft und damit Energie tanken. Und das geschieht wie der Herzschlag ohne unser bewusstes Zutun, selbst im Schlaf oder in Narkose. Einatmen - Ausatmen - Ruhepause. So verläuft der natürliche Atemrhythmus. Beim Einatmen wölbt sich der Bauch nach außen, die Flanken weiten sich, und beim Ausatmen fallen sie wieder sanft zusammen. Wie eine Welle strömt die Luft ungehindert durch den ganzen Körper.

Die richtige Atmung geht mit der Zeit verloren

Babys atmen, ohne es jemals geübt zu haben. Doch mit dem Heranwachsen geht der Zugang zum natürlichen Atmen nach und nach verloren. Der Grund: Die Atmung versorgt uns nicht nur mit Luft. Sie reagiert auch unmittelbar auf Erlebnisse und Gefühle und speichert alles, was uns widerfährt. Und schon der ganz normale Alltag hat heute ein so hohes Tempo, oft auch so viel Hektik und Stress, dass wir immer wieder unwillkürlich die Luft anhalten oder flacher atmen. Erfahrene Atemlehrer und -therapeuten erkennen schnell, wie ein Mensch sich gerade fühlt - an der Atmung. Sie zeigt an, ob jemand angespannt oder gelöst ist, innerlich eng oder weit.

Wer zum Beispiel viel Ängstigendes erlebt hat, neigt dazu, den Atem anzuhalten und hoch in die Brust statt in den Bauch zu atmen. Auch Leistungsdruck, Stress, enge Kleidung, ein ständig eingezogener Bauch oder stundenlanges Sitzen vor dem Computer beeinträchtigen die Atmung: Sie wird flach, hastig, unregelmäßig. Gut ist das nicht: Wenn die eingeatmete Luft gerade mal bis in den Brustraum gelangt, wird der wichtigste Atemmuskel, das Zwerchfell, ständig unterfordert. Normalerweise zieht es sich beim Atmen rhythmisch und kraftvoll zusammen, so dass die Lunge ihr Volumen ausschöpfen kann. Zugleich massiert das Zwerchfell durch seine Bewegungen die inneren Organe und regt so die Durchblutung an. Geschieht das alles nicht, reagiert der Organismus. Man ermüdet schneller, schläft schlechter, wird anfälliger für Rückenschmerzen oder Migräne. Und nicht zuletzt leidet die Stimme: Viele kommen zur Atem- und Stimmtherapie, weil sie dauernd heiser sind.

Wie atmet man richtig? Am günstigsten ist es, sowohl in die Brust als auch in den Bauch zu atmen. Dann sind alle Atemmuskeln gleichermaßen beteiligt, und die Lunge wird optimal belüftet. Der Effekt: Der Atem fließt frei, wir fühlen uns wohl, denken klarer, haben gute Laune, sind frischer und leistungsfähiger. Frei atmen, das will ich im Atemkurs lernen. Den Atem kommen und gehen lassen und warten, bis er von allein wiederkommt. Nichts tun. Gar nicht so leicht, diesen Kernsatz der Lehre des "Erfahrbaren Atems" nach Ilse Middendorf umzusetzen. Sobald ich mich auf meinen Atem einlasse, gerät er aus dem Rhythmus. Ich atme schneller ein als aus, oben im Brustraum staut sich die Luft. Unwillkürlich kommen Erinnerungen: So war es oft, wenn ich aufgeregt war oder in größeren Runden sprechen sollte. Dann wurde mir die Luft knapp, und meine Stimme klang hoch und gepresst.

Der "Erfahrbare Atem" ist keine Technik. Es geht darum, den normalerweise unbewussten, unwillkürlichen Atem wahrzunehmen, ihn zu spüren, ohne ihn verändern zu wollen. Gerade die Ruhephase nach der Ausatmung - das eigentliche Geheimnis beim Atmen - stellt sich bei den meisten nicht gleich ein. "Wenn wir die Atempause wieder zulassen können, kehrt auch das seelische und körperliche Gleichgewicht zurück", sagt Helga Dzuck-Böcker. Also lasse ich die Luft raus und lege meine Hand zwischen Rippen und Bauchnabel. Spüre, wie sich jetzt in der so genannten Ruheatmung die Bauchdecke hebt und senkt. Die rhythmischen Bewegungen wirken entspannend. Als würde ich am Meer sitzen und den Wellen zusehen. Es wird langsam ruhig und friedlich in mir. Schon im alten China, in Ägypten und Indien waren Übungen bekannt, die ruhiges und fließendes Atmen und damit Einklang mit sich und der Umwelt bringen sollten. Die Atmung galt als Tor zur Seele und als Königsweg zum Bewusstsein. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts - also lange bevor östliche Lehren wie Qi-Gong oder Yoga in Europa boomten - wurde diese heilsame Wirkung des Atems auch in Deutschland entdeckt. Populär geworden ist vor allem Ilse Middendorfs Lehre des "Erfahrbaren Atems".

Die richtige Atmung bringt auch das seelische Gleichgewicht zurück

Loslassen, warten können, Ruhephasen einlegen: Viele haben das verlernt, beim Atmen wie im Alltag. Ein Leben in Hochgeschwindigkeit und das Gefühl, in immer kürzerer Zeit immer mehr schaffen zu müssen, schnürt ihnen die Luft ab. "Gerade in den Firmen wächst der Druck enorm", sagt Veronika Langguth, Atemtherapeutin und Kommunikationstrainerin aus Lohmar bei Köln. In ihren Seminaren vermittelt sie Managern und Führungskräften, wie sie mit Hilfe der Atmung mehr Ruhe in ihren aufreibenden Job bringen können. Typisch für aktive, leistungsorientierte "Macher": Sie ziehen die Luft kräftig in sich rein und pressen sie wieder heraus. "Viele unterdrücken Impulse wie Gähnen, Seufzen, Stöhnen und Sichdehnen, weil sie in der so genannten guten Gesellschaft verpönt sind", sagt Langguth. Schade - Gähnen und Räkeln zum Beispiel entspannen, tun dem Atem gut - und man kann sich danach auch wieder besser auf das Gespräch oder auf seine Arbeit konzentrieren. Wer wieder richtig atmen will, braucht Geduld. Denn was sich über Jahre eingeschlichen hat, lässt sich selten von einem Augenblick zum anderen korrigieren. Aber lernen kann's jeder - jederzeit, mitten im Alltag. Man braucht keine Extrazeit, keine Termine einzuplanen, um sich den Atem bewusst zu machen. Es genügt, immer mal wieder zwischendurch kurz in sich zu gehen: Wie ist es, wenn ich zum Beispiel ein Buch ganz oben ins Regal stelle? Halte ich die Luft an, oder atme ich unwillkürlich ein, wenn sich die Rippen heben, und unterstütze so die Bewegung? Wer die andere Hand auf den Rücken oder seitlich in die Nierengegend legt, spürt den Unterschied sofort.

"Was habt ihr gespürt, wie geht es euch jetzt?", will Helga Dzuck-Böcker am Ende der Kursstunde wissen. Vor meinem inneren Auge ist ein Haus mit vielen Zimmern entstanden, in die von allen Seiten frische Luft strömt. Mein Rücken fühlt sich gestärkt an, als wäre dahinter ein unsichtbares Polster, das ihn stützt und an das er sich anschmiegen kann. Die Schmerzen sind weg. Und wo ist eigentlich die Schlappheit geblieben, mit der ich hergekommen bin? Ich fühle mich erfrischt, wie nach einem langen Schlaf. Hellwach. Und irgendwie zu Hause in meinem Körper. Atmen hilft.

Ilse Middendorf: "Schnelligkeit ist nicht alles"

Wie der "Erfahrbare Atem" uns auch im Arbeitsleben hilft, erklärt die Begründerin dieser Lehre, Ilse Middendorf

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BRIGITTE WOMAN: Wie lange dauert es, den "Erfahrbaren Atem" zu erlernen?

Ilse Midendorf: Manche brauchen ein paar Stunden, andere Jahre. Neulingen sage ich: "Dehnen Sie mal Ihre Hände." Dann merken sie, dass sie mit der Dehnbewegung unwillkürlich einatmen und beim Loslassen ausatmen. Das ist der Atem, um den es geht. Wenn ich mich zu einer Stelle meines Körpers hin sammle, nehme ich wahr, dass ich atme...

BRIGITTE WOMAN: und lasse den Atem kommen, wie Sie es nennen.

Ilse Midendorf: Ja. Wenn ich warte, bis der Atem von allein kommt, hat er eine ursprüngliche Kraft. Dann macht er mich innerlich weit. Und aus dieser Weite entsteht der Ausatem, dann die Ruhe.

BRIGITTE WOMAN: Warum ist die Ruhe nach dem Ausatmen wichtig?

Ilse Midendorf: In dieser Phase lasse ich los, ich gebe etwas frei und überlasse es etwas Größerem. Manche sagen dazu Gott, andere Buddha, für mich ist es das Unnennbare. Es sind schöpferische Momente, in denen ich etwas empfangen kann: Zuversicht, Lebensfreude, Inspiration, Selbstbewusstsein.

BRIGITTE WOMAN: Heute ist aber im Beruf Tun gefragt, nicht Lassen.

Ilse Midendorf: Bevor wir etwas tun, sollten wir wissen, was wir wirklich wollen und wo unsere Grenzen sind. Der Atem hilft dabei. Wenn die drei Einheiten Einatmen, Ausatmen, Atemruhe in ihrer Qualität und in ihrer Zeit ausgeglichen sind, entsteht ein Rhythmus, der mich beruhigt und trägt. Der Atem schafft ein Gleichgewicht in mir. Deswegen komme ich auch auf Lösungen und neue Ideen.

BRIGITTE WOMAN: Warum haben die Unternehmen den "Erfahrbaren Atem" dann noch nicht entdeckt?

Ilse Midendorf: Weil man immer noch glaubt, es käme nur auf schnelles Denken und ein hohes Arbeitstempo an. Und weil jeder Angst hat: Wenn ich meine introvertierte Seite mehr zulasse, fehlt mir der Biss, und ich bin nicht mehr so erfolgreich.

BRIGITTE WOMAN: Ist diese Angst nicht berechtigt?

Ilse Midendorf: Das Gegenteil ist der Fall: Sie würden souveräner, hätten weniger Stress und mehr Lebensqualität - und könnten dadurch sogar erfolgreicher sein. Mein eigenes Leben war voller Arbeit, und ich habe auch sehr gut verdient - ohne dass ich danach gefragt oder darum gekämpft hätte. Die Dinge sind einfach zu mir gekommen, wie der Atem.

Der Atem ist das Lebensthema von Ilse Middendorf. Bereits in den 20er Jahren begann die ausgebildete Gymnastiklehrerin ihre Lehre vom "Erfahrbaren Atem" zu entwickeln - und wurde durch sie weltberühmt. 1965 gründete sie in Berlin ihr eigenes Institut und unterrichtete als Professorin an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst. Noch mit 96 Jahren hielt sie Vorträge, gab Kurse und erforschte den Atem. Im Mai 2009 starb Ilse Middendorf.

Übungen zum Ausprobieren: die richtige Atmung

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Weite gewinnen Hände hinter dem Kopf verschränken, Ellbogen etwas nach hinten bewegen und wieder nach vorn federn lassen.

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Raum füllen Beim Einatmen Arme diagonal gespreizt nach oben dehnen. Beim Ausatmen Hände nach unten, dann Oberkörper beugen.

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Atem anregen Mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen. Arme und Hände schwingen locker abwechselnd nach links und rechts.

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Bewegung spüren Rechte Hand auf die oberen Rippen unter das linke Schlüsselbein legen. Nach einiger Zeit Hand und Seite wechseln.

Das tut dem Atem gut

Singen: Macht nicht nur gute Laune, sondern unterstützt auch den natürlichen Atemrhythmus. Schöner Nebeneffekt: Die Stimme wird voller und tragfähiger.

Lachen: Eine der besten unwillkürlichen Atem- und Stimmübungen. Entspannt und hält das Zwerchfell elastisch. Gähnen, Seufzen: Das tiefe Ein- und langsame Ausatmen löst Verspannungen und versorgt das Blut mit zusätzlichem Sauerstoff.

Sport: Ausdauersportarten wie Walken, Joggen, Radfahren, Schwimmen oder Inline-Skating fördern das tiefe Durchatmen.

Kutschersitz: Im Sitzen Kopf und Oberkörper zwischen den Oberschenkeln hängen lassen - das sorgt für tiefe Entspannung und Beruhigung des Atems. Der Atemrhythmus kommt, vor allem bei Stress, wieder ins Gleichgewicht.

Die richtige Atmung: Weitere Infos

Prof. Ilse Middendorf, Institut für den Erfahrbaren Atem, Viktoria-Luise-Platz 9, 10777 Berlin, Tel. 030/213 69 52, www.erfahrbarer-atem.de (dort auch Adressen von Atemtherapeut(inn)en) Helga Dzuck-Böcker, Atemtherapeutin nach Middendorf, Kottwitzstraße 44, 20253 Hamburg, Tel. 040/422 96 82 Veronika Langguth, AWK-Zentrum für Körperbewusste Kommunikation und Persönlichkeitsentwicklung,Scheider Straße 19, 53797 Lohmar (bei Köln), Tel. 022 05/90 92 02, www.v-langguth.deAtemtherapeut(inn)en: BEAM Berufsvereinigung der AtemtherapeutInnen/-pädagogInnen des Erfahrbaren Atems nach Prof. Ilse Middendorf e. V., www.atem-beam.de

Zum Weiterlesen: Ilse Middendorf: „Der Erfahrbare Atem“. Eine Atemlehre mit zwei CDs, 30 Euro, Junfermann Verlag Doris Iding: „Die heilende Kraft des bewussten Atmens“, 8,90 Euro, Knaur Verlag Hiltrud Lodes, „Atme richtig“, 6,90 Euro, Goldmann Verlag

Text: Ingrid Ostlender Foto: Helge Langguth Illustrationen: Ilse Middendorf: Der Erfahrbare Atem, Junfermann, 1985

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