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Training für den Kopf

Wach und rege soll er bleiben, unser Geist, ein Leben lang. Das wünschen wir uns alle. Die beste Voraussetzung dafür: das Gehirn zu einer kreativen Dauer-Baustelle zu machen.

Früher war alles anders. Unser Gehirn hieß Oberstübchen, und so ähnlich stellte sich die Wissenschaft unser Denkorgan auch vor: ein Stübchen, dessen Zimmer seit Kindertagen fertig aufgeteilt und eingerichtet sind und an dem stetig und unaufhaltsam der Zahn der Zeit nagt, verstaubend, verfallend, vergehend. "Alles kann sterben, aber nichts sich regenerieren", erklärte der spanische Nobelpreis träger Ramón y Cajal 1928 und meinte damit die Millionen Nervenzellen und Vernetzungen in unserem Kopf. Doch seit etwa 20 Jahren bröckelt dieses Bild. Allmählich entdeckt die Wissenschaft, wie plastisch, das heißt wandelbar, unser "Oberstübchen" ist: Mit jeder neuen Erfahrung wird umgeräumt und umgestaltet, Wände werden eingerissen, und alte Zimmer erhalten neue Funktionen. Dabei bleibt manches auf der Strecke, aber gleichzeitig entsteht auch immer wieder Neues – ein Leben lang.

Neue Nervenzellen für's Gehirn

Ein Beispiel sind neue Nervenzellen. Überall im Gehirn schlummern Stammzellen, die sich zu funktionstüchtigen Neuronen ausbilden können. Mobilisiert werden sie nach Hirnverletzungen oder Schlaganfällen, um verlorene Funktionen wie die Sprache zurückzubringen. Noch weiß die Medizin nicht, wie sie die neuronalen Dornröschen gezielt wachküssen kann. Sonst könnten sie nicht nur in Notfällen auf der Dauer-Baustelle Gehirn zum Einsatz kommen, sondern auch bei kleineren Schönheitsreparaturen und Modernisierungsmaßnamen. Irgendwann ließe sich so vielleicht sogar das Altern des ganzen Gemäuers bremsen. Doch so weit ist die Forschung noch lange nicht.

Tatsächlich wachsen im gesunden Gehirn kontinuierlich neue Zellen heran, jedoch nicht wahllos überall, sondern vor allem im Hippocampus. Diese Hirnstruktur, der ein Meeresungeheuer aus der griechischen Mythologie den Namen lieh, ist sozusagen das Vorzimmer unseres Langzeitgedächtnisses: Jede neue Information muss hier durch, bevor sie in anderen Hirnteilen weiterverarbeitet und gespeichert wird. Außerdem werden in diesem Bereich verschiedene Gedächtnisinhalte miteinander koordiniert und verknüpft. Im Verlauf einer Alzheimererkrankung erfüllt der Hippocampus seine Funktion übrigens immer weniger, und einiges spricht dafür, dass dies vielleicht genau deshalb passiert, weil hier keine oder nicht mehr genug neue Nervenzellen entstehen.

Auch das Stresshormon Cortisol wirkt im Hippocampus buchstäblich nervtötend, dagegen lässt körperliche Bewegung dort besonders viele neue Zellen sprießen. Das zeigen Versuche mit Mäusen. Und vielleicht erfrischt auch der regelmäßige Spaziergang genau deswegen den Geist: In einer mehrjährigen Studie erkrankten ältere Männer umso seltener an Demenz, je weiter sie jeden Tag zu Fuß gingen.

Allerdings bleiben die frischen Zellen nur dann erhalten, wenn es Wichtiges zu speichern gibt. Auch die Vernetzungen zwischen den Nervenzellen – und es sind vor allem diese, die uns schlau machen – müssen benutzt werden. Ansonsten werden sie ganz ökonomisch zurückgebaut. Use it or lose it. Nur durch geistige Stimulation gedeiht dauerhaft Neues. So zum Beispiel bei Taxifahrern: Sie müssen sich täglich im Straßengewirr von Metropolen zurechtfinden und besitzen deshalb einen besonders großen hinteren Hippocampus-Abschnitt, weil genau dort räumliche Informationen zu einer inneren Karte zusammengefügt werden. Auch bei Menschen, die das Jonglieren einüben, beginnt das Gehirn zu wachsen, und zwar in einem Bereich, der Bewegungen von Objekten registriert. Allerdings schrumpft dieser wieder, wenn man nicht dauerhaft am Ball beziehungsweise an den Bällen bleibt. Wir können in unserem Gehirn also tatsächlich immer wieder neue Türen öffnen, Räume ausbauen und verschönern. Aber ein Zimmer, das wir nicht regelmäßig betreten, pflegen und aufräumen, gerät in Vergessenheit und lässt sich irgendwann nicht mehr öffnen.

Nur durch geistige Stimulation gedeiht dauerhaft Neues

Wer mit dem Jonglieren beginnt, wird feststellen, dass der Tanz der Bälle (zunächst) die ganze Konzentration fordert. Die angestrengte Koordination von Auge und Hand lässt keine Denkkapazität mehr übrig, um gleichzeitig noch zu philosophischen Höhenflügen abzuheben oder über Alltagsprobleme zu grübeln. Ganz ähnlich ist es in unserem Gehirn, wenn wir älter werden: Schon einfache motorische Tätigkeiten, wie etwa eine Treppe hinaufzusteigen oder eine Straße zu überqueren, nehmen dann in ihm so viel Raum ein, dass für Denkaufgaben zunehmend der Platz fehlt. Das Studierzimmer wird zum Hauswirtschaftsraum. Allein Sport und Bewegung helfen dann dabei, dass unser Körper nicht immer mehr auf Kosten des Geistes lebt und unseren Intellekt zum Untermieter im Oberstübchen degradiert. Körperliche Aktivität bringt außerdem mehr Blut und Sauerstoff ins Gehirn. Es wird mal wieder kräftig durchgelüftet, und vermutlich hilft schon das auch dem Geist auf die Sprünge. Eine Studie mit pensionierten Krankenschwestern konnte zeigen, dass dynamische Frauen ihre trägen Altersgenossinnen in kognitiven Tests deutlich übertreffen.

Neben neuronalen Neuanschaffungen wird das Oberstübchen mit den Jahren aber auch kräftig umgestaltet. Manche Funktionen ziehen im Laufe unseres Lebens offensichtlich sogar in andere Hirnareale um. So konnten australische Wissenschaftler nachweisen, dass emotionale Reaktionen bei Menschen über 50 zunehmend anders gesteuert werden. Während dafür in jüngeren Jahren vor allem der so genannte Mandelkern, ein sehr archaischer Teil unseres Hirns, verantwortlich ist, leistet später ein rationales Areal die Gefühlsarbeit. Negative Emotionen wie Ärger und Aggressionen werden dadurch stärker kontrolliert, positive Gefühle sind dagegen leichter zugänglich. Eine der Erklärungen für die oftmals größere Ruhe und Gelassenheit, die sich im Laufe des Lebens allmählich einstellt.

Unser geistiges Archiv wächst ein Leben lang

Die Wände zwischen rechter und linker Hirnhälfte scheinen ebenfalls zunehmend eingerissen zu werden, und die Zusammenarbeit der beiden Bereiche verstärkt sich. Vielleicht können dadurch Informationen immer besser miteinander verknüpft werden. Natürlich fällt dies mit den Jahren auch leichter, weil sich kontinuierlich Erfahrungen und Wissen angesammelt haben. Unser geistiges Archiv wächst ein Leben lang. Manche sprechen von Weisheit, Experten dagegen lieber von kristalliner Intelligenz.

Ihr Gegenstück ist die so genannte fluide Intelligenz, und anders als die kristalline altert diese Mechanik unseres Geistes tatsächlich. Wir können uns in neuer Umgebung weniger schnell zurechtfinden, und auch manches geistige Problem lösen wir nicht mehr ganz so flink wie in der Jugend. Das liegt daran, dass die Konzentration der Botenstoffe, die Signale von Nervenzelle zu Nervenzelle übermitteln, sinkt. Außerdem wird die Myelinschicht, die unsere Nervenfasern umschließt, um Informationen besonders schnell weiterzuleiten, immer dünner. Wir bewegen uns also nicht mehr ganz so problemlos in unserem Oberstübchen wie in jungen Jahren. Vielleicht finden wir deshalb im Kopf nicht immer gleich das Zimmer, das wir gerade suchen. Und legen manche neue Information nur flüchtig irgendwo im Hirnarchiv ab, so dass wir sie hinterher nicht wiederfinden und vergessen.

Wer sich dessen bewusst ist, kann solche Gedächtniseinbußen jedoch im Alltag gut durch Tricks kompensieren: Etwa indem wir uns nicht mit Überflüssigem belasten und wählerisch werden bei dem, was sich zu merken lohnt. Oder indem wir uns auf unsere Stärken konzentrieren und unsere alterslose kristalline Intelligenz ins Spiel bringen.

Irgendwann wird es vielleicht sogar möglich sein, den Rückgang an Botenstoffen und das Dünnerwerden der Myelinschicht direkt abzubremsen. Schon jetzt versprechen dies viele Wunderpillen. Bisher vergeblich. Bis Medikamente unser Gehirn ewig jugendlich halten, wird es sicher noch lange dauern. Und ob dies tatsächlich von Vorteil wäre, müsste sich ohnehin erst erweisen. Denn das Verlangsamen unseres Geistes kann manchmal sogar günstig sein. So fand der Dortmunder Psychologe Michael Falkenstein heraus, dass ältere Menschen bei manchen Aufgaben zwar weniger schnell sind als jüngere, dafür aber weniger Fehler machen. Ihre Bedächtigkeit zahlt sich also messbar aus. Jüngere handeln schnell, liegen dadurch allerdings auch schnell daneben, etwa weil sie sich von einem Detail ablenken lassen, statt den Überblick zu behalten.

Das Gehirn hat kognitive Reserven von früher

Fast noch wichtiger als die Unterschiede zwischen jungen und alten Gehirnen sind jedoch die zwischen Gehirnen gleichen Alters. Denn, so das Ergebnis der gesamten Forschung, jedes Gehirn ist einzigartig durch die in ihm gespeicherten Erfahrungen und Erinnerungen. Und genauso individuell wie Grundriss und Dekoration bleibt auch seine weitere Entwicklung. Beim Auf- und Umbau unseres Oberstübchens ist die Biologie keine Fessel, sondern sie lässt uns Gestaltungsfreiheit. Unsere Architektenrolle gewinnt im Laufe unseres Lebens sogar an Bedeutung: Denn je älter wir werden, desto weniger hat unser geistiges Alter mit dem tatsächlichen Lebensalter zu tun. Es hängt eher davon ab, was wir unserem Hirn an Eindrücken und Stimulation bieten und geboten haben. Eine entscheidende Rolle dafür, was mit ihm passiert, spielt das, was wir in jungen Jahren in unserem Gehirn aufgebaut haben. "Kognitive Reserve" nennen Wissenschaftler das. Ist diese besonders groß, können wir lange davon zehren. In einem weitläufigen Gebäude wird es nicht sofort eng, wenn mal ein Zimmer wegfällt. So sinkt das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, pro absolvierten Studienjahr um ganze 17 Prozent, dagegen wird es durch jede zusätzliche Stunde vor dem Fernseher erhöht. Zwar finden sich die typischen Strukturen der Demenz, die Plaqueablagerungen, auch in den Gehirnen Gebildeter, doch die Symptome der Krankheit brechen erst später aus, wenn das Gehirn schon fünfmal so viele Ablagerungen aufweist wie bei geistig weniger aktiven Demenzkranken.

Ganz wichtig für unsere geistige Leistungsfähigkeit sind aber auch soziale Kontakte. Dies konnten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung nachweisen. Offensichtlich öffnen uns der Austausch und die Auseinandersetzung mit anderen Menschen neue oder schon längst vergessene Räume unseres Oberstübchens. Unser Denken bleibt dadurch flexibel und bewegt sich nicht engstirnig auf eingefahrenen Wegen. Und wer es schafft, seine geistigen Fähigkeiten möglichst lange zu erhalten, hat letztendlich die beste Voraussetzung für ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben. Dass dies jedoch nicht unbedingt auch ein zufriedenes sein muss, zeigt eine schottische Studie: Einen Zusammenhang zwischen geistigen Fähigkeiten und Lebenszufriedenheit gibt es nicht – in keinem Alter. Wer lebenslang geistig rege bleibt, ist nicht zufriedener als jemand, der geistig abbaut. Vielleicht ist genau dies denn auch die größere Lebensaufgabe, die es zu bewältigen gilt: nicht nur die Wachheit unseres Geistes, sondern unser mentales Wohlbefinden zu erhalten. Glück misst sich schließlich nicht an der Zahl unserer Nervenzellen oder der Geschwindigkeit, Sudokus zu lösen.

Intelligente Ernährung für's Gehirn

Unser Gehirn trinkt sich schlau. Bekommt es zu wenig Flüssigkeit, ähneln die Symptome denen einer Demenz. Außerdem braucht unser Gehirn das richtige Futter durch eine ausgewogene, gesunde Ernährung. Wichtig sind dabei besonders: - Lecithin, der Baustein des Nervenbotenstoffes Acethylcholin. Vorkommen: in Eiern, Walnüssen, Erbsen, Sojaprodukten und Buttermilch - Omega-3-Fettsäuren. Sie stärken die Membran der Nervenzellen und unterstützen die Informationsleitung. Vorkommen: in Walnüssen, Rapsöl und Seefisch - Magnesium. Es schützt die Nervenzellen vor Schäden durch Stress. Vorkommen: in Sonnenblumenkernen, Sesamsamen, Haferflocken - B-Vitamine. Sie sind an der Bildung von Nervenbotenstoffen und Nervenzellen beteiligt. Vorkommen: in Hefe, Milch, Vollkornprodukten, Eiern und Fleisch - Folsäure. Sie verbessert das Erinnerungsvermögen und beschleunigt die Informationsverarbeitung. Vorkommen: in grünem Salat, Avocado, Paprika

Woher kenne ich die Frau dort drüben? Wie hieß noch der Film, den ich vorgestern gesehen habe? Wo sind eigentlich meine Autoschlüssel? Wenn das Gedächtnis streikt, kann das sehr peinlich sein. Und vielleicht auch beängstigend, wie Cathryn Jakobson Ramin selbst festgestellt hat. Deshalb versuchte die renommierte amerikanische Wissenschaftsjournalistin mithilfe zahlreicher medizinischer Experten, ihrer Vergesslichkeit auf den Grund zu gehen. Was sie dabei erlebt und erfahren hat, beschreibt sie in ihrem Buch "Der Dingsda aus Dingenskirchen. Die großen und kleinen Gedächtnislücken ab 40" (320 Seiten, 19,95 Euro, Kreuz Verlag). Das Ergebnis des US-Bestsellers: Unser Erinnerungsvermögen und unsere Aufmerksamkeit verändern sich in den mittleren Lebensjahren einfach. Und kleine geistige "Aussetzer" sind oft ganz normal.

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