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Anrüchig, sensibel, leistungsstark

Er schenkt uns Intuition und satte Zufriedenheit, auch wenn wir ihn verschämt ignorieren: Der Darm. Er ist die Schaltzentrale für die Gesundheit.

Ein kurzer Moment nur: Noch bevor der Gedanke im Kopf angekommen ist, hat sich der Magen quergestellt. Die Gedärme, die sonst brav in der Bauchhöhle liegen, haben plötzlich rumort. Der Fisch in der Vitrine sieht wirklich nicht sehr lecker aus. Ein Auge hängt schief und glasig in seiner Höhle, das bremst den Appetit deutlich. Heute vielleicht doch nur Salat... Nicht nur wenn es ums Essen geht, ist der Bauch schneller als der Kopf. Auch bei Börsendeals, der Partnerwahl und in Krisensituationen ist es unsere Leibesmitte, die vielen Studien zufolge die besseren Entscheidungen trifft. Schaltet sich der Kopf ein, fangen wir an nachzudenken, kommen wir nicht selten ins Wanken: In diesem teuren Restaurant müsste der Fisch doch frisch sein?

Bauchgefühl

Dass die Weisheit nicht hinter der Stirn liegt, wussten schon die alten Griechen: Zeus verschlang seine in eine Fliege verwandelte schwangere Frau Metis, weil man ihm Schlimmes über ihr ungeborenes Kind prophezeit hatte. Fortan musste die Göttin der Klugheit aus seinem Bauch heraus weissagen. Ihre gemeinsame Tochter Athene wurde trotzdem geboren; sie kam schließlich als "Kopfgeburt" zur Welt, als der Feuergott Hephaistos Zeus' Kopf spaltete. Wir sind bis heute gespalten in Bauchgefühle und rationales Denken, zwei Seiten, die einander nicht selten widersprechen. Doch erst seit zwanzig Jahren wissen wir, dass auch spontane Handlungen "aus dem Bauch heraus" nicht einfach chaotisch erfolgen, sondern ihre ganz eigene Logik haben, eine Bauchlogik eben. Das "Bauchgehirn", wie es von dem Anatomen und Zellbiologen an der Columbia University, Michael Gershon, 1996 getauft wurde, umgibt unseren Darm. Rund um das mit acht Meter Länge größte Organ unseres Körpers spannt sich nämlich ein eigenes Nervengeflecht mit über 100 Millionen Neuronen. Es hat zwar über Nervenbahnen wichtige Verbindungen zum Gehirn, doch die meisten Entscheidungen trifft es autark: ob Stoffe in dem Brei im Darm unerwünscht sind, ob dieser sich schneller oder langsamer bewegen soll oder ob dem Gehirn Übelkeit signalisiert werden soll, damit der Rest der Nahrung im Eiltempo in die andere Richtung, nach draußen, befördert wird. "Kopf und Bauch sind zwar gut vernetzt", sagt der Facharzt für den Magen- Darm-Trakt (Gastroenterologe) Jost Langhorst von der Essener Universitätsklinik. "Aber das Nervengeflecht des Darms hat viel mehr Verbindungen zum Gehirn als umgekehrt. Deshalb hat es auch häufig das letzte Wort, wenn es um Entscheidungen geht."

Bauchgehirn

"Zuerst war der Darm", so könnte die Entwicklungsgeschichte erzählt werden. Denn lange bevor das Gehirn entsprechend differenziert war, traf das Verdauungsorgan alle wesentlichen Entscheidungen. Bei Quallen ist das immer noch sehr gut nachzuvollziehen: Sie bestehen aus nur zwei Häuten rund um einen Hohlraum. Der innere Schlauch ist für Fressen und Ausscheiden gleichermaßen zuständig, die äußere Haut steuert die Bewegung und nimmt Sinnesreize wahr. Beim Menschen teilt sich das Nervengewebe von Kopf und Bauch: Während der embryonalen Entwicklung des zentralen Nervensystems wird ein Teil der so genannten Neuralleiste vom Kopf umschlossen, das andere Stück wandert während der vielen Stadien der Zellteilung in den Bauchraum. Als Verbindung zwischen den beiden verwandten Zellstrukturen entsteht der Vagusnerv, der Parasympathikus. Er ist Teil des autonomen Nervensystems. Über ihn laufen wichtige Informationen, aber längst nicht alle. "Gehirne sind dazu da, Kontrolle auszuüben", sagt Jackie D. Wood, Physiologe an der Ohio State University. "Was den Darm angeht, so ist es sinnvoll, dass die vielen notwendigen Anweisungen direkt vor Ort erteilt werden und nicht über komplizierte Leitungen erst bis zum Kopf und zurück geschickt werden müssen."

Baucharbeit

Zum Beispiel bei der Immunabwehr: "Der Darm ist unser größtes und wichtigstes Kontaktorgan zur Außenwelt", betont Jost Langhorst. "Deshalb sitzen dort 70 Prozent unserer Immunzellen. Sie müssen in Windeseile selbst entscheiden, wer Freund ist und wer Feind!" Über 400 Quadratmeter Darmschleimhaut - eine Fläche, die 200-mal größer ist als die unserer Haut - verarbeiten die Nährstoffe für unseren Stoffwechsel. Das ist eine gigantische Aufgabe, denn im Laufe eines durchschnittlichen Lebens passieren etwa 30 Tonnen fester und über 50 000 Liter flüssiger Stoffe unseren Körper. Das Bauchgehirn prüft alle Substanzen auf Tauglichkeit, checkt ab, ob sie bekannte Krankheitserreger enthalten, steuert die Kontraktionen des Darmmuskels und sorgt dafür, dass für die Verdauung notwendige Enzyme ausgeschüttet werden. Wie das Gehirn im Kopf ist auch der Darm bei seiner Geburt nicht fertig ausgebildet, sondern entwickelt sich weiter - Learning by Doing. So entstanden bei den unterschiedlichen Spezies auf unserem Planeten passend zu ihren jeweiligen Lebensräumen ganz verschiedene Verdauungssysteme: das der Regenwürmer zum Beispiel, die Boden in fruchtbaren Humus verwandeln; das von Hasen, die ihre eigenen Fäkalien fressen, um daraus Proteine zu gewinnen; oder die vier Mägen der Kuh, die damit für andere Lebewesen unverdauliches Grünfutter in Milch umwandelt. Eine ganz wichtige Anpassung des Menschen an seine Umgebung ist die Gewöhnung an Kuhmilch. Vor 7000 Jahren lebten im Südural die ersten Ureinwohner, die tierische Milch vertrugen und damit auch in karg bewachsenen kälteren Klimazonen ihren Eiweißbedarf decken konnten. In Asien oder Afrika, wo die Tierzucht traditionell keine dominierende Rolle spielte, weil es immer genug Pflanzen gab, wird Milch von den meisten Menschen weniger gut vertragen: Das Enzym für die Milchverdauung, die Laktase, wird nach dem Abstillen der Babys vom Körper nicht mehr produziert. Auch 15 Prozent aller Deutschen können Milchzucker (Laktose) nicht abbauen und reagieren deshalb darauf mit Blähungen, Krämpfen und manchmal mit Durchfällen.

Bauchabwehr

Durchfall ist ein Abwehrmechanismus des Darms, den er selbständig in Gang setzt, wenn wir ihn unfreiwillig mit Krankheitserregern konfrontieren, verunreinigten Salat in den Tropen essen oder Zabaione von alten Eiern. In jeder der etwa vier Millionen kleinen Ausstülpungen im Dünndarm, den Zotten, sitzt nämlich ein Lymphgefäß: Gemeinsam mit Blinddarm, Lymphknoten und Knochenmark bildet dieses lymphatische Darmgewebe das Immunsystem unseres Körpers. Es enthält sehr viele weiße Blutkörperchen, die je nach ihrer Aufgabenstellung Erreger identifizieren, sie chemisch markieren oder auch zerstören. Die B-Lymphozyten, die in dem komplizierten Regelkreis des Immunsystems als "Gedächtniszellen" fungieren und die Erinnerung an bestimmte Schadstoffe in unserem Körper wachhalten, sitzen in unzähligen Lymphknoten im Darm, den so genannten Peyer-Plaques. Wie aber erkennt das Immunsystem, welche Substanz den Körper nährt und welche ihm schadet? Fremdes Eiweiß steckt schließlich genauso in Nahrungsmitteln wie in möglichen Erregern. Herbert George Wells (1866-1946), der prominente amerikanische Schriftsteller und Futurist ("Krieg der Welten"), war auch Wissenschaftler. Er fand heraus, dass fremdes Eiweiß, das Tieren in die Blutbahn injiziert wurde, diese durch einen Schock tötete. Wenn sie es aber zunächst ins Fressen gemischt bekamen, vertrugen sie später auch Infusionen ohne Schaden: Das Immunsystem hatte über den Darm "gelernt", das Eiweiß zu tolerieren.

Bauchgrimmen

Der Darm reagiert auf Emotionen ähnlich empfindlich wie das Herz.

Die Psyche spielt in diesem komplexen Wechselspiel eine entscheidende Rolle. Angst kann Bauchkrämpfe auslösen, Unbehagen kann verstopfen. Die Neurogastroenterologie erforscht, warum gerade der Magen- Darm-Trakt so sensibel auf Emotionen reagiert - "ähnlich empfindlich wie das Herz", sagt Sigrid Elsenbruch, medizinische Psychologin mit dem Spezialgebiet Darm an der Universität Essen. Das liegt daran, dass über dem einen Nervengeflecht, das den ganzen Darm umspannt und das für seine Bewegung, Muskelspannung und Kontraktion zuständig ist (Auerbach-Plexus), noch ein zweites dicht unter der Schleimhaut liegt. Dieser so genannte Meißner-Plexus steuert die Ausschüttung vieler Hormone und Botenstoffe: Fast alle Substanzen, die im Kopfhirn Steuerfunktionen ausüben, finden sich ebenso im Nervengewebe des Darms. Serotonin zum Beispiel, ein wichtiger Vermittler von Gefühlen, wird sogar zu 90 Prozent im Darm gebildet. Aber auch große Anteile des Belohnungshormons Dopamin und viele körpereigene Opiate entstehen im Bauch. "Deshalb lassen sich einige Darmerkrankungen mit Antidepressiva positiv beeinflussen", erklärt Sigrid Elsenbruch. "Zum Beispiel das Reizdarm-Syndrom, das sehr stark von der Psyche bestimmt wird." Von diesen Patienten, die über chronische Bauchkrämpfe, plötzlichen Stuhldrang, chronische Verstopfung oder Durchfall klagen, ohne dass eindeutige organische Ursachen festzustellen sind, haben 40 Prozent eine Angststörung oder ein depressives Leiden.

Bauchgedächtnis

Erinnert sich der Bauch also auch an andere Dinge als an Eiweißmoleküle? Was lässt die "Schmetterlinge" flattern, wenn man verliebt ist, oder dreht den Magen um vor lauter "Wut im Bauch"? "Viele dieser Zusammenhänge sind noch nicht geklärt", sagt die Psychologin. Aber im Tierversuch zeigt sich, dass sich die Darmpassage von Katzen ändert, wenn ein Hund sie anknurrt. Und als man in einer Studie junge Ratten von ihren Müttern trennte, veränderte das ihre Darmschleimhaut so stark, dass Erreger nicht mehr daran gehindert wurden, in den Blutkreislauf einzudringen. Die Immunreaktionen, die Angst, Bedrohung und Ekel auslösen, merkt sich der Körper mithilfe des Darms. Abwehr- und Stressmuster werden schon früh geprägt, manche schon vor der Geburt. Der Darm reift wie das Gehirn erst in den ersten drei Lebensjahren aus und sammelt seine "Erfahrungen". Menschen, die als Babys oder Kleinkinder starken Emotionen und großem Stress ausgesetzt waren, reagieren deshalb ein Leben lang empfindlicher auf Belastungen. Yoga oder Meditation wirken auf das unbewusste Nervensystem und können die überschießenden Reaktionen dämpfen. Amerikanische Mediziner an der Staatlichen Universität von Pennsylvania versuchen deshalb, mit einem speziellen Biofeedback den Bauch "umzuprogrammieren". Fisch oder nicht Fisch? Kopf oder Bauch? Intuitive Ab- oder Zuneigungen steigen in Bruchteilen von Sekunden aus der Körpermitte auf. Sie speisen sich aus Sinneseindrücken, Empfindungen, unbewussten Erfahrungen und diffusen Erinnerungen, und sie sitzen im Darm. Denn schließlich hängt das ganze Leben mit der zentralen Frage zusammen, ob wir ausreichend genährt werden - mit Essen, Liebe und Glück. Forscher an der University of Texas versuchen, diese "Soft Skills" des Bauches in einem Gerät ablesbar zu machen, einem "Elektroenterogramm" (EGG). Die Spannungszustände des Verdauungsorgans sollen, verlässlicher als der Herzschlag, zeigen, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht. Noch müssen viele Tests dafür gemacht werden. Doch die Psychologen sind überzeugt: Der Bauch lügt nicht!

Bauchpflege: Gesundheit für Ihren Darm

Als "Ekelthema" erfährt der Darm oft nicht die Beachtung, die er verdient hat. Dabei kann man viel tun, um ihn zu schützen, ihn vital und leistungsfähig zu erhalten.

Regelmäßigkeit beim Essen und Abführen

Das hilft dem Darm, seine Funktionen als Nahrungsverwerter und Immunpolizei besser zu erfüllen. Ein hoher Anteil an Ballaststoffen ist nicht nur gesund wegen seiner bioaktiven pflanzlichen Substanzen, sondern nährt auch die Darmflora: Billiarden von Bakterien unterstützen als Untermieter im Darm die Verdauungsprozesse. Sanfte Bauchmassagen (immer im Uhrzeigersinn!) beruhigen die Nerven. Wohltuend für den Darm sind Heublumensäckchen: über Dampf erhitzt und im Liegen etwa 20 Minuten auf den Bauch packen, bis die Wärme verflogen ist.

Abführmittel möglichst vorsichtig einsetzen

80 Prozent, so eine Erhebung des Robert-Koch-Instituts, reizen die Schleimhaut des Darms. Tee aus Blättern der Sennespflanze (Cassia senna) regt zum Beispiel durch diesen Reiz die Kontraktion der Darmmuskeln an. Solche Mittel sollten bei Verstopfung (weniger als dreimal pro Woche Stuhlgang) nur im Notfall und nur über einen kurzen Zeitraum eingenommen werden. Am besten sind Quellmittel, die den Stuhl weicher machen, aber nicht vom Körper aufgenommen werden. Ein Geheimtipp: Flohsamenschalen! Mit ausreichend Flüssigkeit getrunken, quellen sie auf das 20-Fache ihres Volumens auf und machen "Druck". Einläufe sollten nur im Rahmen eines ärztlich kontrollierten Heilfastens angewandt werden. Sie können die Darmflora verändern und schwemmen wichtige Nährstoffe aus. Die aus den USA stammende "Colon-Hydro-Therapie", eine maschinelle Darmwäsche, wird von den meisten Gastroenterologen deshalb sehr kritisch gesehen. Natürliche Probiotika aus Sauerkrautsaft, Kefir (beides unbehandelt), Kombucha oder Brottrunk stärken dagegen die "guten" Bakterien im Darm. Probiotische Produkte mit speziell gezüchteten Stämmen (z. B. Lactobacillus casei Shirota) müssen allerdings schon regelmäßig verzehrt werden, um eine dauerhafte Besiedelung mit diesen Bakterien zu erreichen.

Darmkrebsvorsorge

Darmkrebsvorsorge ist eine sehr sichere und erfolgreiche Methode, vor allem wenn eine Koloskopie (Spiegelung) stattfindet. Der Eingriff, den die Krankenkassen ab dem Alter von 50 Jahren bezahlen, ist ambulant möglich, ungefährlich und wenig belastend. Auf Wunsch kann er unter Kurznarkose durchgeführt werden. Der Arzt kann dabei Polypen, die möglicherweise später entarten würden, sofort entfernen. Tests auf verstecktes Blut im Stuhl, wie sie zum Beispiel der Frauenarzt anbietet, haben nicht dieselbe Aussagekraft. Wer Darmkrebspatienten in der Familie hat, sollte eine Spiegelung machen lassen, da Erbfaktoren eine Rolle spielen können. Bei rechtzeitiger Diagnose ist Darmkrebs sehr gut heilbar! Mehr Infos unter www.darmkrebs.de.

Text: Petra Thorbrietz Foto: iStockphoto

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