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Ulrike Thomassen Mein Kind ist grüner als ich

Ulrike Thomassen: Mädchen steht mit Fahrrad vor der U-Bahn
© Aleksandra Suzi / Shutterstock
Unsere Autorin Ulrike Thomassen lebt ziemlich nachhaltig. Aber ihre Tochter entpuppt sich mittlerweile als heimische Ober-Klimaschutzbeauftragte. Das ist nicht immer lustig...

Eigentlich bin ich Vegetarierin. Also fast. Aber nicht ganz hundertprozentig. Ich gestehe es nur ungern: Bei einem Abendessen habe ich kürzlich die Hähnchenschenkelknochen meines Sohnes abgenagt. Der Duft, der aus dem Backofen stieg, hatte mich schon beim Kochen ganz wuschig gemacht. Dann saßen wir am Tisch, er mit zwei knusprigen Beinchen und Bratkartoffeln auf dem Teller, ich mit den Kartoffeln. Am Ende hielt ich es nicht mehr aus. Ich griff gierig nach den übrig gebliebenen Knochen und putzte sie in Piranhaschwarm-Tempo blitzblank. Was soll ich sagen? Ich bin nicht stolz drauf. Aber auf keinen Fall wollte ich mich von meiner 16-jährigen Tochter, der heimischen Klimaschutzbeauftragten, erwischen lassen, die jeden Moment vom Fußballtraining zurück sein könnte.

Klimascham gegenüber den Kindern

Dabei habe ich mir im Großen und Ganzen wenig vorzuwerfen, wenn es um Nachhaltigkeit geht: Ich besitze kein Auto, bin Mitglied in einem Bioladen-Kollektiv und habe mir das Fleischessen in den letzten Jahren ohne großen Vorsatz abgewöhnt (okay, bis auf ein paar kleine Aussetzer wie die Hähnchen-Attacke). In meinen selbstgefälligen Momenten betrachte ich mich als Tipptopp-Öko-Großstadt-Mutti mit einer nicht ganz mustergültigen Schwäche für Urlaubsflugreisen ans Mittelmeer. Aber natürlich, auch das muss ich ehrlich gestehen: Ich komme aus einer Generation, für die Häuser, Reisen und große Autos Statussymbole sind und die eine nicht unerhebliche Verantwortung dafür hat, dass es um das Klima so schlecht steht. Klimascham? Habe ich. Vor allem dann, wenn ich mit meiner Tochter über Rodungen oder Plastikmeere diskutiere. Wäre ich eine Klimaleugnerin, wäre unser Verhältnis klar – sie wäre die Gute, ich die Böse, wir würden nicht miteinander reden, fertig. Was passiert aber, wenn wir eigentlich auf derselben Seite stehen, aber dann nur so halb?

Marie war noch in der Grundschule, als sie zum ersten Mal mit handgeschriebenen Flugblättern vorm Einkaufszentrum unseres Viertels stand und alltagstaugliche Klimaschutzmaßnahmen unters Volk brachte: mehr Fahrradfahren. Keine Plastiktüten verwenden. Im Winter zu Hause Pulli tragen, statt die Heizung hochdrehen. Ihr Engagement dümpelte dann ein paar Jahre vor sich hin, bis es losging mit Fridays for Future. Sie schwänzte die Schule, ging auf die Demos. Und macht seither Ernst. So ernst, dass ich am Anfang ein paar Mal dachte: Das ist jetzt ein Witz, oder? Zum Beispiel, als sie zum ersten Mal welkes Frühlingszwiebelgrün aus der Biotonne fischte und zurück ins Gemüsefach legte – "daraus kann man noch Brühe kochen". Was sie auch tat. Einmal simmerte ein schleimiges Gebräu aus Leinsamen auf dem Herd, das ihren Locken Halt verleihen sollte – "ich will das nicht in Plastikflaschen kaufen". Da benutzte sie längst festes Shampoo, Zahnputztabletten und Körperpeeling aus Kaffeesatz und Zucker. Marie besitzt lächerliche zwei Paar Schuhe und zwei Paar Jeans, und Fliegen ist, wenig überraschend, ganz gestrichen.

In ihrem Freundeskreis findet das niemand seltsam, aber aktiv werden vor allem die Mädchen. Viele ernähren sich vegetarisch und kaufen faire Kleidung. Laut der "Jugend-Naturbewusstsein"-Studie, die das Umweltministerium und das Bundesamt für Naturschutz 2020 in Auftrag gegeben haben, zeigte sich, dass Mädchen einen stärkeren Bezug zur Natur haben als Jungen. Dieses Interesse und ihre generell größere Kommunikationsbereitschaft mache Töchter zu einer bisher unterschätzten Kraft in der Klimakommunikation, bestätigen auch Forscher:innen aus North Carolina. Mit einem speziell entwickelten Schulunterrichtstool hatten sie lebhafte Diskussionen am Esstisch ausgelöst, bei denen vor allem Mädchen ihre klimaschutzkritischen Väter erfolgreich bekehrten.

Die Konfrontation mit den Bequemlichkeiten durch den Klimaschutz

All das macht auch was mit unserer Familie. Ganz klar ist, wer bei uns in Sachen Weltverbesserung die Nase vorn hat. Unerreichbar auf Platz 1: die gute Tochter, Platz 2: die bemühte Mutter, und auf Platz 3: der sorglose Sohn. Die Jüngste macht alles besser als ihre Mitbewohner. Sie thematisiert mehr, sie liest mehr und ändert ihr Verhalten, wenn es gute Argumente dafür gibt, selbst wenn es unbequem ist. Ihr Bruder reagiert darauf mit Augenrollen, aber immerhin kauft er sich jetzt freiwillig Biofleisch. Für mich ist es schwieriger, weil ich als Mutter routinemäßig die Rolle des Vorbilds beanspruche. Vor ein paar Jahren war ich es, die den Kindern erklärte, warum furzende und rülpsende Kühe ein Problem fürs Klima sind. Und jetzt? Kippe ich mir morgens Joghurt übers Müsli, während sie sich ein Mandelmusbrot mit Bananenscheiben belegt. Wir streiten nie über so was, Marie weiß, dass ich ihre Haltung grundsätzlich teile. Und ich mag unsere Weltverbesserungsgespräche, das Wutschnauben über die Widerstände gegen das Tempolimit oder den Versiegelungsgrad in den Städten, das verbindet uns, und ich bin stolz auf meine kluge Tochter. Aber wenn sie sagt, dass sie sich über mehr vegane Mahlzeiten freuen würde, rolle ich innerlich mit den Augen. Die Kocherei ist dann ja noch mehr Aufwand für mich. Oft tue ich ihr den Gefallen nicht, weil es mir zu anstrengend ist. Oder ich stopfe, sobald sie nicht hinguckt, die nasse Wäsche in den Trockner, statt sie aufzuhängen, einfach weil ich es hasse, Wäsche zu machen. Ich weiß, ich bin das Problem: Durch Maries Entschlossenheit werde ich mit meiner Bequemlichkeit konfrontiert und meiner Scham darüber, dass ich bei einem Thema, das mir am Herzen liegt, vergleichsweise lahm aussehe.

"Das ist ein Prozess, der völlig normal ist und in allen Eltern-Kind-Beziehungen vorkommt: dass Kinder sich irgendwann von ihren Eltern verselbstständigen und eine eigene Art zu leben mit eigenen Normen und Werten entwickeln", beruhigt mich Katharina van Bronswijk. Die Hamburger Psychotherapeutin ist Sprecherin von "Psychologists/Psychotherapists for Future", und sie empfiehlt mir, mich von meinem Eltern-sind-Vorbilder-Ideal zugunsten einer Begegnung auf Augenhöhe zu verabschieden. Ihr Vorschlag: in einen wertschätzenden Austausch mit Marie zu gehen. Meine Verunsicherung offen zu thematisieren. Und ehrlich zu sein. "Es ist ja nun mal so, dass Menschen nicht perfekt sind. Und das ist sicherlich etwas, was ihre Tochter anerkennt: Dass wir Gewohnheiten haben, die oft hartnäckig sind. Und dann kann es eben helfen, sich darüber zu unterhalten. Zu sagen: Ich weiß, dass das, was du tust, richtig ist, aber ich schaffe das eben nicht immer. Sich mit dem zu zeigen, wofür man sich schämt, kann ganz viel Nähe erzeugen."

Nicht perfekt sein zu müssen – das ist für mich der Hinweis, der mich, wie so oft im Leben, umgehend entlastet und mir hilft, auch mal die unterschiedlichen Voraussetzungen zu betrachten, mit denen meine Tochter und ich beim Klimaretten an den Start gehen. Wenn sie ein Oberteil braucht, das sie bei der Abschlussfeier der zehnten Klasse anziehen kann, plant sie den kompletten Tag ein, um alle Secondhandläden abzuklappern. Sie repariert und flickt stundenlang ihre Klamotten und stöbert auf Flohmärkten nach Sachen, die sie upcyceln kann. So viel Zeit habe ich gar nicht. Und auch nicht so viel Kraft! Darf ich das so empfinden? Denn den Lebensstil nach mehreren Jahrzehnten auf nachhaltig umzustellen, erfordert eben auch Energie. Selbst wenn man weiß, dass es richtig ist, muss man sich immer wieder gegen seinen inneren Schweinehund entscheiden. Da ist es natürlich einfacher, wenn man gleich mit grünen Routinen aufwächst.

Kompromisse dürfen in der Familie auch mal sein

Aber ich bleibe dran. Letztes Jahr wären wir ohne die Pandemie in einem Reisebus nach Korsika gezuckelt, weil Marie in den Süden wollte, aber ohne Flugzeug. So lange zu sitzen überleben eigentlich nur Teenager. Und für diesen Sommer haben wir einen Kompromiss gefunden: acht Stunden im Zug nach Garmisch und dann durch die Alpen wandern. Zum Abschluss haben wir noch paar Tage in einem schicken Meraner Hotel gefaulenzt. Dass der Infinity-Pool beheizt war, wurde mit keinem Wort erwähnt. Auch meine klimabewusste Tochter will halt manchmal einfach nur das Leben genießen.

In BE GREEN, dem Nachhaltigkeitsmagazin von BRIGITTE, lest ihr Tipps, Tricks und spannende Geschichten rings um ein schönes grüneres Leben

Brigitte

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