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Joko Winterscheidt Wann produzieren wir klimaneutral?

Joko Winterscheidt: Moderator Joko Winterscheidt
© Hannes Magerstaedt / Getty Images
Warum dauert das alles so lange? Das will uns einfach nicht in den Kopf! Selbst Startupper, die grün produzieren w o l l e n, verzweifeln daran, wie schwer es ist, klimaneutral zu werden. Der gefühlt bekannteste Moderator Deutschlands ist nun auch Ökogründer – und kotzt sich jetzt mal so richtig aus.

Wir stecken in der Scheiße. Sorry für die Wortwahl, aber ich will nichts beschönigen: Die Klimakatastrophe ist längst da. Ihr wisst es, ich weiß es, die neue Regierung weiß es. Und auch wenn jetzt nach den Wahlen alle in totaler Aufbruchstimmung sind, habe ich Sorge, dass wir in ein paar Wochen wieder genau da stehen, wo wir angefangen haben. Auf Instagram habe ich einen Post der "Tagesschau" gesehen, in dem Klimaforscher:innen sagen: "Ey, wir rennen da in eine Katastrophe rein" (die haben nicht wörtlich "Ey" gesagt, aber ihr wisst, was ich meine). Der Punkt ist: Der Beitrag war von 1994. NEUNZEHNHUNDERTVIERUNDNEUNZIG! Das ist 27 Jahre her. Und es war schon damals nichts Neues. Was haben wir nur die ganze Zeit über gemacht?

Bis uns das Wasser zum Hals steht

Vielleicht hilft dieses Bild: Wir stehen in dem größten Swimmingpool, den wir uns nur vorstellen können. Darin liegt ein Schlauch, es läuft ganz langsam Wasser rein. Wir können nicht schwimmen, aber wir planschen alle schön weiter. Sterben? Könnte passieren, aber doch nicht jetzt, schaut mal, das Wasser geht doch erst bis zum Knie. Solange wir noch den Boden unter den Füßen spüren, sind wir safe. Irgendwann stehen wir auf den Zehenspitzen, und dann fehlt auf einmal der Boden, und wir stellen fest: Ui, der Beckenrand ist aber ganz schön weit weg. Was machen wir denn jetzt?!

Klar, wir hätten den Pool verlassen können, als jemand den Schlauch reingelegt hat, wir hätten ihn rausziehen können, wir hätten sogar schwimmen lernen können. Aber nö, planschen war so schön. Und jetzt? Ganz ehrlich, sitzen wir hier und beschließen auf europäischer Ebene voller Elan Abkommen wie: Klimaneutralität bis 2050. Da vergeht ja noch mal mehr Zeit als seit dem "Tagesschau"-Beitrag! Das will mir nicht in den Kopf: Warum dauert das alles so lange?

Ausbeutung ist immer noch alltäglich

Warum dürfen Unternehmen immer noch so wirtschaften, dass am anderen Ende der Welt Menschen ausgebeutet werden? Wie kann es sein, dass ich als Unternehmer eine eigene Schokolade machen möchte und mir gesagt wird: "Aber du, das mit weniger Verpackungsmüll wird leider nichts." Oder: "Sorry, aber 100 Prozent ohne Sklavenarbeit können wir nicht garantieren." Ich meine, es ist absurd, wenn du weißt, was eine Kakaobohne in Westafrika kostet und wie viel dann eine Tafel Schokolade hier. Da fragst du dich: Wie kann irgendwer damit Geld verdienen? Aber es wird Geld damit verdient, es landet nur nicht bei den Bauern. Warum passiert da nicht viel schneller was?

Die Socke ohne Fußabdruck

Für ein zweites Beispiel dieser Art folgt mir doch bitte kurz in meine Sockenfabrik. Ja – Sockenfabrik. Ich habe die Sockenmarke Cheerio* gelauncht, weil ich versuchen wollte, klimaneutrale Textilien zu produzieren. Und ich dachte mir: Socken sind erstens das kleinste Stück Stoff, und zweitens braucht sie jeder. "Die Socke ohne Fußabdruck!" – in diesen Claim hatte ich mich verliebt. Wir haben das Logo designt, Kartonagen entworfen und Hangtags (diese Dinger, die dann als Haken im Geschäft dienen), und haben drauf geachtet, dass alles sauber und aus Papier ist. Wir haben Farben verwendet, die den Boden nicht belasten, wenn das Papier mal nicht im Recyclingprozess landen sollte, und, und, und. Und natürlich haben wir Socken designt und produziert. So weit, so schön. Aber eben nicht klimaneutral.

Denn diesen Zahn muss ich euch – und ehrlicherweise auch mir – leider ziehen: Die Produktion von Dingen ist erst mal nie klimaneutral, zumindest in einem industriellen Maßstab nicht. Ein Apfelbaum produziert klimaneutral Äpfel, ja. Aber auch mit Biostrom, Ökopapier und einer Büroheizung aus ausschließlich warmen Gedanken verbraucht jede Produktion erst einmal Energie und Rohstoffe. Das steht also auf der negativen Seite der Bilanz. Auch im Jahr 2021 könnt ihr keine Socke produzieren, bei der im Moment der Produktion die Bilanz ausgeglichen ist. Außer vielleicht, ihr habt ein Schaf im Garten, das ihr händisch schert und dann selbst aus der Wolle die Socke strickt (ich würde euch darum übrigens irgendwie beneiden, aber für Cheerio* brauche ich ziemlich viele Socken, und stricken kann ich sehr schlecht).

Jedenfalls entstehen also in jeder Produktion immer erst mal Klimaschulden. Um also auf der positiven Seite etwas einzuzahlen, müssen wir etwas tun, das Treibhausgase einspart. Gar kein Problem, dachte ich damals, immerhin gibt es Luftfrachtunternehmen, die damit werben, klimaneutral zu sein – wie schwer sollte das für Socken sein? Die Antwort ist: Es ist nicht einfach schwer. Es ist de facto unmöglich! Ja, im Jahr 2021.

Sind Bäume wirklich die Lösung?

Klar, es gibt den Klassiker: Bäume pflanzen. Kann man machen, ein Baum bindet im Lauf seines Lebens ja auch CO2 aus der Luft. Aber ihr habt den operativen Begriff "im Lauf seines Lebens" wahrscheinlich gleich bemerkt. Denn der Baum gleicht unsere Klimaschulden erst Jahrzehnte NACH seiner Einpflanzung aus! Da bin ich ja in Rente! Das ist nicht meine Vorstellung von neutral. Ich möchte, dass jemand, der ein Paar Socken kauft, nicht zum Klimawandel beiträgt. Zumal – kleiner Funfact – die deutschen Waldflächen in die Klimabilanz des Landes pauschal schon mit eingerechnet sind. Heißt: Wenn ihr hier einen Baum pflanzt und das von, sagen wir, eurer Sockenproduktion abzieht, dann berechnet ihr den Baum dadurch doppelt und bescheißt euch selbst.

Unternehmen müssen für ihren CO2-Ausstoß bezahlen. Aber so wenig, dass es sich nicht lohnt, stattdessen in saubere Technik zu investieren.

Aber wie schaffen es dann all die anderen Firmen, fragt ihr euch? Die, die mit "klimaneutral" werben? Nach meinen Maßstäben: gar nicht. Sie kaufen in der Regel Zertifikate, hinter denen Organisationen stehen, die CO2 einsparen, zum Beispiel, indem sie Menschen in weniger entwickelten Weltregionen Solarkochstellen zur Verfügung stellen. Das ist legitim, aber auch das reichte mir nicht. Also, nächster Schritt: Wir haben Organisationen angeschrieben, die uns helfen sollten, nicht nur unseren Fußabdruck mit Lieferketten und allem, was da dranhängt, zu berechnen, sondern auch Wege aufzuzeigen, wie wir wirklich klimaneutral werden können. Es gab dann so etwas wie eine Klassifizierung, die ging von Bronze- bis Platinstatus, und Platin bedeutete, wir wären sogar klimapositiv, weil wir mehr Treibhausgase einsparen, als wir ausstoßen.

Das wollte ich! Ich habe sofort angerufen, und auf meine Frage: "Was kostet der Platinstatus?" hieß es: "So weit ist die Welt noch nicht." Dann wollte ich den Goldstatus, auch der ging noch nicht. Mit anderen Worten, hier kommt genau das zum Tragen, was ich oben beschrieben habe: Es gibt keine technischen Entwicklungen, die eine Produktion wirklich auf null stellen können. Warum? Weil Innovationen nicht vorangetrieben wurden – weil es nämlich für Firmen viel einfacher ist, Zertifikate zu kaufen, als wirklich klimaneutral zu werden. Der CO2-Zertifikatehandel in der EU läuft ja so: Unternehmen müssen für ihren CO2-Ausstoß bezahlen, aber so wenig, dass es sich in der Regel nicht lohnt, stattdessen in bessere, sauberere Technik zu investieren, die man erst erfinden müsste. Der Zertifikatehandel hilft also nicht nur wenig, wenn es darum geht, CO2 einzusparen, er verhindert auch noch, dass wirklich in die Forschung nach besserer Technik investiert wird. Es ist zum Verrücktwerden!

Am Ende haben wir uns mit der Deutschen Wildtierstiftung zusammengetan, weil die gesagt haben, unser Wald ist nicht nur nicht mehr intakt, er ist auch gar nicht in der Lage, gegen die Klimakrise zu bestehen. Es gibt viel zu viele Monokulturen, die der Hitze nichts entgegensetzen können. Deshalb forsten wir jetzt in Mirow in Mecklenburg-Vorpommern ein riesiges Areal auf und pflanzen dort Mischwald an, der neuen Lebensraum schafft. Aber klimaneutral sind wir nicht. Und ich will auch, dass das alle wissen. Weil es eben nicht ging. Wir hätten Zertifikate kaufen und völlig legal sagen können, wir wären klimaneutral, was als Marketingtrick sicher den Verkauf angekurbelt hätte. Aber für mich wäre es Selbstbetrug.

Aufschieben, immer weiter aufschieben

Und ehrlicherweise war es auch Selbstbetrug, der uns überhaupt in diese verfluchte Lage gebracht hat. Wir verlagern einfach zu viele unangenehme Entscheidungen in die Zukunft. Ich kenne das nur zu gut: Ich bin jetzt 42, und mein Traum war es immer, einen Marathon zu laufen. Ich bin aber sehr gut darin, diesen Kraftakt in die Zukunft zu verlegen, weil es im Hier und Heute halt schöner ist, wenn ich nicht auf diese Tortur hintrainiere. Vielleicht lasse ich es ganz. Das ist bei der Klimapolitik aber keine Option. Wir können es nicht einfach lassen!

Wir müssen der neuen Regierung jetzt schon klarmachen, dass wir es nicht mehr tolerieren werden, wenn harte Lösungen wieder in die Zukunft verlegt werden, nur weil das vielleicht jetzt einem Interessenvertreter nicht in den Kram passt. Das Wasser im Becken steht uns eh schon bis zum Hals, da muss die Lobby nicht auch noch in den Pool pinkeln. Der CO2-Ausstoß muss endlich so teuer werden, dass Anreize gesetzt werden für klimafreundliche Innovation. Will sagen: Wir können privat noch so viele Plastiktüten sparen – an all das muss die Politik ran. Und weil ihr diesen Text erst lesen können werdet, wenn die Bundestagswahl gelaufen ist, kann ich nur hoffen, dass ihr echten Wandel gewählt habt. Falls nicht: 2022 stehen vier neue Landtagswahlen an. Also, ich bitte euch: Lasst uns endlich diesen Schlauch aus dem Pool nehmen. Wir haben genug geplanscht.

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BE GREEN 2/2021 Brigitte

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