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Grace Coddington - die große Kreative

Grace Coddington gehört zu den einflussreichsten Frauen der Modewelt. Jetzt hat sie ihre Memoiren geschrieben - die Geschichte eines aufregenden Lebens.

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Um das Wesen von Grace Coddington zu verstehen, muss man sie nur einmal von den Modenschauen erzählen lassen, die sie regelmäßig besucht. "Für mich sind die ganzen Fashion-Shows ein einziger Albtraum", sagt Coddington, "es geht nur noch um die Promis, die ihren kurzen Auftritt vor der Kamera genießen. Die meisten aus der ersten Reihe wollen doch nur gesehen werden, die interessieren sich nicht im Mindesten für die Mode. Keiner schreibt mehr etwas mit. Ich hasse das! Es ist jedes Jahr das Gleiche: Immer wenn die neuen Kollektionen gezeigt werden, muss man tief durchatmen und versuchen, den ganzen Wahnsinn drum herum auszublenden. Mir ist das zu viel! Schließlich will ich nur die neueste Mode sehen!"

Grace Coddington ist eine Ikone. Seit 1988 ist sie die Kreativdirektorin der amerikanischen "Vogue", des einflussreichsten Modemagazins der Welt. Sie hat mit bedeutenden Modefotografen wie Helmut Newton, Mario Testino oder Annie Leibovitz gearbeitet. Karl Lagerfeld hält sie für ein Genie, genauso ihre Chefin, die legendäre Chefredakteurin der US"Vogue" Anna Wintour, die über sie sagt: "Ihre Fähigkeit, den kleinsten Hauch einer Idee in eine unglaubliche Erzählung zu verwandeln, macht sie zur besten Moderedakteurin der Welt".

Grace Coddington bietet Anna Wintour als Einzige die Stirn

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Alle lieben sie für ihre märchenhaft inszenierten Traumwelten: Das Model Stella Tennant schickt sie, begleitet von einem Mann und zwei Jungen, auf dem Planwagen wie die Pioniere durch die Wüste von Texas (fotografiert von Arthur Elgort 2001). Kate Moss inszeniert sie in einem weißen bodenlangen Ballkleid von Ralph Lauren inmitten einer Traube uniformierter Tänzer des Londoner "Royal Ballet" (fotografiert von Mario Testino 2000). Mitten in der Gruppe hat sie noch einen Punk versteckt - Coddingtons Humor kennzeichnet fast alle ihre Arbeiten, genauso wie ihre Ausstattungswut. Für sie werden Schlösser, Heißluftballons und Elefanten gemietet, Toreros und Cowboys angeheuert und Weltraumraketen nachgebaut.

Seit "The September Issue" (einem Dokumentarfilm über die Entstehung der mit 840 Seiten dicksten Ausgabe der US"Vogue" aller Zeiten) ist sie auch außerhalb der Modeszene bekannt. Eigentlich wollte sie partout nicht gefilmt werden, weshalb sie dem Regisseur die Tür vor der Nase zuknallte und fluchte wie ein Kesselflicker, sobald eine Kamera in ihrer Nähe auftauchte, so dass jede Szene mit ihr herausgeschnitten werden musste. Zum Schluss bestand Wintour dennoch darauf, dass sich die Filmcrew bei den Fotoshootings an Coddingtons Fersen heftete. Und so passierte es, dass Coddington, ohne es zu wollen, ihrer Chefin die Schau stahl. Durch ihre erfrischend bodenständige Art, mit der sie als Einzige der gefürchteten Wintour die Stirn bietet.

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Von ihrem Büro im 12. Stock des Condé-Nast-Gebäudes in Manhattan hat man einen herrlichen Blick auf den Times Square. Zwei schwarze Schreibtische stehen nebeneinander, einer für sie, einer für ihre Assistentin. Die Assistentin sitzt auch jetzt am Bildschirm, während Coddington dieses Interview gibt und dabei gelegentlich einen Schluck lauwarmen Kaffee aus dem Pappbecher nimmt.

Die 71-Jährige sieht aus wie immer: Sie trägt ein unauffälliges schwarzes Oberteil und eine gleichfarbige Hose. Ihr Gesicht ist völlig ungeschminkt, nur die Lippen schimmern in einem dunklen Rotton. Ihre rote Mähne - sie hat sie 1971 das erste Mal gefärbt und dauergewellt, mittlerweile färbt sie alle drei Wochen mit Henna - macht sie zu einer Art Star, der überall erkannt wird; vor allem in der U-Bahn, die sie täglich für den Weg zur Arbeit und zurück benutzt. "Mich erkennen vor allem junge Leute und Kids, und das finde ich sehr schön. Schließlich bin ich kein Rockstar, so dass mich niemand anpöbelt. Ich glaube, die denken alle, ich wäre zu alt, um ein wirklich aufregendes Leben zu führen; niemand kommt auf die Idee, sich an meine Fersen zu heften."

In einem von Eitelkeiten geprägten Umfeld wie der Modewelt ist Coddington eine unaufgeregte Erscheinung. Das liegt vielleicht an ihrer Herkunft. In ihrer Autobiografie mit dem simplen Titel "Grace: A Memoir" erzählt sie jetzt ihre Geschichte: die eines jungen Mädchens, das in einem von ihrer Familie geführten Hotel auf der walisischen Insel Anglesey aufwächst und sein Taschengeld schon früh in "Vogue"-Ausgaben investiert. Auf eine bodenständige Kindheit folgt ein Leben, das Stoff für fünf Biografien gegeben hätte: zwei Ehen, viele Affären, unter anderem mit Mick Jagger, eine Fehlgeburt im siebten Monat, der Drogentod ihrer Schwester.

Dass Coddington in ihren Memoiren - für die sie angeblich 1,2 Millionen US-Dollar Honorar erhalten hat - gerade die dramatischen Wendungen meist sehr kurz und lapidar abhandelt, ist auch Selbstschutz. Als sie kürzlich für die Hörbuchausgabe ihrer Memoiren im Studio war, brach sie in Tränen aus, als sie die Textstelle lesen musste, in der es um den Tod ihrer fünf Jahre älteren Schwester Rosemary ging. "Ich war vollkommen fassungslos. Ich hätte nie gedacht, dass ich so emotional reagieren könnte."

Coddington wuchs gemeinsam mit Rosemary und ihrem Cousin Michael auf, der ganz in der Nähe wohnte. Sie hatte eine idyllische Kindheit und war stundenlang mit ihrem Segelboot unterwegs. Im Sommer, wenn das Hotel geöffnet war, hatte sie jede Menge Spielkameraden. Ihre Mutter war extrem sparsam, hat nie etwas weggeworfen, Papiertüten gesammelt und Marmeladengläser aufgehoben. Coddington kann sich noch gut erinnern, wie peinlich ihr diese Sammelwut war.

Und immer hatte die Mutter Strickzeug in der Hand. Sie strickte den Kindern alles mögliche, Pullover und Jacken, einmal sogar einen Badeanzug. "Sie hat mir das Stricken beigebracht, aber für mich war das nichts, das war mir viel zu langweilig", sagt Coddington. Stattdessen lernte sie nähen. "Als ich alt genug war, nähte ich mir Anzüge. Schließlich gab es dort, wo ich aufwuchs, keine Klamottenläden."

Als sie elf Jahre alt war, starb ihr Vater an Lungenkrebs. "Meine Mutter hat das relativ gut verkraftet; sie war eine starke Frau. Ich glaube, selbst als mein Vater noch lebte, war sie diejenige, die alle Entscheidungen getroffen hat; sie war die Chefin." Obwohl, wie Coddington sagt, ihre Familie knapp bei Kasse war, besuchte sie eine private Klosterschule. Sobald sie alt genug war, mit 18, zog sie 1959 gemeinsam mit einer Freundin nach London in eine Wohnung in Notting Hill.

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Kurze Zeit später gewann Coddington in der Kategorie Young Idea einen Modelwettbewerb der "Vogue" und arbeitet daraufhin regelmäßig mit bekannten Fotografen. Weil es damals noch keine Stylisten gab, schminkten sich die Models selbst. Für einen Tagessatz von 5 Pfund fuhr Coddington dann oft mit dem Bus zu Shootings, schwer bepackt mit einer Reisetasche voll eigener Schuhe, Schmuck, Make-up und Accessoires. "Man musste selbst die Accessoires zur Kleidung auswählen, es war also entscheidend, was man dabeihatte", erinnert sie sich an damals.

Im Alter von 26 Jahren hatte sie dann einen Autounfall, bei dem ihr Auge verletzt wurde. Der Außenspiegel hatte ihr Lid praktisch abgetrennt. Sie musste mehrere Schönheitsoperationen über sich ergehen lassen, aber es blieben hässliche Narben zurück. Trotz ihres Unfalls war Coddington noch immer ein Star in der Modewelt, für die Aufnahmen wurde ihre Narbe mit jeder Menge Eyeliner verdeckt. Immer öfter flog sie zu Modeaufnahmen für die französische "Elle" nach Paris. Dort verliebte sie sich in den Fotoassistenten Albert Koski und wurde schwanger. Sie verlor das Kind, als ihr Auto von pöbelnden Fußballfans umgeworfen wurde.

Mit Ende 20 wurde Coddington klar, dass sie mehr wollte als eine Karriere als Model, weshalb sie sich mit der Herausgeberin der britischen "Vogue", Beatrix Miller, zu einem Vorstellungsgespräch traf. 1968 fing sie als Junior Fashion Editor dort an und arbeitete sich in den folgenden 19 Jahren zur Modechefin hoch. 1985 wechselte Coddington als Designdirektorin zu Calvin Klein und zog nach New York, wo sie bis heute mit ihrem Freund, dem Friseur Didier Malige, in einem Haus im Stadtteil Chelsea lebt. "Es ist ein Doppelhaus. Das klingt riesig, aber es ist wirklich winzig", erzählt sie. Entscheidend war, dass ihre Perserkatzen Bart und Pumpkin dort Auslauf haben. "Ich verwöhne sie nach Strich und Faden", gibt Coddington zu, die absolut katzenverrückt ist. "Ich besitze alle Bücher über Katzen, die jemals gedruckt wurden - sogar japanische." Ihr Büro steht voller Katzennippes, Coddington hat selbst ein Buch über Katzen geschrieben ("The Catwalk Cats"), nach Pumpkin wurde sogar eine Balenciaga-Tasche benannt.

Als Anna Wintour 1988 die neue Chefredakteurin der US"Vogue" wurde, meldete sich Coddington bei Wintour. Beide kannten sich bereits aus London, aber jetzt wurden sie zu dem Paar, das die Modewelt nachhaltig geprägt hat. Auf der einen Seite Wintour, die spätestens seit dem Bestseller "Der Teufel trägt Prada", den ihre ehemalige Assistentin geschrieben hat, als eiskalte Karrierefrau gilt, die ihre Mitarbeiter in die Depression treibt. Und daneben Coddington, die sogar mit ihren Assistenten befreundet ist.

Natürlich hat sie Wintour das Manuskript ihrer Memoiren zum Lesen gegeben. "Du liebe Zeit, war ich nervös! Wir beide haben so viele Berührungspunkte und kennen uns so gut - und ich hatte Angst, dass ich aus ihrer Sicht zu viel von ihr preisgegeben hatte. Doch sie hat mir in einem langen Brief geschrieben, dass sie es sehr mochte. Was für eine Erleichterung! Ich weiß, dass jeder da draußen hoffte, ich würde Horrorgeschichten über sie erzählen. Aber die gibt es nicht. Sie ist meine Chefin, und man sollte ihr viel Respekt dafür zollen, dass sie die Zeitschrift zu dem macht, was sie ist."

Die "Vogue" sei die große Schau von Anna, sagt Grace bescheiden. Eine Show, die nie funktioniert hätte ohne Coddington. Mit ihren Bilderinszenierungen entführt die ihre Leserinnen an die entlegensten Orte der Fantasie - genau wie sie selbst es erlebte, als sie als Kind die "Vogue" verschlang.

Das Buch: Grace - A Memoir

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Geschichten aus dem Leben der Grace Coddington in ihrem Buch "A Memoir". Random House, 21,95 Euro, auf Englisch - zum Beispiel über

).

Text: Tasmin Blanchard Foto: Greg Kessler/Redux/Laif, Peter Carapetian, Getty Images Illustrationen: Grace Coddington BRIGITTE 03/2013

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