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Sexuelle Abhängigkeit: "Bin ich ihm hörig?"

Mann küsst Frau auf die Schulter
© 4 PM production / Shutterstock
Geplant war ein Seitensprung. Ein bisschen Spaß, ohne die Ehe zu gefährden. Doch es wurde mehr. Nun fragt sie sich: "Bin ich ihm hörig?" Die Geschichte einer sexuellen Abhängigkeit.

Sex war immer wichtig für mich. Ich bin eine sehr leidenschaftliche Frau, offen für alles. Allerdings nur im Rahmen einer festen Beziehung. Mit Liebe, Vertrauen, einer gemeinsamen Zukunft mit meinem Partner. Wenn mir jemand prophezeit hätte, dass ich irgendwann einen Mann anbettele, damit er mit mir schläft, ohne jede Verbindlichkeit, ohne Vorspiel oder Nachspiel, oft sogar ohne Küssen, dann hätte ich nur den Kopf geschüttelt. Absurde Vorstellung.

Mein Körper braucht ihn wie eine Droge.

Seit fast einem Jahr tue ich genau das: Ich bettele. Um Sex. David hat das aus mir gemacht. Manchmal lacht er mich aus dafür, nennt mich seine "läufige Hündin". Da habe ich schon schönere Komplimente gehört. Ich beiße die Zähne zusammen, damit ich ihn nicht stündlich mit SMS bombardiere. Mein Körper braucht ihn wie eine Droge. Ich werfe mein Handy aus dem Fenster, weil ich es nicht aushalte, wenn er nicht anruft. Meine beste Freundin Sabine, die von unserem Verhältnis weiß, meint, ich sei ihm hörig, mache mich kaputt. Sicher, ich leide manchmal höllisch. Dennoch würde ich sagen: Ich bin glücklich. Ich habe Sex. Weltbewegenden Sex.

Seit 15 Jahren bin ich verheiratet, mein Mann und ich leben seit der Geburt unseres zweiten Kindes wie Bruder und Schwester - seit sechs Jahren schlafen wir nicht mehr miteinander. Er hat keine Lust und ich auch nicht. Ich finde ihn nach wie vor attraktiv, doch ich begehre ihn einfach nicht mehr. Sonst verstehen wir uns gut, wir sind eine harmonische Familie. An Trennung habe ich nie gedacht. Aber der Sex hat mir total gefehlt. Ich hatte das Gefühl, das Leben zieht an mir vorbei.

"Sex ist das Gegenteil von Tod", hat der amerikanische Dramatiker Tennessee Williams einmal gesagt. Und seitdem ich mit David ins Bett gehe, ist mir klar: Nichts ist wahrer als das. An meinem letzten Geburtstag schrieb er mir gegen 19 Uhr eine SMS: "Ich will dich. Jetzt. Stehe in 15 Minuten vor deiner Tür." Ich hatte die Wohnung voller Gäste, und ständig klingelte das Telefon. Ungünstiger konnte der Moment wirklich nicht sein. "Ich muss eine halbe Stunde weg, halt hier die Stellung", sagte ich zu Sabine. Die zeigte mir einen Vogel. "Spinnst du? Das ist hier deine Geburtstagsparty!"

Weg war ich. Mit klopfendem Herzen rannte ich ins Erdgeschoss, er stand vor der Tür, musterte mich von oben bis unten, wie er es immer tut. Ein Ritual: Er inspiziert mich. Mir fällt ein Stein vom Herzen, wenn ich ihm gefalle. "Können wir zu dir in die Wohnung?", fragte er. "Nein, ich habe Besuch", antwortete ich. Insgeheim hoffte ich, er würde sich daran erinnern, dass ich Geburtstag hatte, ich hatte ihm bei unserem letzten Treffen davon erzählt. Eine Sekunde lang hatte ich den irren Gedanken, dass er deshalb gekommen sei. Dass es um irgendetwas Persönliches ginge. Einen Ausdruck von Nähe, Normalität. Stattdessen: "Okay, dann eben in deinem Keller. Geh vor." In den Keller! Was, wenn auf einmal meine Nachbarin vor uns steht? Aber ich traute mich nicht, ihm zu widersprechen. Ich wollte nur, dass er bleibt, dass ich ihn spüren kann.

Die "Nummer" dauerte nur wenige Minuten. Das mag sich brutal anhören, doch David schenkt mir dabei immer etwas Zartes, einen Blick, eine Berührung, die so intensiv ist, dass ich mich die nächsten 50 Jahre daran erinnern werde. Danach wollte ich gar nicht mehr in die Wohnung, ich wollte im dunklen, kalten Keller bleiben, auf dem staubigen Boden liegen und darauf warten, bis er wiederkommt. Widerwillig schleppte ich mich zu meiner Party zurück, zu meinem Mann, meinen Gästen. Aufgelöst, mit glühenden Wangen, wacklig auf den Beinen. Ich stand völlig neben mir, berauscht, kriegte kaum mit, was Sabine zu mir sagte.

"Britta, was ist mit dir los? Komm zu dir. Wie siehst du überhaupt aus? Guck mal in den Spiegel!" Ich flüchtete ins Bad, wusch mir das Gesicht, richtete mich her. Höchste Eisenbahn. Was wäre gewesen, wenn mein Mann mich in diesem Zustand gesehen hätte? Welche vernünftige Erklärung hätte ich finden können? Chaos.

Such dir noch einen zweiten Geliebten, ich habe nicht viel Zeit für Dich.

Dabei hatte ich meine Affäre mit David generalstabsmäßig und kühl geplant. Als ich mir überlegte, einen Liebhaber zu suchen, war meine Bedingung für mich selbst: Ich wollte auf jeden Fall die Kontrolle behalten. Keine Gefühle. Ich hatte von einer Seitensprung-Börse im Internet gehört. Die schien mir genau richtig, um einen sexuell vernachlässigten Mann zu finden, dem ebenfalls daran gelegen war fremdzugehen, ohne seine Ehe zu gefährden. David war der Erste, der mich anschrieb. Sein Foto haute mich um. Ein wunderschöner Mensch, wie aus dem Bilderbuch: groß, schlank, durchtrainiert. Dunkle Haare, volle Lippen, eine Nase wie die einer griechischen Statue.

Ich hielt ihn für ein Fake. Bis ich ihm in einem Café gegenübersaß. Nach zehn Minuten war klar: Zwischen uns brennt die Luft. Eine Woche nach dem ersten Date haben wir uns bei mir getroffen. Mann und Kinder waren bei den Schwiegereltern. Ich war unglaublich aufgeregt. Wir setzten uns aufs Sofa, unterhielten uns kurz. Er küsste mich, sagte: "Zieh dich aus. Ich will dich ganz." Ich tat, was er wollte, ich wollte es auch. Und so ist es geblieben. Ich will, was er will. Ich bemühe mich jedenfalls.

Ich stelle keine Forderungen. Ich setze ihn nie unter Druck. Ich bitte ihn zu kommen. Ich freue mich wie verrückt, wenn er kommt. Ich schweige, wenn er es nicht tut. Manchmal meldet er sich wochenlang nicht. "Such dir noch einen zweiten Liebhaber", sagte er eines Tages zu mir. "Ich habe nicht viel Zeit für dich. Und du brauchst es doch. Den Sex. Geh noch mal in diese Seitensprung-Börse und schau dich um." Ich war fassungslos, die Tränen schossen mir in die Augen. "Ich will nur dich", sagte ich. "Bist du denn nicht eifersüchtig?" Nein, das sei er nicht, war seine Antwort. Es folgte ein kurzer Vortrag, wie jämmerlich sexuelles Besitzdenken sei.

Er ist ein sehr kluger Kopf, er kann hinreißend reden. Und wenn wir eine schöne Zeit hatten im Bett, dann kann er hinreißend zuhören. So, dass ich wieder Lust bekomme. "Brainfucking" nennen wir das. Ich habe mir tatsächlich noch einen zweiten Geliebten gesucht. Fremdgesteuert von David. Aber auch, um mich zu retten, um mir zu beweisen, dass ich eine normale Affäre haben kann.

Ich gab ihm alles, alles, alles. Und er suchte weiter?

Davor erlebte ich noch meinen ganz persönlichen Albtraum: Ich sah, dass David weiterhin auf der Seitensprung-Seite war, augenscheinlich nach weiteren Kontakten suchte. Ich drehte durch. Ich gab ihm alles, alles, alles. Und er suchte weiter? Ich schrie ihn am Telefon an, dass ich mich vor ihm ekele. Daraufhin war David zum ersten Mal lieb zu mir. Hat mir gesagt, wie wundervoll er mich findet, wie klug, wie schön. Dass ich einzig für ihn bin, dass ich Bedeutung für ihn habe. Dass er einfach als Voyeur auf diese Seite gegangen sei. Ich glaubte ihm.

Als ich das Sabine erzählte, rastete sie aus: "Das ist krank!", rief sie. "Er hat in dir die perfekte Geliebte und sucht trotzdem nach anderen Frauen. Und du, du lässt dir das alles bieten, gehst sogar mit einem anderen Kerl ins Bett, weil er das von dir verlangt. Was kommt als Nächstes? Das ist Hörigkeit, das ist pathologisch. Geh zum Therapeuten! Versprich es mir." Ich habe mich mit dem Thema befasst, Hörigkeit. Die Diagnose wird gestellt, wenn man sein ganzes Dasein in den Dienst der Droge stellt, sein Umfeld und sich belastet. Hörige Menschen haben eine schreckliche Kindheit hinter sich. Ohne Liebe, ohne Sicherheit. Daraus entsteht Angst, die Suche nach Halt um jeden Preis. Ein Höriger verwechselt Abhängigkeit mit Liebe. Unterordnung mit Bindung. Bis zur Selbstzerstörung.

Das ist bei mir alles nicht der Fall. Bei mir, bei uns, läuft der Alltag tadellos. Für meine Kinder bin ich eine fröhliche Mutter, vielleicht sogar ausgeglichener als je zuvor. Mein Mann bekommt jeden Abend eine warme Mahlzeit, die Wäsche ist gewaschen und gebügelt. Ich arbeite halbtags als Logopädin. Ich bin kein Opfer. Und David ist kein eiskalter Sadist, der mich gern quält. Ich will, dass er mir seinen Willen aufzwingt. Das ist ein Unterschied! Ich bitte ihn darum, mich zu benutzen. Ich gehe ihm genauso unter die Haut wie er mir. Einmal ist ihm ein "Ich liebe dich" herausgerutscht. Das heißt nicht, dass er für mich seine Familie aufgeben würde. Es geht bei uns nicht um Beziehung. Es ist eine andere Form von Liebe. Wir sind auf Augenhöhe, doch die Positionen sind klar verteilt. David ist mein Lehrer, ich bin seine "kleine Schülerin", wie er mich nennt.

Was ich von ihm lerne: Liebe! Klingt paradox, aber genau das ist es. Ich befreie mich mit seiner Hilfe auf die lustvollste Weise von vielen Konventionen. Ich befreie meinen Sex von bürgerlichen Moralvorstellungen. Ich habe mittelalterliche Literaturwissenschaft studiert, im Mittelalter galt, man müsse durch Liebe zur Selbsterkenntnis gelangen. Exakt das geschieht in meinem Leben durch David. In mir ist ein unglaublicher Prozess in Gang gekommen, der mich meine Ehe anders sehen lässt. In einem viel schärferen Licht.

Ich habe mir etwas vorgemacht. Wenn Frau und Mann keinen Sex mehr haben, dann stimmt etwas nicht. Dann stimmt etwas gewaltig nicht. Das Leben und die Liebe dürfen nicht lauwarm sein. Der Preis für diese Erkenntnis ist hoch. David macht es mir nicht leicht. Anders ist inneres Wachstum aber nicht möglich. Fest steht: Ich werde so nicht weiterleben mit meinem Mann. David wird nicht die Alternative sein, er wird bei seiner Frau bleiben. Vielleicht werde ich allein mit meinen Kindern leben, bis ich einem Mann begegne, mit dem ich eine kraftvolle Sexualität erleben kann. Ich habe keine Angst vor der Zukunft, ich bin mutig. Nein, ich würde mich wirklich nicht als hörig im Sinne von abhängig bezeichnen. Ich verliere mein Ich nicht. Im Gegenteil: Ich glaube, ich bin auf dem besten Weg, es zu finden.

Interview: Ist diese Frau hörig oder nicht?

Abhängig oder selbstbestimmt: Was die Hamburger Psychologin Carin Cutner-Oscheja zu dem Fall sagt.

BRIGITTE: Ist diese Frau im klassischen Sinne hörig?

Carin Cutner-Oscheja: Nein, ich denke nicht, dass man das so sagen kann. Nach dem, was die Frau erzählt, hat sie relativ klare Vorstellungen davon, was sie will, und äußert das auch. Sie ist ja selbst initiativ geworden.

BRIGITTE: Aber sie sagt doch: "Ich will, dass er mir seinen Willen aufzwingt"!

Carin Cutner-Oscheja: Ich schätze das eher so ein, dass sie von ihm gewollt werden will. Er ist ein attraktiver Mann, ein weniger attraktiver Mann würde sie vielleicht nicht so reizen. Es gibt ja auch diesen Spruch: "Sei ein Mann, damit ich eine Frau sein kann." Sie braucht einen starken Mann, der ihr zeigt, dass er sie will. Das geht auch daraus hervor, dass sie ihre Ehe wie das Zusammenleben als Bruder und Schwester beschreibt.

BRIGITTE: Wie kann sie denn da wieder rauskommen?

Carin Cutner-Oscheja: So wie ich diese Frau verstehe, will sie das überhaupt nicht. Und sie braucht es auch nicht wirklich, sie muss zunächst einmal herausfinden, was sie für sich selbst erreichen möchte.

BRIGITTE: Auch wenn sie sagt, dass mit einem neuen Partner alles anders wird?

Carin Cutner-Oscheja: In einigen Punkten ist sie tatsächlich widersprüchlich: Zum einen ist sie offen für alles und will puren Sex. Zum anderen sehnt sie sich nach Zärtlichkeit und Bindung. Und schließlich sagt sie ja selbst, dass die "Beziehung" zu diesem David nicht von Dauer ist. Allerdings würde ich ihr auch nicht raten, sich von ihrem Mann zu trennen. Die meisten Paare kommen zu mir, weil die Leidenschaft irgendwann nachlässt, der Sex. Das ist nichts Ungewöhnliches.

BRIGITTE: Ist Hörigkeit ein Frauenproblem?

Carin Cutner-Oscheja: Nein, das sehe ich nicht so. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass gerade in Ehen oftmals die Männer diejenigen sind, die sich unterwerfen. Wie oft höre ich in der Therapie von Frauen, dass sich zusätzlich zu den Kindern der Mann selbst wie ein Kind verhält. Auch das passt wieder zu dem Spruch: "Sei ein Mann." Viele Männer sind heutzutage allerdings so verunsichert in ihrer Rolle, dass sie nicht mehr wissen, wie sie sich verhalten sollen, ohne in die Sex- und Macho-Schublade gesteckt zu werden.

Protokoll: Birgit Ehrenberg, Interview: Catharina Muuss Foto: Stockphoto Ein Artikel aus der BRIGITTE 21/09

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