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Wie viel Nähe brauche ich?

Paar liegt sich in den Armen, Köpfe aneinander
© dekazigzag / Shutterstock
Ist das tägliche Telefonat mit der Freundin zu viel? Soll ich schon wieder meine Eltern besuchen? Reicht es, wenn ich meinen Partner nur am Wochenende sehe? 21 Fragen und Antworten.

1. Manche Menschen sind am liebsten allein, anderen aber können Beziehungen gar nicht eng genug sein. Ist so ein unterschiedliches Nähebedürfnis von Geburt an in uns angelegt?

Das ist durchaus möglich. Denn etliche Charaktereigenschaften sind angeboren. Allerdings ist noch nicht ausreichend erforscht, wie viel in Sachen Nähe tatsächlich Anlage ist - und wie viel Erziehung. Erfahrungen scheinen aber auf jeden Fall eine Rolle zu spielen. Je nachdem, wie viel Zuwendung und Sicherheit wir als Kind bekommen haben, entwickelt sich unser persönlicher Bindungsstil. Es gibt "sicher gebundene" Menschen, die gar kein Problem haben, Beziehungen einzugehen, Nähe ebenso wie Distanz zu ertragen. Menschen, die in ihrem Leben viel zurückgewiesen wurden, reagieren auf Nähe manchmal misstrauisch - oder aber sie können Distanz nicht gut aushalten und klammern, weil sie Angst haben, den anderen zu verlieren.

2. Lassen wir nicht ohnehin nur sehr wenige Menschen wirklich ganz nah an uns heran?

Das kommt darauf an, wie man Nähe definiert. Sie spielt sich ja auf ganz unterschiedlichen Ebenen ab. Wir können Menschen körperlich, geistig und emotional verbunden sein. Das eine hat oft mit dem anderen nichts zu tun. Dass ein Mensch alle Bedürfnisse erfüllt, funktioniert meist gar nicht. Es ist also normal, dass wir eine Freundin haben, die mehr innere Interessen mit uns teilt als unser Partner. Oder eben viele Freunde, die uns sehr nah sind.

3. Warum ist es oft leichter, die Nähe-Distanz-Balance zu Freunden zu finden als zum Partner oder zur Familie?

Weil Nähe Verletzlichkeit beinhaltet. Menschen, die wir brauchen, von denen wir innerlich stark abhängen, können uns viel leichter weh tun, indem sie unser Nähebedürfnis mit Füßen treten oder uns zu sehr auf den Leib rücken. In Freundschaften dagegen gibt es viel weniger Erwartungen, die Freiheit ist größer. Sie sind quasi das Luxusgut unserer Emotionalität. Wir können mit Freunden deshalb viel stressfreier aushandeln, welchen Raum wir in dieser Beziehung brauchen.

4. Das funktioniert aber nur, wenn beide Seiten die gleiche Vorstellung von Innigkeit haben, oder?

Wenn zwei völlig unterschiedliche Menschen zusammenkommen, ist das erst mal problematisch. Aber auch eine Wachstumschance. Es ermöglicht, über den anderen die eigenen Grenzen zu spüren. Es gibt die Gelegenheit, in einem geschützten Raum Nähe zu erfahren - oder sich zu erlauben, auf Distanz zu gehen. Wichtig ist dabei natürlich, dass die Basis der Beziehung stimmt. Und entscheidend ist auch, dem anderen klar zu machen: "Wenn ich meinen Freiraum brauche, ist das nicht gegen dich gerichtet. Ich brauche das für mich."

5. Frisch verliebt kann es den meisten ja erst mal gar nicht genug Nähe sein. Wie lange hält das an?

Spätestens nach sechs bis acht Monaten kommt selbst bei Ultraverliebten der Wunsch nach Distanz auf. Das ist auch gut, sonst ginge die Liebe an Sauerstoffmangel zugrunde. Zu Beginn einer Partnerschaft befindet sich das Paar in einer symbiotischen Phase. Keinen Schritt ohne den anderen. Unvorstellbar, den Liebsten nicht jede wache Sekunde zu sehen. Es ist, als würde die Zeit stillstehen. Tut sie aber nicht. Das Leben um uns geht weiter, ohne dass wir jedoch nennenswert daran teilnehmen. Und das muss sich wieder ändern. "Wir entdecken im Wir das Ich wieder", beschreibt es die Berliner Diplompsychologin Berit Brockhausen. Plötzlich nerven einen Eigenheiten des Liebsten, die man vorher noch nie wahrgenommen hat: wie er seine Socken im Bad liegen lässt, dass er auf Partys zum dritten Mal dieselben Witze erzählt ...

6. Warum muss das so sein?

Weil es ein effizienter Schutzmechanismus unserer Seele ist. Den Partner mit wacheren Augen zu sehen ermöglicht abzuwägen: Passt er überhaupt zu mir? Ist es wirklich der Mann, den ich mir vorgestellt habe? Gibt es eigentlich genug Zweisamkeit, um darauf dauerhaft zu bauen? Gleichzeitig können wir nicht ewig symbiotisch zusammenglucken, weil wir uns dann auch als eigenständige Persönlichkeiten nicht mehr weiterentwickeln würden. Also beginnt jetzt das erste Gerangel um die Balance von Nähe und Distanz.

7. Wie lange dauert denn das gegenseitige Abchecken?

Nach zwei bis drei Jahren definieren sich die meisten Liebenden auch innerlich als Paar. Dann hat man genug Alltag miteinander erlebt, erste Enttäuschungen überstanden. Und ein tieferes Band zueinander geknüpft, weil man trotzdem zusammengeblieben ist. Die Frage von Nähe und Distanz bleibt aber ein Leben lang das zentrale Beziehungsthema.

8. Und das gilt für alle Beziehungen? Oder gibt es auch ein paar Glückliche, die sich genau gleich nahe sind?

Kann schon sein, dass zwei sehr ausbalanciert sind - aber immer nur phasenweise. Dass man immer wieder auf Abstand geht, um sich zusammen zu finden, ist für Berit Brockhausen "das zentrale Thema jeder Partnerschaft, die wächst und lebendig ist".

9. Das klingt so, als würde zu viel Nähe die Liebe töten?

In gewisser Weise stimmt das. Wir benötigen Distanz, weil jeder in Phasen des Auseinanderdriftens lernen kann, den anderen in seinem Anderssein zu akzeptieren. Egal, ob wir Zeit für uns brauchen, den anderen für ein paar Tage nicht sehen möchten, allein verreisen wollen: Alleinsein hat etwas sehr Positives, wirkt wie eine Frischzellenkur für die Liebe. Man entdeckt Neues an sich - und damit auch aneinander. Das macht zwei Menschen viel spannender füreinander, als wenn alles immer seinen ewiggleichen vorhersehbaren Trott geht. Zusammenglucken ist übrigens der schärfste Feind von gutem Sex. Das ist zumindest die Meinung von US-Therapeut David Schnarch ("Die Psychologie sexueller Leidenschaft", Verlag Klett-Cotta). "Die Liebe sucht die Nähe. Aber das Verlangen braucht die Distanz", sagt er. Weil Distanz Sehnsucht schürt. Weil Getrenntsein vielleicht auch dazu führt, sich endlich mal wieder Gedanken darüber zu machen, was einem selbst und dem anderen im Bett Spaß machen könnte, anstatt immer nur dieselben bewährten und eingefahrenen erotischen Wege zu gehen.

10. Wieso führt ausgerechnet zu viel Nähe zu schlechtem Sex?

Dahinter steckt ein simpler Mechanismus: Irgendwann wird in jeder Beziehung ein Partner kurzzeitig das Gefühl haben, der andere enge ihn ein. Vielleicht ist es ihm gar nicht bewusst. Das Resultat ist aber trotzdem oft, dass er sich körperlich entfernt. In diesem Moment aber leidet das "sexuelle Selbstbewusstsein" des anderen, wie die Paarberaterin Berit Brockhausen das nennt. Wie wir uns selbst, unsere Lust und unseren Partner sehen, hat plötzlich einen Knacks bekommen. Und eine fatale Spirale nach unten beginnt. Darunter leidet dann natürlich auch die Lust.

11: Wie komme ich da wieder heraus?

Da hilft nur eins, sagt US-Psychotherapeut Schnarch: Nicht an der Beziehung arbeiten, sondern an sich selbst. Und dafür sorgen, dass wir unser Selbstbewusstsein zurückerhalten. Das funktioniert, indem wir uns auf uns selbst besinnen, eigenen Interessen und Freundschaften nachgehen, die nichts mit der Partnerschaft zu tun haben. Eine starke eigenständige Persönlichkeit entsteht nämlich nicht dadurch, was der Liebste von uns denkt, sondern durch uns selbst, indem wir uns immer wieder mit uns selbst konfrontieren: Wer bin ich, und wie will ich leben? Erst wer eine starke Persönlichkeit entwickelt habe, "kann lieben, guten Sex haben, zu wahrer Intimität fähig sein", so Schnarch.

12. Manchmal fühlt sich Distanz zu anderen aber einfach nur mies an...

Das stimmt. Wenn man merkt, dass sich Freunde oder der Partner innerlich immer stärker zurückziehen, ohne darüber zu sprechen, dann kann das ein Signal sein, dass die normale Nähe-Distanz-Regulierung gerade nicht gut funktioniert. Also: ansprechen und vorsichtig fragen, was los ist. Wenn man selbst derjenige ist, der sich gern zurückziehen möchte, sollte man in jedem Fall mit dem anderen darüber sprechen. Was genau stört mich zurzeit am anderen? Was ist der Grund, dass ich mich immer weiter zurückziehe? In der Partnerschaft ist es wichtig, ganz bewusst wieder nach so genannten Harmoniefeldern zu suchen, nach Dingen, die beiden Spaß machen und gut tun. Und diese zu pflegen. Das können gemeinsame Bergtouren sein. Oder es kann eine Reise sein, die man schon länger mal vorhatte. Oder gemeinsam kochen, vielleicht auch, mehr Sex miteinander haben. Die Hauptsache ist, dass sich beide damit wohl fühlen und ein Gefühl von Verbundenheit entsteht.

13. Wie gehe ich damit um, wenn mir plötzlich jemand eröffnet, er brauche mehr Freiraum als ich?

Erst mal klingt das nach emotionaler Einbahnstraße. Aber im Grunde sind beide betroffen. "Demjenigen, der sich gerade erstickt fühlt, der sich aus der Umklammerung lösen will, geht es auch nicht gut damit", weiß Psychologin Brockhausen. Um herauszubekommen, warum die Nähe-Distanz-Regulation gerade nicht stimmt, bedarf es ein bisschen detektivischen Feingefühls: Was genau stellt sich der andere unter mehr Freiraum vor? Gibt es vielleicht einen Weg, wie das Bedürfnis des einen nach Sicherheit dennoch befriedigt werden kann? Beispiel: Er möchte gern mit seinem Kumpel vier Wochen allein in den Urlaub fahren. Sie sieht schon vor ihrem geistigen Auge, welche Frauen er kennen lernt, wie weit er sich von ihr entfernt, wie er völlig verändert zu ihr zurückkommt. Das macht Angst. Und dieses Gefühl muss derjenige ernst nehmen, der geht, indem er sich auf Abmachungen einlässt: jeden dritten Tag miteinander zu telefonieren. Oder regelmäßig SMS zu schicken. Nähe entsteht ja nicht, wenn einer unfreiwillig bleibt oder der andere vor Sorge vergeht. Nähe wächst nur dann, wenn sich zwei Menschen miteinander wohl fühlen.

14. Wenn schon zusammenlebende Paare manchmal Nähe-Distanz-Probleme haben, wie sieht es dann bei Fernbeziehungen aus?

Gar nicht so schlecht. In Deutschland führt etwa jedes achte Paar eine Fernbeziehung, bei Studenten sogar jedes vierte. Das erstaunliche Ergebnis einer Umfrage des Kondomherstellers Durex ergab: Obwohl viele sich mehr Zeit mit dem Partner wünschten, blieben die meisten Befragten zusammen. Und: Sie betrogen ihre Partner sogar seltener als Paare, die zusammenleben - 20 im Vergleich zu 30 Prozent. Andererseits haben Forscher auch festgestellt, dass Fernbeziehungen nicht ewig halten. Letztendlich fehlt dann doch genug alltagstaugliche Nähe.

15. Wie lange gehen denn Beziehungen auf Distanz gut?

Treffen gerade mal jedes Wochenende oder auch nur alle paar Wochen und immer wieder Abschiednehmen: Bei den meisten Fernbeziehungspaaren ist nach zwei, drei Jahren der Punkt erreicht, an dem sie eine Entscheidung herbeiführen. Und die heißt: Trennung - oder eben endlich zusammenzuziehen.

16. Manche müssen aber noch länger durchhalten...

Das stimmt. Der Mainzer Soziologe Norbert Schneider hat in einer Studie 1000 Paare befragt und herausgefunden: Die meisten sind aus beruflichen Gründen räumlich getrennt - die Mehrheit sogar schon drei Jahre oder länger. Das gemeinsam durchzuhalten, geht nur mit Disziplin. Und das bedeutet: möglichst viel miteinander reden, auch unter der Woche. Und zwar über alles - den banalen Alltag wie über Probleme, "der andere soll am Leben des Partners teilnehmen und nicht geschont werden", sagt Berit Brockhausen. Ebenfalls wichtig: sich regelmäßig sehen, immer mal wieder ein verlängertes Wochenende einplanen. Und vor allem: Die gemeinsame Zeit nicht mit jeder Menge Unternehmungen überfrachten. Liebe auf Distanz ist immer eine Liebe unter verschärften Bedingungen. Aber eben auch eine Situation, in der man sehr viel über sich und seinen Partner lernen kann.

17. Wie soll das genau funktionieren?

Aus Leere wird Ruhe. Und man kann sich auf sich selbst konzentrieren. Wenn wir gern auch mal eine Weile mit uns allein sind, erlauben wir auch dem anderen die Einsamkeit und die Zeit für sich. Daraus entsteht Vertrauen: dass der andere sich entfernen und wiederkommen kann. Und wir selbst erfahren, dass wir existieren können auch ohne den anderen. Deshalb sollten in jeder Partnerschaft beide unbedingt darauf achten, eigene Interessen zu verfolgen und eigene Freundschaften zu pflegen. Das schafft Freiheit. Und macht die Liebe freiwillig.

18. Wie viel muss man eigentlich voneinander wissen, damit man sich wirklich nah sein kann?

Dafür gibt es kein Maß. Dass erwachsene Kinder ihren Eltern nicht mehr alles erzählen, gehört schlichtweg zum Abnabelungsprozess. Und selbst die allerbesten Freunde müssen nur das von uns wissen, was wir auch tatsächlich preisgeben wollen. Sogar für eine Partnerschaft gilt das in einem gewissen Maße. "Geheimnisse sind etwas Großartiges. Sie schützen die psychische und physische Integrität unseres Privatlebens und das der Menschen, die wir lieben", schwärmt der französische Psychoanalytiker Serge Tisseron ("Die verbotene Tür. Familiengeheimnisse und wie man mit ihnen umgeht," Verlag Antje Kunstmann). Allerdings unterscheidet er gute von schlechten Geheimnissen. Heimlich Tagebuch führen, Schundromane lesen, eine Weltreise planen, die vielleicht nie stattfinden wird: Das macht uns und das Leben ein bisschen spannender. Auch Geheimnisse, die die aktuelle Partnerschaft nicht unmittelbar betreffen, müssen nicht auf den Tisch. Mit wem Sie früher mal Sex hatten und ob der eher prickelnd oder zum Davonlaufen war, braucht der andere nicht zu wissen. Aber vielleicht ist es gut, mit ihm irgendwann darüber zu sprechen, warum die letzte Beziehung gescheitert ist und welche Ängste man deshalb für die jetzige mitgenommen hat. Grundsätzlich gilt: "Nur weil ich jemanden liebe, bin ich nicht verpflichtet, ihm alles zu erzählen", sagt die Paarberaterin Brockhausen. Allerdings rät sie dazu, immer über die aktuellen Probleme zu sprechen: wenn es im Job nicht läuft oder wenn man fundamentalen Ärger mit der Familie hat, zum Beispiel. Wer das nicht tut, entzieht sich seinem Partner. Und betrügt sich selbst um das gute Gefühl: "Der andere kennt mich so, wie ich wirklich bin."

19. In Freundschaften funktioniert Offenheit ja oft prima. Aber in der Liebe, heißt es doch, macht Rückzug gerade erst interessant...

Hinter Nähe-und-Distanz-Spielchen steckt häufig Angst. Und Ambivalenz. Viele Menschen sehnen sich nach Nähe - und fürchten sie, weil sie schlechte Erfahrungen damit gemacht haben. Wenn sie große Sehnsucht spüren, schrillen alle inneren Alarmglocken. Das ist nicht spannend, das ist unreif. Höchste Zeit, den anderen damit zu konfrontieren! Echte Nähe bedeutet, dass sich der andere meiner weitgehend sicher sein kann, auch wenn ich mich von ihm entferne. Das gilt für Freundschaften übrigens wie für die Liebe.

20. Und was, wenn ich das Nähe-und-Distanz-Spielchen ganz bewusst einsetze, um wieder ein bisschen Schwung in die Liebe zu bringen?

Etwas taktieren, sich im richtigen Moment zurückziehen, nicht ständig verfügbar sein: Das könnte, sparsam dosiert, die Liebe beleben, behauptet der Berliner Autor und Psychologe Bas Kast. Aber langfristig zermürbt es: "Schließlich spielt man dauernd einen Menschen, der man nicht wirklich ist, mit Bedürfnissen, die man nicht wirklich spürt", warnt Paarberaterin Brockhausen. Das ist für beide extrem anstrengend. "Wenn man es ernst meint, sollte man seinem Partner auch sagen, dass man ihn braucht und liebt", so Psychologin Brockhausen. So einfach ist das.

21. Wie viel Nähe brauche ich also?

Genau so viel, dass Sie sich in Balance fühlen. Wir bedürfen der Zweisamkeit ebenso wie der Unabhängigkeit. Das eine existiert nicht ohne das andere. Ist die Distanz zu anderen Menschen zu groß, binden wir uns nicht an den anderen. Verschmelzen wir komplett mit dem anderen, bleibt wiederum kein Raum mehr, sich selbst zu entwickeln. Beziehungen zu anderen sind immer der Versuch, das ideale Verhältnis von Nähe und Distanz zu finden. Und zwar nicht ein für alle Mal. Sondern immer wieder neu.

Text: Anne-Bärbel Köhle BRIGITTE BALANCE 02/2007

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