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Gefühlserbschaften Wie das Kriegstrauma unserer Vorfahren unser Leben beeinflusst

Angela Moré: Gesichter einer älteren und jungen Frau
© Rawpixel.com / Adobe Stock
Der Großvater als Täter im Nationalsozialismus, die Flucht der Mutter als Kleinkind aus Ostpreußen? Die Sozialpsychologin Angela Moré über deutsche Gefühlserbschaften, die heute noch nachwirken.

BRIGITTE: Frau Moré, vor einigen Jahren erschienen die Bücher der Journalistin Sabine Bode*, in denen sie nicht nur über die Traumata der Generation schreibt, die den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebt hat, sondern auch darüber, wie das wiederum deren Kinder bis heute beeinflusst hat, also die "Kriegsenkel" etwa der Jahrgänge 1960 bis 1975. Ihr Fazit war: Es sei eine verunsicherte, ängstliche Generation, der der feste Boden unter den Füßen fehlt. Ist es wirklich möglich, dass eine ganze Generation immer noch davon geprägt davon ist, was ihre Großeltern im Krieg erlebt haben? 

ANGELA MORE: Es ist sicherlich nicht die ganze Generation, denn die Menschen haben damals Unterschiedliches erlebt, und nicht alle waren gleichermaßen stark betroffen und auch nicht alle traumatisiert. Aber richtig ist: Die Kinder von traumatisierten Elternteilen, die Flucht, Vertreibung, Bombardierung, Vergewaltigung erlebt haben, also die Kriegskinder, haben viel von dem Leiden ihrer Eltern aufgesogen und teilweise ja auch selbst traumatisierende Erfahrungen gemacht. Dazu kommt, dass gerade in der deutschen Geschichte auch die Schuld eine große Rolle spielt, die später oft verleugnet und verdrängt wurde. Die Mixtur aus Schuld- und Schamanteilen einerseits und traumatischen Elementen andererseits haben die Eltern-Kind-Beziehungen geprägt: bestimmte emotionale Dinge konnten gar nicht mitgeteilt und mussten ausgespart werden, weil es Eltern an Schreckliches erinnert oder Beschämung hervorgerufen hat. Und das wiederum führt zu bestimmten Lücken im eigenen emotionalen Spiegeln und Erleben, die sich auch auf den Umgang mit den eigenen Kindern auswirken können.

Würde man denn wirklich von einem Trauma sprechen, das an die nachfolgende Generation vererbt wird? Oder ist es etwas anderes?  

Es gibt Traumata, die werden reinszeniert und dadurch direkt weitergegeben: Da ist beispielsweise der Junge, der von seinem Vater immer geschlagen wurde und später dann seine eigenen Kinder schlägt. Doch oft ist es so, dass die Nachkommen nicht das Trauma erben, sondern die emotionale Belastung der Eltern übernehmen. Sie spüren die Ängstlichkeit, die Depressivität. Das ist eine indirekte Weitergabe, eine Gefühlserbschaft. Die Kinder kümmern sich dann besorgt um ihre Eltern, sie möchten sie trösten und schützen. Oft können sie sogar Bilder darüber produzieren, die dem ähneln, was die Eltern als Trauma erlebt haben, selbst wenn nie darüber gesprochen wurde. Es gibt Kinder, die sind nach dem Krieg geboren und träumen von Bombardements.

Es heißt oft, dass die Kriegskinder geschwiegen haben, um ihre Eltern zu beschützen, während deren Kinder anfingen, Fragen zu stellen und versuchten, das Gegenteil der Eltern zu leben. 

Ja, die Kinder der Erwachsenen im Krieg, gerade auch in Täterfamilien, fühlten die Verpflichtung, zu schweigen. Sie merkten: Das ist ein Tabu. Die nächste Generation hatte einen anderen Bezug zu ihren Großeltern und konnte eher Fragen stellen, weil der zeitliche und emotionale Abstand ein anderer war. Aber das heißt nicht, dass sie mit diesen Fragen immer weiterkamen. Sie trafen nicht immer auf Großeltern, die bereut haben, sondern auch auf solche, die immer noch an Hitler geglaubt haben. Und ir merken ja jetzt gerade, dass in der dritten oder auch vierten Generation wieder unbewusste Identifikationen auftauchen. Menschen, die zum extrem rechten Spektrum neigen, sind keine Randbewegung mehr. Das sind relativ viele, gerade unter den jüngeren Männern. Dazu passt auch, dass jeder dritte der jüngeren Männer Gewalt in Beziehungen anscheinend für akzeptabel hält. 

Sie glauben, dass die Haltung zur Gewalt und das Erstarken der Rechten eine Folge unserer Geschichte ist? Durch transgenerationale Weitergabe?  

Überlegen Sie sich mal, was es bedeutet, wenn in einer Familie sehr autoritäre Strukturen herrschen – der Mann hat das Sagen, die Frau ist von ihm abhängig, so wie es vor wenigen Generationen der Normalfall war: Wie wurden dann die Kinder erzogen? Welches Rollenbild wurde ihnen vermittelt? Natürlich, es gab die Protestreaktionen der 68er, die sich abgrenzen und alles anders machen wollten als ihre Eltern. Dadurch sind andere Erfahrungen ermöglicht worden, auch kleine Jungs durften weinen und Zugang zu Gefühlen haben. Aber in nicht wenigen Familien wurde das klassische, machohafte Rollenbild so weitergegeben, und es führt bei einer bestimmten Gruppe von Männern zu einer massiven Verunsicherung, wenn es nicht eingehalten wird. Sie dürfen auch nicht vergessen: Sehr viele und keineswegs nur alte Menschen haben eine autoritäre, körperfeindliche, emotional abstrafende Erziehung erlebt, wie sie in Johanna Haarers Erziehungsratgeber "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" empfohlen wurde, das früher im Buchregal fast jeder Familie in Deutschland stand. Das Buch wurde noch bis in die 1990er Jahre verkauft, nur ohne das Adjektiv "deutsch" im Titel und ohne das Vorwort von Hitler. Viele Mütter haben sich daran gehalten, weil sie es nicht besser wussten.

Die Kriegskinder von damals sind heute alt. Soll man als Tochter, als Sohn, das Gespräch mit ihnen über die Zeit und ihre Erlebnisse damals suchen, auch wenn sie sagen: Ach, das ist jetzt doch so lange her? 

Ich würde es dann nicht ruhen lassen, wenn es einen selbst beunruhigt. Wenn man das Gefühl hat, etwas ist in mir, was ich nicht verstehe, was vielleicht mit meiner Familiengeschichte zu tun haben könnte. Man muss dafür nicht unbedingt seine alten Eltern konfrontieren, vielleicht leben sie ja auch gar nicht mehr. Manchmal findet man noch Briefe, Dokumente. Teilweise kann man über Behörden herausfinden, wo die Großväter eingesetzt waren. Manchmal ist es schon aufschlussreich, wenn man nur weiß, wo die Großeltern gelebt haben und schaut, was da in der Zeit passiert ist. Aber wenn es möglich ist, mit der älteren Generation zu sprechen, um so besser.

Angela Moré, geboren 1954, ist Professorin für Sozialpsychologie an der Leibniz Universität Hannover sowie Mitbegründerin des gruppenanalytischen Instituts GIGOS. Sie forscht u.a zur unbewussten Weitergabe von Traumata und Schuld, auch insbesondere im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus.  

*Sabine Bode: "Nachkriegskinder", "Die vergessene Generation" und "Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation" (alle Klett-Cotta)

Brigitte

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