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Wenn Kinder ausziehen "Ich kann jetzt immer sicher sein, dass abends noch was zum Essen da ist"

Wenn Kinder ausziehen: Junge Frau zieht um
© Antonio Guillem / Shutterstock
Wenn Kinder von zu Hause ausziehen, bleiben Abi-Unterlagen, Bücher, Kuscheltiere zurück. BRIGITTE-Autorin Eva Meschede über das verlassene Zimmer in ihrer Wohnung.
von Eva Meschede

"Die kleine Hexe" neben dem Rousseau, "Harry Potter" rahmt "Das Foucaultsche Pendel", die "Lustige Taschenbuch"-Sammlung trifft auf "Der Teufel trägt Prada" und ganz oben auf dem Regal: Stoffaffe Stephan, Nilpferd Jakob und Kuschelkissen Yasmini. Die Dinge gehören meiner Tochter, 26 Jahre alt und schon lange ausgezogen.

Diagnose: Empty-Nest-Syndrom

"Warum steht das Zeug hier eigentlich noch herum?", fragt eine Freundin, als sie zu Besuch bei mir im Kinderzimmer übernachtet. Sie diagnostiziert bei mir ein Empty-Nest-Syndrom, Trauer, Einsamkeit und die Hoffnung, dass das Kind zurückkehrt. Dabei habe ich längst die Vorteile des Alleinlebens erkannt: Ich kann mir jetzt immer sicher sein, dass abends noch etwas zum Essen im Kühlschrank ist, dass meine Socken oder T-Shirts nicht vergesellschaftet werden, und dass nie mehr plötzlich Rammstein durch die Wohnung schallt, während ich in Ruhe arbeiten will.

Natürlich habe ich manchmal die selbstverständliche Nähe vermisst, die das Zusammenwohnen mit sich brachte. Sogar die laute Musik. Aber ich hatte nie den Schock einer plötzlich Verlassenen, denn meine Tochter und ich haben das Loslassen geübt. Sie hatte schon mit 16 einen älteren Freund mit Studentenbude und war oft länger bei ihm. Oder sie reiste monatelang durch die Welt. Noch während sie offiziell bei mir wohnte, legten wir fest, dass wir sonntags zusammen essen. Und das haben wir beibehalten. Sie ist ja in der Stadt geblieben (wegen des Freundes, nicht wegen mir).

Aber ein Museumszimmer in meiner Wohnung will ich nicht mehr. "Wir müssen jetzt mal das Zimmer ausräumen", sage ich nun schon bestimmt seit zwei Jahren. Die Antworten: "Das können wir doch im Winter machen", "Ich muss erst meine Bachelor-Arbeit fertig schreiben", "Jetzt? Wo ich den anstrengenden Ferienjob habe?" ... "Mein Zimmer", sagt sie. "Dein Zimmer?", frage ich dann kritisch. Einmal versuchte ich, allein anzufangen. Ich fand ein Notizbuch mit Gedichten, Schülerzeitungen mit ihren ersten Schreiberfolgen, Vokabelhefte für den Russisch-Kurs, Briefe, Postkarten – und fühlte mich wie ein Einbrecher.

Kinderzimmer signalisiert Sicherheit

Neulich dann dämmerte mir, dass es nicht nur Bequemlichkeit ist, wenn wir beide nicht weiterkommen. Ob sie vielleicht für ein paar Wochen wieder bei mir einziehen dürfte, sollte sie mal etwas Abstand in ihrer Beziehung brauchen, fragte meine Tochter. So erwachsen und selbstständig sie auch ist, sie hat noch gern einen Fuß in der Tür zur Wohnung ihrer Mutter. So ein halb ausgeräumtes Zimmer signalisiert: "Wenn du mich brauchst, stehe ich zur Verfügung." Das gibt Sicherheit.

Warum sollte man das loslassen? Und warum sollte ich das Loslassen erzwingen, solange ich den Raum nicht dringend brauche? Die "Harry Potter"-Kassetten werde ich aber mal entsorgen.

Eva Meschede ist im Gästezimmer ihrer Eltern selbst bei jedem Besuch wieder mit ihren kindlichen Hinterlassenschaften und denen ihrer Geschwister konfrontiert.

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BRIGITTE 22/2020

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