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Unsichere Zeiten Wie wir damit umgehen können

Unsichere Zeiten: Frau schaut nachdenklich
© Look Studio / Shutterstock
Globale Krisen, Pandemien, Klimawandel, befristete Jobs: Unsicherheit ist das Gefühl unserer Zeit. Es frisst sich in unseren Alltag und macht uns krank. Der renommierte Hirnforscher Professor Achim Peters sagt, wie wir uns davor schützen können.

BRIGITTE WOMAN: Was ist Unsicherheit aus der Sicht eines Hirnforschers, Herr Professor Peters?

PROFESSOR ACHIM PETERS: Wenn sich eine Lebenssituation verändert und plötzlich bedrohlich wird, dann stellen sich alle Menschen eine Frage – die Frage des Lebens: Welche meiner Strategiemöglich­keiten soll ich auswählen, um mein zukünftiges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden sicherzustellen? Wer diese Frage in einer Krise nicht sicher beantworten kann, der entwickelt Stress. So wird aus Unsicherheit Stress.

Nehmen wir folgendes Beispiel: Ein Arbeitnehmer weiß nicht, ob er kündigen oder bleiben soll.

Typisch wäre: Der ist schon älter, der Leistungsdruck wird erhöht, Jüngere rücken nach, es kommt womöglich zu Mobbing. Das ist eine unerträgliche Situation, und der Betroffene müsste eigentlich weg. Aber vielleicht hat er noch eine Familie zu versorgen, oder es gibt andere Verpflichtungen. Und dann stellt sich der Arbeitnehmer vor, wie es ihm wohl in fünf Jahren geht. In einem Szenario sieht er sich weiter in dieser Firma arbeiten, der Druck steigt, vielleicht kriegt er einen Herzinfarkt, weil er sich so ärgert. Die andere Alternative ist, dass er kündigt, dann aber findet er wegen seines Alters keinen gleichwertigen Job mehr. Und jetzt vergleicht er die Szenarien, beide sind gleichermaßen inakzeptabel, und er weiß nicht, was er tun soll.

Was passiert da im Gehirn?

Es gibt im Gehirn ein Areal, das Unsicherheit feststellt: der Anteriore Cinguläre Cortex, kurz ACC. Dieser ACC vergleicht Strategien, insbesondere deren Risiko. Wenn da eine bedrohliche Situation ist, und alle Strategien sind hochriskant, dann setzt der ACC ein Unsicherheitsbeseitigungsprogramm in Gang. Und sobald das anspringt, sagt man umgangssprachlich: Ich habe Stress.

Ein gefürchteter Zustand.

Stress fühlt sich zunächst mal unangenehm an: innere Spannung, Unruhe, das Herz pocht, flaues Gefühl in der Magengegend, Zittern. Er ist aber eigentlich etwas Gutes, weil er dazu dient, die beste Strategie zu finden, indem er das Gehirn im Grunde tunt. Die Stresshormone Noradrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet, Ersteres macht überwach: Die Leistungsfähigkeit steigt an, die Nerven arbeiten auf vollen Touren. Das Ziel ist, möglichst schnell möglichst viel Information zu verarbeiten und mit ihrer Hilfe die beste Strategie zu finden. Entweder eine aus dem bewährten Repertoire – oder es wird eine neue entwickelt.

Idealerweise hält dieser Stress nur kurz an.

Ich prüfe häufig Studenten, die sitzen da leichenblass und gequält, und dann sagt man: Sie haben bestanden! Diese Freude – das ist guter Stress. Man hat eine Herausforderung gehabt...

…und sie bewältigt. Nachts schlummert man wie ein Baby. Sie nennen das den "Heldenschlaf".

Der Cortisolspiegel sinkt nach der bestandenen Prüfung. Und bei niedrigem Cortisol speichert das Gehirn im Tiefschlaf der ersten Nachthälfte all die Strategien im Langzeitgedächtnis, die vorher erfolgreich waren. Beim nächsten Mal können wir sie wieder anwenden.

Aber es gibt auch schlechten, toxischen Stress.

Beim toxischen Stress finden Menschen über längere Zeit keine Lösung auf die Frage des Lebens, etwa auf Probleme bei der Arbeit oder in der Beziehung. Sie können Unsicherheit nicht auflösen. Ihr Beseitigungsprogramm arbeitet dauernd, aber frustran, erfolglos.

Die schlimme Anspannung, die der Prüfling nur kurz erlebte, hat man dann ständig.

Tag und Nacht. Der Betroffene hat eine hohe Konzen­tration des Stresshormons Cortisol im Blut, weil sein Beseitigungsprogramm dauernd aktiv ist. Und dieser dauerhaft hohe Cortisolspiegel führt dazu, dass man nicht in den Schlaf kommt. Die Strategien haben ja nicht zum Ziel geführt. Also wäre es sinnlos, sie im Heldenschlaf abzuspeichern. Was stattdessen passiert, ist nächtliches Grübeln, die Gedanken kreisen, aber man findet keine Lösung.

Was geschieht im Körper bei Dauerunsicherheit?

Im normalen Alltag befindet sich unser Gehirn in einer Art Ökomodus, es arbeitet sparsam und untertourig. Wenn aber das Unsicherheitsbeseitigungsprogramm anspringt, geht es in einen Turbomodus, um mehr Information pro Sekunde an den Nervenendigungen zu übertragen. Und dafür braucht es sehr viel Energie.

Wie beim Auto: Wer schneller fahren will, geht aufs Gas.

Das Gehirn hat mehrere Strategien, mit denen es diese Energie aus dem Körper bestellt. Die erste: Es befiehlt dem Herz, schneller zu schlagen. So gelangt mehr Blut pro Sekunde zum Gehirn. Das Blut enthält Glukose. Im Stress benötigt das Gehirn Unmengen davon. Doch wenn das Blut über längere Zeit zu schnell fließt, dann bilden sich vor allem an den Gefäßgabelungen Turbulenzen. Die führen zu Ablagerungen, Plaques, also Atherosklerose. Schließlich zum Gefäßverschluss. Verschließen sich die Halsschlagadern, erleiden wir einen Schlaganfall, wenn das an den Herzkranzgefäßen passiert, entsteht ein Herzinfarkt.

Ein Alarmsignal dafür ist der Bluthochdruck. Inwiefern?

Bei Turbulenzen fließt das Blut weniger reibungslos durch die Gefäße. Wenn das gestresste Gehirn feststellt, dass zu wenig Blut bei ihm ankommt, befiehlt es dem Herzen, mehr Blut zu pumpen – so steigt der Blutdruck.

Eine andere Energiebeschaffungsmethode des Gehirns führt dazu, dass wir abnehmen.

Die nennt man zerebrale Insulinunterdrückung. Das Gehirn befiehlt der Bauchspeicheldrüse, die Insulin produziert: Ausschüttung stoppen. Insulin ist ein Speicherhormon, es speichert normalerweise Glukose in Muskeln und Fettgewebe. Das Gehirn lenkt unter Stress die Glukose einfach zu sich um. Doch wenn das auf Dauer geschieht, wird man immer dünner. Denn es kann ja nichts im Körper gespeichert werden.

Menschen, die dünn mit Bauch sind, haben das größte Infarktrisiko.

Und doch bekommt man einen Bauch?

Ja. Unter dem Stresshormon Cortisol vermehren sich die inneren Bauchfettzellen. Denn das Gehirn kann bei Bedarf aus diesen Bauchdepots Extraenergie für die Hirnversorgung mobilisieren. Wenn man mal eine Prüfung hat, passiert nichts, aber wenn der Stress dauerhaft und toxisch ist, bildet sich dieses innere Bauchfett als Vorrat für das Gehirn. Das heißt: Menschen, die dünn mit Bauch sind, haben das größte Infarktrisiko, das zeigen alle modernen Studien.

Gestresste Menschen können aber auch dick werden.

Dick wird man durch Habituation, also Gewöhnung an Stress, und die Fähigkeit dazu ist etwa 50 zu 50 in der Bevölkerung verteilt. Die einen kriegen toxischen Stress, und die anderen, das ist genetisch bedingt, sitzen belastende Lebenssituationen sozusagen aus. Dadurch entkommen sie dem toxischen Stress und seinen Folgen, aber das hat einen Nachteil: das Gewicht. Habituierer fahren in Stresssituationen irgendwann nicht mehr hoch, sondern sie bleiben im Öko­modus. Sie verbrauchen deshalb unterdurchschnittlich viel Energie im Gehirn und nehmen am Körper zu. Wenn die Kunden nicht kaufen, bleiben die Regale voll – das weiß jeder Kaufmann.

Wer dick ist, wird ruhiger, aber passiv?

Genau. Das ist eine zweitrangige Lösung, denn da findet eine Gewöhnung statt in Situationen, die andere nicht dulden würden. Die primäre Lösung wäre, die Unsicherheit aufzulösen, sich für die eigenen Interessen einzusetzen.

Welche psychischen Folgen hat Unsicherheit?

Unter Stress wird die Stimmung schlecht, das kennt man aus Prüfungen. Wer das auf Dauer hat, dessen Stimmung bleibt unten, er entwickelt eine sogenannte typische Depression. Depressive laufen innerlich auf Hochtouren und haben noch die Möglichkeit, eine primäre Lösung zu finden, die Krise zu bewältigen.

Wir haben Stress vor allem aus psychosozialen Gründe

Um aus Krisen doch noch herauszukommen, sollten wir etwas über die häufigste Ursache von Stress wissen, schreiben Sie.

Wir haben Stress vor allem aus psychosozialen Gründen, das heißt, es sind immer andere Menschen im Spiel. Studien zeigen, dass es überall einen kleinen Prozentsatz von Menschen gibt, die sehr aggressiv sind. Psychiater haben für solche hochaggressiven Charaktere den Begriff der Dunklen Triade geprägt. Sie haben mindestens eine der folgenden drei Eigenschaften, mittel oder stark ausgeprägt: Die erste ist Machiavellismus, das heißt, solche Menschen beuten andere aus. Die zweite Eigenschaft ist Narzissmus, diese Menschen wollen immer bewundert werden. Die dritte ist Psychopathie, Betroffene zeigen kein Mitleid, handeln gefühlskalt. Angehörige dieses Typs gibt es überall, in der Familie, im Berufsleben, aber vor allem in Führungs­etagen, denn mit diesen Eigenschaften kommt man die Karriereleiter besser hoch.

Solche Chefs will man aber nicht haben.

Eine Unternehmensberaterin, die Prozessabläufe in großen Firmen untersucht, erzählte mir, dass das Hauptproblem oft toxische Chefs sind. Die bringen extreme Unruhe, weil sie nur zum eigenen Vorteil handeln. Sie teilen nicht, suchen keine konstruktiven Lösungen, halten sich nicht an Absprachen.

Das heißt, manchmal müsste man gar keine Prozesse optimieren, sondern nur eine aggressive Führungskraft loswerden...

Ja. Und durch eine kooperative ersetzen.

Ich kann aber weder ein Familienmitglied noch meine Vorgesetzten entlassen.

Ich kann aber schauen, wo in meinem Umfeld solche Menschen zu finden sind: in der Familie, im Job? Dunkle Triaden haben bestimmte Strategien. Wenn man die versteht, dann kann man sich dagegen schützen.

Was für Strategien?

Der wichtigste Ansatzpunkt ist, dass sie unsere Zielvorstellungen manipulieren. Das sind etwa Vorstellungen, wie viel Geld ich verdienen möchte, wie ich arbeiten will, wie ich mir eine Beziehung wünsche.

Haben Sie ein Beispiel?

Jemand will sich ein Auto kaufen, es soll mittelgroß sein, günstig, Hersteller egal. Jetzt kommt der in die Fänge von Werbern, und die schmeicheln und sagen, eigentlich brauchst du doch einen Mercedes, bei deinem hohen sozialen Status. Am Ende glaubt der Kunde, keine Wahl zu haben, und kauft tatsächlich den teuren Wagen. In der Beziehung passieren solche Dinge auch: Man braucht etwas Bestimmtes zum Glücklichsein, vielleicht ein Hobby, und der Partner überredet einen, darauf zu verzichten. Und dann fragt man sich, warum es einem nicht mehr gut geht.

Weil man etwas tut, was nicht zur eigenen Persönlichkeit passt.

Es geht darum, Autonomie zu bewahren. Wer sich nicht vereinnahmen lässt, kann seine Ziel­vorstellungen halten und die auch durchsetzen.

Wenn ich in einer prekären Beschäftigung bin, von Jobverlust bedroht, kann ich aber nichts durchsetzen.

Deswegen sind die Dunklen Triaden ja auch darauf gekommen, dass man kurze Verträge macht. Und wer nicht spurt, der muss halt gehen.

Wie entkomme ich so einer Zwickmühle?

Wenn alles nichts nützt und kündigen keine Variante ist, bietet Psychotherapie Hilfe. Die kann Muster aufdecken und Zielvorstellungen identifizieren, die nicht die eigenen sind. Vielleicht hat eine junge Frau immer das Gefühl, die Wünsche ihrer Eltern erfüllen zu müssen, und die würden gern sehen, dass die Tochter Karriere macht. Eigentlich will die Frau gar nicht so hoch hinaus, wäre mit einem mittleren Job zufrieden. Doch sie stellt ihre Wünsche hintan, um den Ehrgeiz der Eltern zu befriedigen. Und das erzeugt Druck. In der Therapie würde die junge Frau lernen, die eigenen Ziele höher zu werten.

Ich kann mich also fragen, ob ich auch mit weniger oder etwas anderem zufrieden bin?

Wenn man Unsicherheit auflösen will, ist es eine Möglichkeit, zu überlegen, ob man vielleicht die eigenen Zielvorstellungen ändern kann. Aber das darf nicht in ein "Mir ist alles egal, ich gebe mich jetzt auf" ausarten, dann nützt es auch wieder nichts.

Alkohol erzeugt so eine Alles-egal-Haltung.

Alkohol, Marihuana oder auch Beruhigungsmittel legen das Unsicherheitsbeseitigungsprogramm lahm. Dadurch wird man passiv und löst sein Problem überhaupt nicht.

Können wir denn wirklich immer was machen?

Nein, und das ist mir wichtig zu unterscheiden. Es gibt einige Formen von Unsicherheit, die lassen sich bewältigen, und dann gibt es andere Situationen, da existiert de facto kein Ausweg. Wenn es um Armut und soziale Ungleichheit geht, kann der Einzelne überhaupt nichts machen. Das ist eine dringende politische Aufgabe. Denn wenn die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergeht, wie das seit Kriegsende in Deutschland der Fall ist, leidet die ganze Gesellschaft.

Armut zieht auch die runter, die davon nicht betroffen sind?

Internationale Studien haben gezeigt: In Gesellschaften, in denen die Schere groß ist, etwa den USA, gibt es im Vergleich zu anderen Ländern mehr junge Menschen mit schlechten Lese- und Rechenfähigkeiten, mehr brechen die Schule ab, haben prekäre Beschäftigungen, nehmen Drogen, sitzen in Gefängnissen. Die Leute leiden unter Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sterben früher und sind häufiger dick. Außerdem: Menschen, die in ungleichen Gesellschaften leben müssen, vertrauen einander nicht. Denn wer dauerhaft unsicher ist, ist mit den eigenen Sorgen beschäftigt, schottet sich ab. Eine gute Gesellschaft braucht Menschen, die sich sicher fühlen. Und deshalb appelliere ich an die Politik, die Armut zu bekämpfen und für eine gerechtere Verteilung von Bildung und Einkommen zu sorgen, denn auch Bildung sorgt für mehr Sicherheit und hilft, Probleme besser zu bewältigen.

Professor Achim Peters, geboren 1957 in Dortmund, ist Hirnforscher, Adipositas-Spezialist und Professor für Innere Medizin/Endokrinologie und ­Diabetologie an der Universität zu Lübeck. Er leitet seit 2004 die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Klinische Forschergruppe "Selfish Brain: Gehirnglukose und metabolisches Syndrom" an der Uni Lübeck und entwickelte die ­Selfish-Brain-Theorie, die durch experimentelle Verfahren mit gesunden und kranken Testpersonen untermauert wurde. 2011 erschien sein Bestseller "Das egoistische Gehirn – Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft", 2013 folgte seine provokante Aufklärungsschrift "Mythos Übergewicht – Warum dicke Menschen länger leben".

Zum Weiterlesen:

Achim Peters: "Unsicherheit: Das Gefühl unserer Zeit. Und was uns gegen Stress und gezielte Verunsicherung hilft", 432 Seiten, 20 Euro, C. Bertelsmann.

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BRIGITTE WOMAN 06/2020

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