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"Ich wünsche dir jetzt viel Kraft" Warum wir diesen Satz nicht mehr zu Menschen sagen müssen, die trauern

Psychologie: Eine traurige Frau auf einer Treppe
© Warpboyz / Shutterstock
"Ich wünsche dir jetzt ganz viel Kraft!" Hat dir das auch schon mal jemand gesagt, als es dir schlecht ging? Oder hast du es jemand anderem gewünscht? Sicherlich gut gemeint. Aber ...

Ich erinnere mich noch genau, wie es war, als vor einigen Jahren mein Vater gestorben ist: Viele Leute haben unserer Familie kondoliert, uns ihr Beileid und Bedauern darüber ausgesprochen, dass mein Vater nicht mehr bei uns ist. Für mich hatte das etwas Tröstliches. Ich fand es schön zu erleben, dass so viele Menschen Anteil nahmen und traurig waren über seinen Tod. Dass mein Vater Spuren hinterlässt – nicht nur bei mir.

Allerdings fiel in dieser Zeit auch immer wieder dieser eine Satz, den einige Leute zu mir sagten und der oft in solchen Situationen gebraucht wird: "Ich wünsche dir jetzt ganz viel Kraft." Schon damals hat er mich irritiert, aber ich konnte mir lange nicht erklären, warum. Mittlerweile, nachdem ich einige Male bewusst mitbekommen habe, wie er an andere gerichtet wurde, ihn gelegentlich sogar selbst fast von mir gegeben hätte, weiß ich, was mein Problem mit diesem Satz ist und war – und deshalb habe ich beschlossen, ihn nie wieder zu einem Menschen zu sagen, der gerade eine schwere Zeit durchmacht.

Was ist eigentlich mein Problem?

Wenn wir jemandem Kraft wünschen, bringen wir damit automatisch zum Ausdruck, dass wir glauben, die Person habe sie nun ganz besonders nötig. Das zeugt zwar einerseits von Empathie, da es impliziert, dass wir sehen und verstehen, wie schwer es der:die Betreffende gerade hat und wie viel er:sie nun aushalten muss. Andererseits frage ich mich: Warum wünschen wir ausgerechnet Kraft? Warum glauben wir, gerade damit wäre unserem Gegenüber jetzt am meisten geholfen? 

Stellen wir uns doch mal folgendes Bild vor: Ein Mensch schleppt einen Haufen Steine mit sich herum. Man erkennt, dass er kurz davor ist, unter dem Gewicht zusammenzubrechen. Würden wir uns daneben stellen und sagen: "Ich wünsche dir jetzt ganz viel Kraft!"? Würden wir nicht eher unsere Hilfe anbieten? Oder ihm vorschlagen, ein paar Steine abzulegen? Oder sich eine Weile auszuruhen? Wahrscheinlich eher Letzteres. Denn dieser kurz vor dem Zusammenbruch stehenden Person Kraft zu wünschen, würde bedeuten, ihr zu sagen, dass sie weitergehen soll. Allein, mit all den schweren Steinen auf den Schultern. Und dass sie es auch kann – wenn sie nur stark genug ist. Bricht sie bei dem Versuch zusammen? Hatte sie offenbar nicht genug Kraft ...

Was wir sagen versus was ankommt

Mir ist ja völlig klar: Wer anderen Menschen in einer schweren Zeit oder Krise Kraft wünscht, meint das gut. Womöglich habe ich es selbst in der Vergangenheit schon getan, natürlich in bester Absicht. Aber ohne uns dessen vielleicht immer ganz bewusst zu sein, sagen wir einer Person damit eben noch so viel mehr. Wir sagen ihr, dass sie all das, was im Moment auf ihr lastet, bewältigen soll. Dass sie stark sein und am besten irgendwo Kraft auftreiben soll, falls es ihr daran fehlt. Das mag sogar von manchen als Aufmunterung gedacht sein. Doch wenn einen Menschen gerade eh schon tonnenschwere Steine zu Boden pressen, können solche Konnotationen einen zusätzlichen Druck ausüben, der die Situation für sie nur noch schwerer macht. So war es jedenfalls bei mir.

Selbstverständlich geht jeder Mensch anders mit schwierigen Situationen um und erlebt sie auch anders. Doch als mein Vater gestorben ist, habe ich mir keine Kraft gewünscht – sondern Entlastung. Ich hätte mir gewünscht, mich mit seinem Tod auseinandersetzen zu dürfen und in Ruhe zu trauern. Ich hätte mir gewünscht, anderen von meinem Vater zu erzählen, ihnen nahezubringen, was für ein großartiger Mensch er war. Doch mich hat niemand gefragt, was ich mir wünsche. Stattdessen hat man mir Kraft gewünscht – und damit das Gefühl vermittelt, dass es an meinem Mangel daran lag, wenn ich bei der Arbeit meine Tränen nicht unterdrücken konnte (zu dieser Zeit war ich noch woanders beschäftigt als aktuell). 

Es mag uns bewusst sein oder nicht, aber in jedem "Ich wünsche dir jetzt sehr viel Kraft" steckt neben der wertschätzenden Botschaft "ich sehe, dass du es schwer hast" zumindest potenziell auch noch der fordernde Zusatz: "Sieh zu, dass du klarkommst." Und vielleicht ist die Floskel gerade deshalb so beliebt und verbreitet ...

Spricht da unser kollektives Mindset?

Wir leben zurzeit in einer Gesellschaft, in der Kraft und Stärke uneingeschränkt bewundert werden, als unbedingt erstrebenswert gelten. Uns wird vermittelt, dass wir wertvoll sind, wenn wir funktionieren, stark, wenn wir uns niemals unterkriegen lassen. "Niemanden interessiert, wie oft du hingefallen bist, solange du einmal mehr wieder aufstehst" ... Zu diesem Mindset passt es, einem Menschen Kraft zu wünschen, dem es schlecht geht. Kraft ist das, was ihn schnell wieder einsatzfähig macht. Was verhindert, dass er anderen zur Last fällt oder sie mit seinen Tränen runterzieht.

Das könnte erklären, warum uns ein "ich wünsche dir Kraft" so leicht über die Lippen geht. Wenn wir Menschen begegnen, die um jemanden trauern, sich um ihre sterbenskranke Mutter kümmern, ihre Existenz durch Corona verloren haben oder im Lockdown vereinsamen. Wir sagen es, gesellschaftlich geprägt, ohne darüber nachzudenken, und finden das nicht nur angemessen, sondern sogar empathisch. Doch gerade wenn uns in einer schweren Situation etwas leicht fällt zu sagen, wäre es wahrscheinlich gut, einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken, ob wir wirklich dahinterstehen.

Einer Person, deren Welt gerade in Scherben vor ihr liegt, Kraft zu wünschen, mag gut gemeint sein, und möglicherweise wünscht sie die sich ja auch selbst. Doch im Zweifel wäre es vielleicht besser, erst einmal zuzuhören und versuchen herauszufinden, was dieser Mensch, der vor uns steht und leidet, gerade eigentlich braucht. Denn selbst wenn sich dabei herausstellt, dass wir nichts weiter für ihn tun können: Wahrscheinlich gibt ihm das am Ende sogar mehr Kraft als eine unbedacht ausgesprochene Floskel.

Verwendete Quellen: Eigene Gefühle, Gedanken und Erfahrungen

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