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Toxische Männlichkeit „Der Mann darf sich nicht nur beschweren, dass man Dinge von ihm fordert“

Toxische Männlichkeit behandelt Julian Witzel in seinem Buch "Junge weiße Männer"
Toxische Männlichkeit behandelt Julian Witzel in seinem Buch "Junge weiße Männer".
© Ben Klöden / PR
Der alte weiße Mann ist tot, es lebe der junge Mann. Aber was soll der eigentlich tun? Und was macht ihn aus? Autor Julian Witzel stellt sich diesen Fragen in seinem Buch und im Interview. Dabei verrät er, warum "Tatsächlich Liebe" Übelkeit bei ihm auslöst.

Noch tobt sie, die toxische Männlichkeit, begehrt sich auf und schlägt um sich. Manchmal im wahrsten und peinlichsten Sinne des Wortes, wie im Fall von Will Smith und seiner Ohrfeige gegen Kollege Chris Rock bei der Oscar-Nacht 2022. Manchmal aber auch metaphorisch und ungleich zerstörerischer wie im Fall von Russlands Präsident Wladimir Putin, dem neben vielen Kritikpunkten auch von mancher Seite toxische Männlichkeit vorgeworfen wird. Nicht nur in Deutschland gibt es das Bild des "alten weißen Mannes": Er ist das Oberhaupt, von Beziehungen, von Familien, von Unternehmen, von der Politik. Nach seinen Wünschen und Vorstellungen gestaltet sich die Gesellschaft – ob sie will oder nicht. 

Nicht nur feministische Bewegungen haben diesem Bild, dem Patriarchat selbst, den Kampf angesagt. Auch immer mehr Männer hinterfragen die Rolle des Mannes in der Gesellschaft. Was ihn ausmachte, was ihn ausmacht – und was ihn in Zukunft ausmachen sollte. Einer davon ist Autor Julian Witzel, der in seinem am 17. Mai 2022 erscheinenden Buch "Junge weiße Männer – Was ich als Mann zur neuen Männlichkeit zu sagen habe. Gender-Storys eines Millenial-Hetero-Mannes in woken Zeiten" darüber reflektiert, was einen modernen Mann ausmacht – und ausmachen muss.

Brigitte: Herr Witzel, ist die Männlichkeit denn noch zu retten? Sollte das überhaupt das Ziel sein?

Julian Witzel: Natürlich muss sie zu retten sein, das ist absolut alternativlos! Die Frage ist aber, welche Art von Männlichkeit wir retten wollen und ob da überhaupt von "retten" zu reden ist. Denn ich bin überzeugt davon, dass sich die Männlichkeit verändern wird, sich beispielsweise mehrere Männlichkeiten herausbilden werden, die unter dem Dach "Männlichkeit" dann zu benennen und zu betreiben sind. Das ist auch der Fokus meines Buchs, ich schaue mir den "jungen weißen Mann", wenn man ihn so nennen darf, an und richte mein Buch nach der Kernfrage aus: Wie wird es dem jungen weißen Mann ergehen, nachdem der alte weiße Mann auf eine gewisse Weise "weggegrätscht" wurde? Welche Chance hat der junge weiße Mann? 

Und hat er eine Chance?

Da ist die Antwort ganz klar: Er hat natürlich eine Chance, aber er muss was tun. Er muss! Ich muss selbst dazu beitragen, dass Teile der Männlichkeit, die ich für richtig halte und als erhaltenswert betrachte, weiter bestehen und mir gleichzeitig Teile eines anderen Männlichkeitsverständnisses zu eigen machen.

Einige Dinge, die man vielleicht heute als toxisch bezeichnen würde, möchte ich nicht aufgeben.

Was bedeutet denn "Mannsein" für Sie konkret?

Eine lange Zeit war die Antwort auf die Frage relativ einfach, das "Mannsein" war ziemlich gut umrissen. Das hat sich verändert – und das ist ein guter Prozess. Es ist allerdings auch einer, der noch läuft. Und in dieser Zeit einer Antwort auf die Frage nachzugehen, das war meine Idee für das Buch. Denn in der Tat: Was heißt denn eigentlich Männlichkeit? Wie habe ich meine Männlichkeit selbst damals als Kind, als Jugendlicher und noch vor ein paar Jahren begriffen? Im Buch gehe ich weit zurück, um für mich auch zu reflektieren, mit welchem Verständnis von Männlichkeit ich eigentlich aufgewachsen bin, was mich geprägt hat und wie es sich mit den Jahren, der Erfahrung und meinen Zielen verändert hat.

Ohne zu viel vorwegzugreifen kann ich sagen, dass mein persönliches Verständnis von Männlichkeit als eine Art Mischkalkulation zu begreifen ist, weil ich festgestellt habe, dass ich einige Dinge, die man vielleicht heute auch als toxisch bezeichnen würde, nicht aufgeben möchte. Einfach, weil ich nach eingehender Beschäftigung der Meinung bin, dass sie eigentlich gesellschaftlich verträglich sind.

Haben Sie ein Beispiel für sozialverträgliche toxische Männlichkeit?

Ich habe eine Zeit lang ein sehr schönes Auto gefahren, einen Oldtimer. Das ist ein richtiges Anti-Familienauto, es gibt keinen einzigen Airbag darin und es können auch nur zwei Menschen darin sitzen – für eine dreiköpfige Familie also absolut ungeeignet. Ich habe ihn jetzt verkauft, sozusagen im Dienste meiner Familie. Aber ich bin der Überzeugung, dass ich als Mann Freude an einem schönen Auto haben darf und ich glaube, dass ich mir in 20 Jahren, wenn meine Kinder aus dem Haus sind, wieder so eins kaufen werde. 

Oldtimer zählen Sie also schon einmal nicht zur toxischen Männlichkeit. Aber wie definieren Sie denn dann die alte Männlichkeit und was macht sie so toxisch in Ihren Augen?

Es gibt beispielsweise sehr viele und sehr triftige Gründe, den grundsätzlichen Blick auf das weibliche Geschlecht auf eine drastische Weise zu überholen. Ein sehr gutes Beispiel hierfür ist der Film "Tatsächlich Liebe". Den habe ich vor Kurzem mal wieder gesehen und ich konnte meinen Augen nicht trauen. Das ist ein Film, von dem viele Menschen behaupten, es sei ihr liebster Weihnachtsfilm, erst vor Kurzem traf ich einen Freund, der das noch mal bestätigte. Was in diesem Film aber passiert, ist regelrecht gruselig, wenn man auf die Rollen der Frauen schaut, die in diesem Film auftauchen: Die sind nämlich in den meisten Fällen Angestellte von Männern, die sich in ihren Chef verlieben. Und das wirklich nicht auf souveräne Weise, sondern so, dass es schon fast aus einer demütigen Haltung heraus auf die Zuschauer:innen wirkt.

Solche Filme wie "Tatsächlich Liebe" dürfen nicht mehr erzählt werden und auch ein moderner Mann muss erkennen, dass man so nicht über Frauen erzählen und sich schon gar nicht so gegenüber einer Frau verhalten darf.

Diese mächtigen Männer – das sind ja ein Schriftsteller, ein Premierminister, der Chef einer Firma – beugen sich regelrecht zu ihren Gespielinnen herunter. Das hat bei mir tatsächlich eine Art Übelkeit ausgelöst, ich konnte kaum glauben, was ich da sah. Solche Filme dürfen so nicht mehr erzählt werden. Und andererseits – und das ist mein eigentliches Plädoyer im Buch – muss aber auch von einem modernen Mann erkannt werden, dass man so nicht über Frauen erzählen und sich schon gar nicht so gegenüber einer Frau verhalten darf. 

Wie bewerten Sie im aktuellen Kontext das "Aufbegehren wütender Männer" im großen und katastrophalen Stil wie bei Wladimir Putin und im Kleinen eher lächerlichen Stil wie bei Will Smith?

Erst einmal zu Will Smith: Ich habe eine klare Haltung zum Thema Gewalt und schaue mit Bestürzen auf eine Aktion, wie sie Will Smith da durchgeführt hat. Genauso entsetzt bin ich allerdings auch von den Reaktionen, auch teilweise von Frauen, die anscheinend noch nicht weit genug in ihrer Aufarbeitung von Rollenbildern sind. Für mich ist das Dargebotene ein Rollen-Verständnis aus dem vorletzten Jahrhundert und hart zu verurteilen. Jada Pinkett Smith selbst hätte in dieser Situation reagieren müssen, das wäre die einzig richtige Reaktion darauf gewesen.

Tatsächlich erzähle ich im Buch eine ähnliche Geschichte, die ist allerdings 15 Jahre her. Da wurde meiner damaligen Freundin in einer Bar auf den Hintern gefasst und ich hatte das gar nicht mitbekommen. Sie war furchtbar bestürzt und hielt mich an, etwas zu unternehmen und ich war vollkommen überfordert und bin zu dem Mann hingegangen. Das war ein großer, brutal aussehender Typ und ich redete mit ihm, was zum Glück glimpflich ausging. Er hat sich dann bei mir entschuldigt – bei mir wohlgemerkt, nicht etwa bei der Frau. Das zeugt ja davon, wie man vor 15 Jahren teilweise noch mit so einer Situation umging. Und Will Smith schließt da leider nahtlos an.

Putin wirkt wie ein böses, altes Tier, das zum letzten Mal die Zähne zeigt.

Im Fall von Putin wundert es mich, dass so viele Menschen bei seinem Auftreten so etwas wie eine "Männlichkeit" überhaupt herauslesen können. Wenn man denn von einem gesellschaftlichen Standpunkt heraus diesen politischen Fall betrachten möchte, dann ist Putin doch gerade dabei zu zeigen, wie jämmerlich er eigentlich in seiner Männlichkeit dasteht. Das ist eher als die letzte Schlacht des Mannes zu betrachten. Ein letztes toxisches Gebaren, das heutzutage eben auch nicht mehr im politischen Feld funktioniert. Putin wirkt wie ein böses, altes Tier, das zum letzten Mal die Zähne zeigt – und er wird damit nicht durchkommen. Mag sein, dass er ein Beispiel für den alten weißen Mann ist, dann aber einer, der in seinen letzten Zügen ist.

Und was soll die neue Männlichkeit nun anders machen, wie genau sieht das aus?

Auf eine gewisse Weise ist das eine offene Frage. Wie gesagt, wir befinden uns in einem Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist. Es gibt bei dieser Frage nämlich zwei widerstreitende Gruppen: Einmal ist da der Mann selbst, der sich nicht immer darüber beschweren kann, dass man plötzlich von ihm andere Dinge fordert. In vielen Bereichen – was zum Beispiel Erziehung angeht, was soziales Verhalten und Hobbys angeht – da sollte er nicht nur meckern, sondern aktiv werden. Das Wichtige ist, dass er sich in einen Reflexionsprozess begibt und ein Verständnis dafür entwickelt, wie er für sich selbst das Mannsein definiert. Und das passiert ehrlicherweise einfach nicht, das können Sie schon einfach durch einen Selbsttest feststellen: Fragen Sie die Männer in Ihrer Umgebung einmal, wie die sich selbst als Mann beschreiben würden. Ich wette, Sie werden oft hören: "Keine Ahnung, da habe ich noch nie drüber nachgedacht." Aber so funktioniert das nicht. Wir haben diese große Gruppe junger, weißer und williger Männer, die verstehen, dass hier ein Umbruch stattfindet, aber der funktioniert nicht ohne die eigene Beteiligung.

Fakt ist: Veränderung ist ein existenzielles Prinzip und wir brauchen sie.

Auf der anderen Seite müssen genau diese Männer auch einbezogen werden. Es müssen die, die diesen Diskurs vorantreiben, eine Einladung aussprechen an den jungen weißen Mann, denn über seinen Kopf Dinge festzulegen, ein neues gesellschaftliches Modell zu entwerfen, das kann gar nicht funktionieren, rein statistisch schon nicht, wenn diese riesige Gruppe Männer nicht hinzugezogen wird. Und auch hierfür plädiere ich in meinem Buch, dass dieser Dialog ganz anders geführt wird, als es aktuell der Fall ist. Fakt ist ja: Wir brauchen Veränderung, natürlich brauchen wir sie, denn sie ist ein existenzielles Prinzip. Evolutionär hat sie uns immer weitergebracht, wir versuchen doch alle immer etwas zum Guten zu verbessern. Das funktioniert natürlich nicht immer und oft bringen Veränderungen auch schlimme Dinge mit sich. Aber es ist – meiner Meinung nach – unabdingbar, sich auf diese Veränderungen einzulassen. Wir haben bessere Computer gebaut, die uns Arbeit abnehmen. Wieso sollten wir nicht auch an einem besseren Mann arbeiten?

Brigitte

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