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Toxic Mindfulness Die Gefahren des Achtsamkeitshypes, über die niemand spricht

Psychologie: Eine meditierende Frau
© NinaMalyna / Shutterstock
Achtsam und bewusst zu leben, ist grundsätzlich gesund. Doch der Hype um das vermeintliche Allheilmittel Achtsamkeit birgt auch Gefahren, wie etwa der Psychologe Jason Linder mahnt.

Atemübungen, Meditationsrituale, Selbstreflexion. Egal ob wir Stress abbauen möchten, Liebeskummer zu überwinden haben oder eine Krise durchlaufen: Die Empfehlung, die Herausforderungen des Lebens mit Achtsamkeit anzugehen, scheint offenbar niemals falsch zu sein. Zumindest begegnet sie uns seit einigen Jahren an jeder Ecke. Coaches bieten Kurse dazu an, wie wir achtsamer leben. Apps bringen uns bei zu meditieren und erinnern uns alle zwei Stunden ans Atmen. In zig Ratgeberbüchern können wir nachlesen, wie wir unsere überfüllten To-Do-Listen auf achtsame Weise erst abspecken und dann abarbeiten. Und in wie vielen Artikeln wir und andere Online-Portale wohl schon zu Achtsamkeit geraten haben ... es sind auf jeden Fall sehr, sehr viele.

Warum Achtsamkeit generell gut ist und eine Berechtigung hat

Nun ist Achtsamkeit an sich auch gar nicht verkehrt, im Gegenteil. Viele Menschen tun tatsächlich gut daran, sich in Achtsamkeit zu üben und zu trainieren, sich selbst zu spüren. Wir leben in einer komplexen, hektischen Welt, in der wir überwiegend beigebracht bekommen, wie wir uns benehmen, funktionieren, mithalten und hineinpassen. Achtsamkeit kann uns einigermaßen davor bewahren, uns selbst in diesem Trubel zu verlieren. Nur ist sie eben nicht das Allheilmittel, als das sie manchmal erscheint oder angepriesen wird. Für einige Probleme sind Atemübungen, Lebenskreise malen und Meditieren keine Lösungen. Und manche Probleme verschlimmern solche Achtsamkeitsrituale unter Umständen sogar, wie unter anderem der Psychologe Jason Linder in einem Artikel für Psychology today schreibt. 

Meditation kann psychische Störungen verschlimmern

"Es wird weitestgehend ignoriert, dass bereits in mehr als 20 veröffentlichten Berichten oder Studien Achtsamkeits- oder Meditationserfahrungen beschrieben wurden, die so ernst oder beängstigend waren, dass sie eine zusätzliche Behandlung oder medizinische Aufmerksamkeit nach sich zogen", so Jason Linder. Insbesondere bei Menschen mit Traumata und Depressionen könne Meditation – zum Beispiel aufgrund von Flashbacks oder einer noch intensiveren, überwältigenden Wahrnehmung der inneren Vorgänge – zu einer Verschlechterung ihrer mentalen Gesundheit führen. Auch bei anderen psychischen Störungen sei nicht auszuschließen, dass Achtsamkeitsübungen negative Auswirkungen auf einige Menschen haben. Die American Psychological Association ebenso wie das US-amerikanische National Institut of Health (NIH) wiesen dem Psychologen zufolge in offiziellen Publikationen ausdrücklich darauf hin, dass Meditation gewisse "psychiatrische Probleme" verschlimmern könne – das NIH rät, eine:n Ärzt:in zu konsultieren, ehe man sich darin versucht.

Achtsamkeit allein löst die meisten Probleme nicht

Selbst wenn wir keine traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten haben und bei uns keine psychische Störung diagnostiziert wurde, ist es unwahrscheinlich, dass wir allein durch Achtsamkeit glücklicher und entspannter werden. Sicher wird es vielen Menschen gut bekommen, Rituale in ihren Alltag zu integrieren, die sie in einen Austausch mit sich selbst führen. Journaling, Atemübungen, meditieren, regelmäßige Pausen einlegen – das Tempo rauszunehmen und nachzufühlen, was eigentlich in der eigenen Seele los ist, kann in zahlreichen Fällen, das Lebensgefühl verbessern und sich positiv auf die Selbstwahrnehmung oder Zufriedenheit auswirken.

Doch nur weil ich im Zuge meiner Achtsamkeitsübungen feststelle, dass mein Partner weniger in unsere Beziehung investiert als ich, wird sich daran nichts ändern. Indem ich jeden Morgen zehn Minuten meditiere, verhindere ich nicht zwangsläufig, dass mich mein Job überfordert und ins Burnout treibt. Wenn mir immer mehr Aufgaben aufgeladen werden und ich nicht Nein sagen kann, ist es mit einem Achtsamkeitsritual eben nicht getan. 

Übertriebene Achtsamkeit kann uns die Leichtigkeit nehmen

Übertreiben wir es mit der Achtsamkeit, besteht zudem die Gefahr, dass wir uns das Leben schwerer und komplizierter machen als nötig und uns dadurch selbst ausbremsen. Nehmen wir einmal unsere Gefühle. Es stimmt natürlich, dass all unsere Emotionen einen Sinn haben und eine Funktion erfüllen, deshalb ist es wichtig, sie zu spüren und auf sie einzugehen. Doch wir müssen nicht bei jedem emotionalen Impuls aufspringen und eine Atemübung machen oder seitenweise darüber in unser Tagebuch schreiben. Wir müssen nicht jede Stimmungsschwankung verstehen, damit wir psychisch gesund bleiben und am nächsten Tag wieder ausgeglichen und gut gelaunt aufwachen können. Manches, tatsächlich sogar ziemlich viel, können wir getrost an uns vorbei beziehungsweise durch uns durch ziehen und unserem Unterbewusstsein überlassen. 

Fazit

Achtsamkeit ist für viele Menschen ein geeignetes Mittel, um schöne Dinge ebenso wie Probleme in ihrem Leben besser wahrzunehmen und bewusster und reflektierter mit sich selbst umzugehen. Für psychisch belastete, beziehungsweise gestörte Personen können gewisse Achtsamkeitsübungen gefährlich sein und dazu führen, dass sich ihr gesundheitlicher Zustand verschlechtert. Um Probleme wirklich zu lösen und glücklicher zu werden, brauchen wir in der Regel neben Achtsamkeit weitere Strategien und Fähigkeiten, zum Beispiel Mut, ein halbwegs stabiles Selbstwertgefühl, Erfahrung und vieles mehr. Zu guter Letzt gilt genau wie bei den meisten Dingen im Leben für Achtsamkeit: Wir können es damit durchaus übertreiben und dadurch neue Probleme in die Welt setzen, die nicht unbedingt da sein müssten. Wie das eben so ist mit Hypes. Vielleicht gewöhnen wir uns bei Gelegenheit einmal an, achtsamer damit umzugehen. 

Verwendete Quelle: psychologytoday.com

sus Brigitte

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