Anzeige

Third-Person-Effekt Warum dich fremde Menschen meistens unterschätzen – und du sie

Psychologie: Warum andere Menschen dich unterschätzen – du sie aber auch
© fotoduets / Adobe Stock
Der Third-Person-Effekt beschreibt eine Auffälligkeit in unserer Wahrnehmung und Einschätzung anderer Menschen, und zwar dahingehend, dass wir sie tendenziell unterschätzen – ebenso wie sie uns.

Ob Mann, Frau oder divers, ob talentiert in Mathe, Geografie oder Handarbeit, ob Lesemaus oder Serienjunkie, wir alle haben eines gemeinsam: Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern gerade einmal einen winzig kleinen Teil aus einer Perspektive, die vieles verzerrt. Im Grunde können wir davon ausgehen, dass wir uns normalerweise irren. In nahezu allem, was wir denken.

Das ist überhaupt nicht dramatisch, denn, wie die vergangenen paar Jahrtausende gezeigt haben, können wir mit unserer kognitiven Ausstattung inklusive verzerrter Wahrnehmung prima leben. Allerdings kann es hier und da interessant, nützlich oder beruhigend sein, sich dessen bewusst zu sein und ein wenig darüber Bescheid zu wissen – und beispielsweise den Third-Person-Effekt zu kennen.

Was besagt der Third-Person-Effekt?

Der Third-Person-Effekt beschreibt einen Wahrnehmungsfehler, dem offenbar die meisten Menschen mehr oder weniger stark unterliegen und der mittlerweile in mehreren Studien nachgewiesen werden konnte: Menschen gehen grundsätzlich davon aus, dass die Medien andere Leute stärker in negativer Weise beeinflussen als sie selbst. In positiver Weise hingegen nicht – da, so glauben sie, verhält es sich genau umgekehrt.

Wenn wir beispielsweise einen bedenklichen Trend bei Instagram sehen – Personen graben Regenwürmer aus und stecken sich die armen Tierchen in die Nase –, werden wir von anderen eher denken, dass sie den Trend nachahmen, als von uns. Und wir werden annehmen, dass ihn weitaus mehr Leute nachahmen, als das in Wirklichkeit der Fall ist.

Sehen wir dann auch nur ein paar weitere Posts bei Instagram, in denen sich jemand einen Regenwurm in die Nase steckt, glauben wir, dass auf einmal außer uns selbst nahezu die ganze Gesellschaft verrückt geworden ist. Obwohl in Wahrheit nur 0,00026 Prozent unserer Mitmenschen dem unheimlichen Regenwurm-Trend gefolgt sind.

Etwas realistischere Beispiele sind Werbung, gewaltverherrlichende Filme oder ungesunde Schönheitstrends in den sozialen Medien: Während wir uns selbst für immun und medienkompetent genug halten, um uns nicht negativ beeinflussen zu lassen, sorgen wir uns um all die unbekannten Menschen, die sich zum Kauf überteuerter Massagebälle, zu einem Amoklauf oder einer Essstörung verleiten lassen.

Sehen wir hingegen eine Recycling-Kampagne, einen Spendenaufruf oder einen Clip über bienenfreundliche Balkonbepflanzung, glauben wir, dass wir nahezu die einzigen sind, die vier verschiedene Abfallbehälter benutzen, fünf Euro an einen guten Zweck überweisen oder unseren summenden, entfernt verwandten Mit-Erdlingen ein buntes Blumenbeet bereitstellen.

Sicher: Bei manchen Menschen wird der Third-Person-Effekt stärker ausgeprägt sein als bei anderen. Doch die Tendenz, andere im Umgang mit Medien verglichen mit sich selbst zu unterschätzen, ist offenbar grundsätzlich menschlich, so legen zumindest mehrere Studien nahe.

Third-Person-Effekt als Beispiel eines grundsätzlichen Prinzips

Wenngleich sich der Third-Person-Effekt in erster Linie auf Medienkonsum und -wirkung bezieht, scheint das zugrundeliegende Muster die menschliche Selbst-Fremdeinschätzung auch in anderen Bereichen zu prägen. So gehen zum Beispiel viele Menschen fälschlicherweise oft davon aus, dass sie anderen helfen müssten, etwas erklären oder einen Ratschlag geben – weil sie tendenziell unbewusst unterstellen, dass sie selbst kompetenter seien als andere.

Die meisten denken bei widersprüchlichen Ansichten erst einmal, dass sich die anderen irren, ehe sie den Fehler bei sich selbst suchen. Und sogar bei Leuten, die wir gut kennen, fällt es uns häufig schwer, ihnen zuzutrauen, dass sie auf sich acht geben können und uns Bescheid sagen, wenn sie uns brauchen, sodass wir sie stattdessen bedrängen oder uns mindestens sorgen und den Kopf zerbrechen. In letztgenanntem Fall werden zwar gewiss noch andere Dinge hineinspielen, beispielsweise Liebe, doch generell können wir davon ausgehen: Wir tendieren dazu, unsere Mitmenschen im Vergleich mit uns selbst zu unterschätzen. 

Psycholog:innen sehen in diesem Muster eine Strategie zum Schutz unseres Selbstwerts: Für unsere psychische Gesundheit beziehungsweise für ein solides Selbstwertempfinden ist es wichtig, dass wir uns besonders, kompetent, gebraucht und nützlich fühlen. Gingen wir mit der Sichtweise durchs Leben, dass wir nichts können, was alle anderen nicht auch könnten, und der Welt nicht den geringsten einzigartigen und uns alleinstellenden Mehrwert zu bieten hätten, zweifelten wir ständig an dem Sinn unserer Existenz. Und würden zu einer Bedrohung für uns selbst.

So gesehen wäre es womöglich sogar fatal, wenn wir Wahrnehmungsfehlern wie demjenigen, dessen Prinzip der Third-Person-Effekt entspricht, nicht unterlägen. Womöglich.

Halten wir abschließend also fest: Entgegen unserem Glauben können wir grundsätzlich davon ausgehen, dass wir durch die Medien ungefähr genauso verkorkst sind wie der verkorkste Rest unserer Gesellschaft – oder genauso unempfindlich ihnen gegenüber oder genauso gebildet, inspiriert und informiert.

Wir können grundsätzlich davon ausgehen, dass wir anderen Menschen mehr zutrauen dürften, als wir tun, und dass mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ebenso sie uns unterschätzen. Das zu wissen, verschafft uns weder einen entscheidenden Überlebensvorteil noch beantwortet es existenzielle Fragen. Es kann aber hier und da interessant, nützlich oder beruhigend sein. Und manchmal ist das schon genug.

Verwendete Quellen: lexikon.stangl.eu, kontrast.at, sueddeutsche.de

Brigitte

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel