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Therapeutin im Interview "Es wird gerade normaler, eine Therapie zu machen – und das ist gut!"

Therapeutin im Interview: "Es wird gerade normaler, eine Therapie zu machen – und das ist gut!"
© Fiordaliso / Getty Images
Obwohl der Austausch zu mentaler Gesundheit präsenter in unserer Gesellschaft wird, sprechen wir über Therapie oft noch immer hinter vorgehaltener Hand. Coachin und Therapeutin Andrea vorm Walde will mit dem Tabu brechen und erklärt uns im Gespräch, warum es so wichtig ist, seelische Beratung zu normalisieren.

Es ist ein Thema, das gerne umgangen wird: eine Psychotherapie. Zu groß ist oft die Scham, öffentlich zu machen, dass uns mental etwas so sehr belastet, dass wir von einer außenstehenden Person Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Dabei sind Gespräche mit geschulten Therapeut:innen wichtig und richtig, um Dinge in unserem Leben zu verarbeiten. Auch Beraterin Andrea vorm Walde wünscht sich, dass die Hemmungen weniger werden und mehr Menschen zur Therapie gehen.

Hast du das Gefühl, dass sich gerade mehr Menschen trauen, eine Therapie zu beginnen? 
Andrea vorm Walde: In der Tat habe ich in meiner Praxis seit einigen Wochen immer mehr Anfragen, und meine Kolleg:innen bestätigen das. Die Anfragen hatten ohnehin über die Zeit der Corona-Pandemie immer mehr zugenommen – vor allem übrigens von Männern und Frauen um die 30 – aber jetzt aktuell wird es nochmal deutlich mehr. Die Vermutung, dass die aktuellen Themen, die unser Leben bestimmen, erheblich dazu beitragen, liegt nahe. Die Nachrichtenlage, vor allem hinsichtlich des Krieges in Europa, der uns doch sehr nah kommt, aber auch hinsichtlich der Klimakatastrophe, überfordert viele jetzt, weil sie ohnehin schon nicht mehr bei voller Kraft sind. Nach den letzten beiden Jahren, die von Corona bestimmt waren und für viele Einschränkungen gebracht haben, die sie schlecht ertragen konnten, ist das dann auch kein Wunder. Irgendwann "läuft die Seele über".

Und wie ändert sich die Einstellung generell dazu? Kann man öffentlich sagen: Ja, ich geh zur Therapie?
Ja, der Blick auf Psychotherapien hat sich über die Jahre bzw. Jahrzehnte auf jeden Fall verbessert. Die Scham, Hilfe zu brauchen, ist Gott sei Dank etwas weniger geworden, wenn auch noch lange nicht so ausgeräumt, wie es wünschenswert wäre.

Vielen hilft es, dann erst einmal nach einem Coaching zu fragen und das ist ja auch nicht ganz falsch. Genau genommen ist es ja erst wirklich dann eine Psychotherapie, wenn die Symptome Krankheitswert haben. Im Idealfall holt man sich vorher Unterstützung und da sinkt die Hemmschwelle doch deutlich und der Schritt fällt immer mehr Menschen leichter. Dass immer mehr das auch dann schaffen, wenn der schlechte Zustand schon fortgeschritten ist, ist eine wirklich gute Entwicklung! Wenn wir Rückenschmerzen oder körperliche Verletzungen haben, gehen wir ja zur Physiotherapie.

Warum ist es nach wie vor nicht möglich, in derselben Selbstverständlichkeit eine Psychotherapie zu machen, wenn das Herz schmerzt und die Seele Hilfe braucht?

Was müsste deiner Meinung nach noch passieren, damit die Psychotherapie noch eine größere Akzeptanz erfährt? 
Ich denke, es braucht immer verschiedene Ansätze von mehreren Seiten, bis sich Maßnahmen weiter etablieren. Hier würde zum Beispiel dazu gehören, dass Ärzte selbstverständlicher Therapieangebote empfehlen, wenn sie Patienten haben, die seelisch belastet sind. Und zwar schon bevor die Symptome extremes Ausmaß angenommen haben. 

Zur Therapie gehen zu können, muss einfacher werden

Glaubst du, Therapie machen wird uns erschwert?
Es wäre so wichtig, dass es mehr von der Kasse zugelassene Therapeuten gibt. Bei einer Wartezeit von fast einem Jahr – so ist es in Hamburg derzeit – geben viel zu viele Menschen auf, weil die Suche kontraproduktiv für ihren Zustand ist.

Aber wie kann man es schaffen, weiter dran zu bleiben?
Was natürlich besonders hilft, ist zu merken "Ich bin damit nicht alleine". Da sind für mich unter anderem auch die Medien gefragt. Ihr tragt also gerade schon dazu bei. Und was immer mehr wird und sicherlich ein positives Zeichen darstellt, ist, dass immer mehr Prominente mit ihren psychischen Belastungen und Therapien in die Öffentlichkeit gehen. Ich denke da an Max Eberl, den Manager von Borussia Mönchengladbach, oder auch an Kurt Krömer mit seinem Buch – und das sind ja nur zwei Fälle von vielen. Das ermutigt natürlich viele und ist ein Schritt in eine gute Richtung.

Vor allem aber ist wichtig, wie wir selbst damit umgehen, wenn wir solche Situationen in unserem nahen Umfeld haben. Wenn ich zum Beispiel höre, wie ein Vater eines Teenagers davon spricht, dass eine Freundin seines Sohnes gerade "in der Klapse" ist, kann ich nur den Kopf schütteln. Denn das wird unter Umständen dazu führen, dass sein eigenes Kind sich nicht trauen wird, sich zu öffnen, wenn es ihm selbst schlecht geht. Wir alle müssen Psychotherapie endlich als vollkommen normale Behandlung begreifen und psychische Schwierigkeiten nicht als ‚verwerflicher‘ als einen Beinbruch.

Wann ist ein guter Zeitpunkt, eine Therapie zu beginnen? Gibt es "Merkmale" an einem selbst?
Der beste Zeitpunkt einer Therapie ist VOR der Erkrankung. So wie uns Bewegung dabei hilft, diverse körperliche Erkrankungen zu vermeiden, so tut es die positive und ressourcenorientierte Beschäftigung mit uns selbst für die Seele.

Wie finde ich denn heraus, ob ich eine Therapie brauche?
Wir müssen Anzeichen ernster nehmen, zum Beispiel Schlafstörungen nicht auf die leichte Schulter nehmen. Länger anhaltende antriebslose Phasen und eine traurige Grundstimmung sind beispielsweise klare Zeichen für eine möglicherweise nahende Depression, die viel schlechter behandelt werden kann, wenn sie schon manifestiert ist.

Gibt es auch körperliche Anzeichen, auf die wir hören sollten?
Ja. Auch viele körperliche Probleme, die keine eindeutige Diagnose haben, können über eine Psychotherapie verbessert werden: Rückenschmerzen, Migräne, Magenprobleme – um nur einige zu nennen. Dasselbe gilt für kognitive Einbußen, zum Beispiel Konzentrationsschwierigkeiten, Grübeln, fehlende Klarheit in den Gedanken.
Und grundsätzlich müssen wir uns darüber klar werden, dass wir nicht mit jedem Tiefschlag im Leben alleine umgehen können müssen. Trennungen, Todesfälle im engen Umfeld, schwere Krankheit, Jobverluste, Veränderungen wie beispielsweise auch die Geburt eines Kindes oder dessen Auszug – das sind nur einige Situationen, die nicht jeder mal eben so wegsteckt. Die aber mit Unterstützung gut bewältigt werden und sogar zu einer positiven persönlichen Weiterentwicklung und einer großen Bereicherung im Leben führen können.

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Andrea!

Andrea vorm Walde ist psychologische Beraterin in Hamburg, andreavormwalde.de

Guido

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