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"Darüber spricht man nicht!" Wie wir mit Tabus umgehen können

Zwei Frauen reden miteinander
© bnenin / Adobe Stock
Das klingt wie ein Satz aus einer längst vergangenen Zeit. Mittlerweile sprechen doch alle über alles. Oder? Wie wir mit Tabus umgehen und was wir noch lernen können.

Um das gleich am Anfang klarzustellen: Es geht hier nicht um "Das wird man wohl noch sagen dürfen"-Debatten, welche Wörter, Redewendungen oder Aussagen – ob tatsächlich oder vermeintlich – nicht mehr "politically correct" sind, sondern um unseren Umgang mit persönlichen Themen. Da ist unsere Gesellschaft eindeutig offener geworden. Das bestätigen nicht nur Expert:innen wie die Psychologin und Medizinhistorikerin Lisa Malich, Professorin an der Universität Lübeck, sondern auch eine aktuelle Studie. Sexualität, Beziehungsprobleme, psychische oder körperliche Erkrankungen: Ob in den Medien, im Netz oder im Freundes- und Bekanntenkreis – es gibt scheinbar nichts, über das mittlerweile nicht geredet wird oder zumindest geredet werden könnte.

Aber sind Tabus damit wirklich schon von gestern? Fünf Wahrheiten über sie, die bis heute gelten:

Nicht jedes Tabu muss fallen.

Denn sie sind nicht nur schlecht. Dass nicht alles, was angesprochen oder getan werden kann, auch angesprochen und getan werden muss, kann eine Fessel sein, die belastet und einengt, aber es kann auch schützen. Nämlich die Privat- und Intimsphäre der Betroffenen. Für Sabine Krajewski, Kommunikationswissenschaftlerin an der Macquarie Universität in Sydney und Autorin des Buches "Tabu: hinhören, hinsehen, besprechen" (Kamphausen Media), ist entscheidend, welche Seite von einem Tabu profitiert.

Das Menstruationstabu, das zum Glück vor allem bei den Jüngeren mittlerweile Risse bekommt, nutzt dem Patriarchat, indem es Frauen und ihre Körper beschämt und damit kleinhält, aber nicht den Menstruierenden selbst. In Gegenwart einer Person mit einer Essstörung nicht über ihren Körper zu sprechen, ist dagegen fürsorglich. Tatsächlich wären manchmal sogar mehr Tabus wünschenswert, zum Beispiel, dass es eben nicht okay ist zu erfragen oder zu kommentieren, ob, wann und mit wem eine Frau Kinder bekommt oder nicht. "Wir brauchen Tabus, sie sind eine stillschweigende Übereinkunft, die das gesellschaftliche Miteinander regelt", sagte Sabine Krajewski in einem BRIGITTE-Interview.

Was ein Raum ohne Tabus bedeutet, lässt sich ihrer Meinung nach im Internet beobachten, denn dort gebe es kein verinnerlichtes Bewusstsein, was man besser für sich behält. Deswegen fallen in den sozialen Medien viele negative Tabus, wie über Missbrauch oder psychische Erkrankungen zu sprechen – was gut ist –, aber sie sind auch ein Ort ungehemmter Hate Speech.

Ein Tabu verschwindet nicht, indem man es erkennt.

Tabus halten sich ziemlich hartnäckig. Dass die weibliche Regelblutung und später ihr Ausbleiben in den Wechseljahren nicht oder nicht unbefangen thematisiert wird, ist eindeutig als gesellschaftliche Schranke identifiziert. Auch die weitreichenden Folgen, die diese Tabuisierung hat, werden inzwischen erkannt und benannt: Nämlich dass das Thema auch da, wo es eindeutig eine Rolle spielen müsste, zu wenig Beachtung findet – etwa am Arbeitsplatz und vor allem natürlich in der Medizin, von der Frauen oft nicht die Hilfe bekommen, die sie benötigen, beziehungsweise sich häufig nicht mal trauen, diese einzufordern, weil manche Beschwerden immer noch zu schambehaftet sind.

Dass sich das ändern muss, ist allen klar. Und trotzdem sind wir weit entfernt von einem ungezwungenen und vorurteilsfreien Umgang mit unserem Körper. Nicht mehr blaue Flüssigkeit in der Binden-Werbung zu sehen, sondern rote, war zum Beispiel ein wichtiger Schritt in Richtung Enttabuisierung, aber der Weg ist noch weit. Kommunikationsexpertin Sabine Krajewski schätzt, dass es Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte brauchen könne, bis bestimmte Tabus wirklich ihre Bedeutung verlieren.

Wird irgendwo das Schweigen gebrochen, ist es anderswo immer noch da.

Sich als homosexuell zu outen ist heute kein Problem mehr? Schließlich gibt es schwule und lesbische Menschen in Politik, Wirtschaft und im Showbusiness sowieso. Aber anderswo ist das (Ver-)Schweigen weiterhin massiv, etwa wenn es um schwule Männer im Profifußball geht. Topspieler, die sich offen dazu geäußert haben, wie Thomas Hitzslperger, sind an einer Hand abzuzählen. Für den 24. Mai plant der Ex-Jugendnationalspieler Marcus Urban nun ein gemeinsames Bekenntnis.

Eigentlich wäre das Tabu aber erst dann restlos vom Tisch, wenn Homosexualität wirklich kein Thema mehr wäre, sich also niemand mehr outen müsste. Wird von einer heterosexuellen Person schließlich auch nicht erwartet. Ähnliches gilt für die Sexualität insgesamt: Man könnte meinen, Sex sei kein Tabuthema mehr, aber wie sieht es mit "keinem Sex" aus? Dass Sex und Intimität zu einem erfüllten Leben dazugehören, ist Konsens; keine Lust zu haben, dagegen ein Tabu.

Jedes Tabu braucht mehr als einen Mutigen.

Natürlich beginnt es damit, dass Dinge, die bisher verschwiegen und unter den Tisch gekehrt wurden, angesprochen werden. Aber ein Tabu zu brechen, kann nicht allein Aufgabe der Betroffenen sein. Dafür sind wir alle verantwortlich, indem wir diejenigen, die sich äußern, nicht verurteilen, sondern ernst nehmen.

Auch in der aktuellen Umfrage sind die meisten der Meinung, dass größere Offenheit uns allen guttut und unsere Gesellschaft menschlicher macht. Mehr als die Hälfte fühlt sich dadurch außerdem ermutigt, auch selbst offener mit persönlichen Themen umzugehen. Offenheit ist also ein sich selbst verstärkender Prozess und 56 Prozent wünschen sich noch mehr davon. Trotzdem, Hand aufs Herz: Ganz so ehrlich sind wir dann doch oft nicht. 64 Prozent geben an, dass es mindestens ein persönliches Thema gibt, über das sie mit niemandem reden. 

Und: Obwohl sich fast alle Befragten einig sind, dass insgesamt freier über vermeintliche Tabuthemen gesprochen wird als vor zehn Jahren, sagen nur 44 Prozent auch von sich selbst, dass sie offener kommunizieren. Es ist die Freiheit jeder Einzelnen, Dinge für sich zu behalten, aber die großen Tabus brechen wir nur gemeinsam. Dass diese immer auch eine Frage der Perspektive sind, zeigt sich in der Umfrage auch daran, dass diejenigen, die tatsächlich von einem Tabu-Thema betroffen sind, noch eher als die Nicht-Betroffenen das Gefühl haben, darüber könnte nicht gesprochen werden. Das neue Klima der Offenheit ist längst nicht bei allen angekommen und bleibt Teamwork: Anderen offen zuzuhören ist schon mal ein guter Anfang.

Darüber zu reden, ist auch keine Lösung …

… wenn es nur beim Reden bleibt. Das Stigma, an psychischen Erkrankungen wie einer Depression zu leiden, ist deutlich kleiner geworden, seit immer mehr und auch prominente Menschen von ihren eigenen Erfahrungen berichten. Das ist wichtig und führt dazu, dass Betroffene eher Hilfe suchen. Aber nicht weniger wichtig ist es, dass ihnen dann auch geholfen wird.

Leider hat sich die Versorgungslage nicht automatisch mit verbessert, die Wartezeit auf einen Therapieplatz ist weiterhin lang und teilweise sogar noch gestiegen. Und gerade für Menschen, die schwer betroffen sind und denen es deshalb an Energie und Eigeninitiative mangelt oder die zusätzlich vor sprachlichen Barrieren stehen, ist unser Gesundheitssystem insgesamt eine Herausforderung. Offenheit kann immer nur der Anfang sein für echte Unterstützung.

Die "Unverblümt"-Studie

"Unverblühmt"-Studie
Zusammen mit Always Discreet hat BRIGITTE eine repräsentative Umfrage unter gut 1500 Frauen ab 50 durchgeführt. Dabei ging es allgemein um das Thema Offenheit und außerdem speziell um das Thema Blasenschwäche, das von den Befragten mehrheitlich als Tabu-Thema eingeschätzt wurde und von dem ein Drittel selbst mindestens einmal wöchentlich betroffen war. 58 Prozent von diesen wünschen sich, dass andere einen offenen Umgang damit vorleben, jeweils etwa die Hälfte fände es hilfreich, wenn sie offen über das Thema sprechen und sich mit anderen Betroffenen austauschen könnten.
© Brigitte
Brigitte

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