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Fragen des Lebens Dieser Satz hat mein Leben verändert

Eine Gruppe steht um einen Tisch und unterhält sich.
© Vasyl / Adobe Stock
Manche Sätze machen etwas mit uns. Nicht immer sofort und auch nicht immer bewusst, aber irgendwie bleiben sie hängen und reifen zu Erkenntnissen, die eines Tages eine Bedeutung bekommen. Unserer Gastautorin Andrea Huss erging es so mit folgendem Satz.
Fragen des Lebens: Andrea Huss
Andrea Huss ist systemische Coachin in Hamburg und begleitet Frauen in Veränderungsprozessen. Für uns berichtet sie jeden Monat von einem Fall aus ihrer Praxis.
© Caren Detje

Manchmal gerinnt eine Aussage, die nur nebenbei fällt, zum entscheidenden Wegweiser. So ging es mir bei einem Webinar über "Neues Führen“. Irgendwann fiel dabei der Satz "Wer Stärke leiht, baut Schwäche auf“. Ich schrieb ihn in mein Notizbuch, und er ließ mich nicht los.

Viele Jahre legte ich als Führungskraft großen Wert darauf, immer für mein Team da zu sein. Ein offenes Ohr zu haben und ein Gefühl dafür, wenn jemand Hilfe braucht. Kommentare wie "Du bist doch nicht die Mutter der Kompagnie“ ließen mich kalt. Ich war überzeugt, das Richtige zu tun, wenn ich überforderten Mitarbeiter:innen zur Seite sprang oder bei schwierigen Gesprächen meine Vermittlung anbot. Dass ich mir damit etliche Überstunden aufhalste, nahm ich in Kauf. Es war ja für die gute Sache.

Der Satz über die geliehene Stärke ließ mein Verhalten plötzlich ganz anders aussehen: Hatte ich womöglich verhindert, dass Teammitglieder, wie es so schön heißt, an ihren Herausforderungen wachsen konnten? Ich erinnerte mich an Momente, in denen Schlag auf Schlag Leute in mein Büro kamen, um eine Einschätzung oder Entscheidung einzuholen. Ich fühlte mich bedrängt – aber auch geschmeichelt, so gefragt und unentbehrlich zu sein.

Laufen lassen statt zu viel Unterstützung

Zu erkennen, dass zu viel Fürsorglichkeit auch die Selbstverantwortung des Teams schwächt, war ein Augenöffner für mich, den ich heute in vielen Coachings weitergebe. Neulich etwa bei einer Klientin, die sich sehr für ihr Team engagierte. Ich bat sie, Feedback einzuholen, wie ihr Führungsstil ankommt. In der nächsten Session berichtete sie, ihr Werkstudent habe sich bedankt, weil er sich sehr wertgeschätzt fühle, aber auch gesagt: "Du fragst bei neuen Projekten immer: ,Was brauchst du noch von mir?‘. Frag doch einfach mal nur: ,Was brauchst du noch?‘, denn so oft, wie du glaubst, musst du gar nichts für mich tun.“

Mehr Hilfe offerieren als nötig – warum tun wir das? Aus unterschiedlichen Gründen: 1. Weil uns in unserem Elternhaus vermittelt wurde, dass wir nur dann ein guter Mensch sind, wenn wir Schwächeren helfen, für andere da sind. 2. Weil wir einen inneren Antreiber in uns haben, der uns unermüdlich einflüstert: "Sei stark!“ und Schwäche als Versagen ansieht. 3. Weil wir unbewusst andere von uns abhängig machen und so unsere Bedeutsamkeit sichern wollen.

Ich achte also mittlerweile ziemlich stark darauf, aus welchen Motiven ich anderen hilfreich zur Seite stehe. Und doch bin ich neulich wieder in die Falle getappt. Ich hatte eine Klientin, die ich online coachte. Jeder Termin begann damit, dass sie sich entschuldigte, die Hausaufgaben, die ich ihr zur Reflexion aufgegeben hatte, nicht gemacht zu haben. Es tue ihr so leid, jammerte sie, sie habe es einfach nicht geschafft. Ich reagierte stets auf die gleiche Weise: Ich beschwichtigte, das sei doch alles nicht so schlimm.

Wie hilft man seinem Gegenüber wirklich?

Nach zehn Coachingstunden stellte ich fest, dass sie aufgehört hatte, überhaupt irgendetwas fürs Coaching zu tun. Ich war unzufrieden mit der Situation und bat meinen Supervisor um ein Gespräch. Als ich beschrieb, dass ich mich oft wie eine Lehrerin fühle, vor der die Schülerin zu Kreuze kriecht, fragte er, was ich getan habe, um das zu verhindern. Ich sagte, ich hätte sehr verständnisvoll reagiert, damit sich mein Gegenüber besser fühle. Sein Kommentar: "Und genau mit deiner Fürsorglichkeit hast du das Gefälle zwischen euch noch verstärkt. Genauso gut hättest du sagen können: ,Es ist Ihre Entscheidung, wenn Sie die Hausaufgaben nicht machen, Sie sind schließlich erwachsen.‘“ – "Wäre das nicht als Provokation rübergekommen?“, fragte ich. "Es hätte Augenhöhe hergestellt“, antwortete er. "Deine Klientin hätte so begriffen, dass sie selbst zu wenig Initiative zeigt.“

Erst ärgerte mich der Rat meines Supervisors, dann wurde mir klar, dass ich mich unbewusst entschieden hatte, der nette Coach zu sein, nicht unbedingt der entwicklungsfördernde, unbequeme. Stärke – dazu zähle ich auch Trost und Mitgefühl – kann also auch verkehrt sein. Weil wir Menschen in ihren schwachen Momenten erlauben, schwach zu bleiben, statt ihre eigene Stärke zu entdecken. 

Reinhard Haller: "Das Wunder der Wertschätzung: Wie wir andere stark machen und dabei selbst stärker werden“, 208 Seiten, 17,99 Euro, Gräfe und Unzer.
Reinhard Haller: "Das Wunder der Wertschätzung: Wie wir andere stark machen und dabei selbst stärker werden“, 208 Seiten, 17,99 Euro, Gräfe und Unzer.
© PR

Kleine Übung

Du neigst dazu, immer die Starke zu sein? Hast meist sofort einen Rat oder eine helfende Hand parat? Probier aus, was passiert, wenn du beides unterlässt. Wie fühlst du dich dabei, kannst du es überhaupt aushalten? Und was bewirkt es beim anderen? Gerade in langjährigen Beziehungen ist es erhellend, mal aus der angestammten Rolle auszusteigen. Vielleicht ist dein Gegenüber viel stärker, als du glaubst?

Brigitte

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