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Psychologie Der Sorites-Effekt erklärt, warum dir das Leben meistens einen Schritt voraus ist

Psychologie: Eine Frau mit Sonnenbrille
© PhotoJuli86 / Shutterstock
Passieren in deinem Leben auch manchmal Dinge, bei denen du dich fragst: Wie konnte ich das nicht kommen sehen? Vielleicht liefert der Sorites-Effekt die Erklärung.

Plötzlich ist alles zu viel. Die To-dos bei der Arbeit, für die wir nicht angemessen entlohnt werden. Das Chaos in der Wohnung, das wir nicht mehr mit der üblichen Viertelstunde Hausarbeitszeit am Tag in den Griff kriegen. Das unangenehme Gefühl, dass eine Beziehung uns deutlich mehr Kraft kostet, als sie gibt.

In Wahrheit sind es oft schleichende Entwicklungen, die uns in solche Situationen bringen. Doch meist nehmen wir das Schlamassel erst wahr, wenn es zu groß ist, um es mit einer kleinen Handbewegung zu beseitigen. Wir erkennen, dass das Fass übergelaufen ist, während wir schon in einer Pfütze stehen. 

Sorites-Paradoxie: Ein Sandkorn macht keinen Haufen

Ein Grund dafür mag darin liegen, dass wir die Welt nicht sehen, wie sie ist, sondern in Kategorien einordnen. Hell, dunkel, hoch, tief, gut, böse. Dazwischen erkennen wir Abstufungen, zum Beispiel Dämmerung, mittlere Schieflage, ausgeschlafen ganz okay. Allerdings längst nicht alle. Veranschaulichen und auf den Punkt bringen lässt sich dieses Phänomen mit dem Sorites-Effekt.

Den Sorites-Effekt, eigentlich die Sorites-Paradoxie (soros ist griechisch für Haufen), beschrieb der Philosoph Eubulides, ein Zeitgenosse Aristoteles, sinngemäß folgendermaßen: Wir alle können einen Haufen Sand als Sandhaufen erkennen und sind uns darin einig, dass ein Sandkorn kein Haufen ist. Auch wenn wir einem Sandkorn ein zweites Sandkorn hinzufügen, haben wir noch keinen Haufen. Ein einziges Sandkorn, das wir ergänzen, macht keinen Unterschied zwischen Haufen und Nicht-Haufen. Wenn wir aber von einem Korn ausgehend immer mehr einzelne Sandkörner hinzufügen, haben wir irgendwann doch einen Haufen. Wie kann das sein, wenn doch das Hinzufügen eines Sandkornes keinen Unterschied macht?

Feinheiten und kleine Veränderungen bleiben uns verborgen, bis ...

Wir sind nicht in der Lage, die feinsten Veränderungen zu erkennen, die dazu führen, dass aus einem Korn ein Sandhaufen wird. Wir sehen den Haufen erst, wenn er da ist, die einen vielleicht etwas früher als die anderen. Doch wir sehen ihn nicht kommen.

Und so ähnlich läuft es in vielen Bereichen unseres Lebens.

Wenn wir zum Beispiel im Job eine Aufgabe on top bekommen, werden wahrscheinlich die meisten von uns sagen: Immer her damit, kriege ich schon hin. Die zweite passt dann auch noch irgendwie und die dritte ist ja so winzig, dass sie praktisch keine Zeit kostet. Eines Tages ist allerdings der Punkt erreicht, an dem wir feststellen, dass wir, wenn nicht überfordert, so doch zumindest maßlos unterbezahlt sind für das, was wir alles jeden Tag auf dem Tisch haben. Entsprechende Beispiele finden wir in unseren Beziehungen ("wegen einer unabsichtlichen Verletzung muss ich ja keinen Laden aufmachen"), alltäglichen Belangen ("ein Brief mehr macht meine Ablage auch nicht viel chaotischer") und anderen Bereichen.

Was tun?

Nun ist es nur so: Wir können daran nicht allzu viel ändern. Die Welt ist zu komplex, als dass wir sie in all ihren Feinheiten und Details erfassen könnten. Wir müssen sie in Kategorien einordnen, damit wir uns in ihr zurechtfinden. Der Preis, den wir dafür zahlen – dass uns das Leben manchmal einen Schritt voraus ist – ist geringer als der Preis, den wir für den Verzicht auf unsere ausgedachte Ordnung zahlen würden. Der wäre womöglich, nicht einmal im Nachhinein erkennen zu können, dass wir überholt wurden. Und nicht zu wissen, was überholt werden eigentlich bedeutet.

Dennoch können wir aus der Sorites-Paradoxie Schlüsse ziehen, die für unser Leben wertvoll sind. So ist es einerseits wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass das, was wir wahrnehmen, nicht die Wirklichkeit ist, sondern ein vereinfachtes Bild davon. Dieses Bewusstsein ändert vielleicht nicht sofort etwas an diesem Bild, kann aber unsere Offenheit und Bereitschaft dafür erhöhen, es, wenn nötig, zu korrigieren. Nur weil wir einen Menschen lächeln sehen, heißt das zum Beispiel nicht, dass er glücklich ist. Eine Frau mit dunkler Hautfarbe kann genauso gut aus Hannover kommen wie aus Stockholm, Singapur oder Detroit. Sachverhalte sind selten so einfach und klar, wie sie uns erscheinen. 

Was andererseits den Vorsprung des Lebens angeht, können wir dank der Erkenntnis aus der Sorites-Paradoxie zumindest versuchen, möglichst genau hinzuschauen, wenn es um wichtige Angelegenheiten geht wie unser Lebensglück, unsere Gesundheit, unsere Liebsten, unsere engen Beziehungen, unseren Job. Wir können uns regelmäßig Zeit nehmen, um unser Leben zu reflektieren, die Veränderungen, die darin vorgehen, nachzuvollziehen, Trends zu erkennen, nachzuspüren, was diese mit uns machen und ob wir die Dinge laufen lassen oder eingreifen möchten. Denn auch wenn wir niemals den Unterschied wahrnehmen werden, den ein einziges Sandkorn ausmachen kann: Mit etwas Glück und Übung erkennen wir den Sandhaufen vielleicht irgendwann rechtzeitig. Das heißt, bevor er zu groß ist, um ihn plattzumachen, sollte er uns den Weg versperren.

Verwendete Quelle: Kevin Dutton "Schwarz. Weiß. Denken! Warum wir ticken, wie wir ticken, und wie uns die Evolution manipulierbar macht" dtv

sus Brigitte

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