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Silke Ohlmeier Soziologin erklärt, was es mit der Langeweile auf sich hat

Silke Ohlmeier: Eine Frau am Laptop
© simona / Adobe Stock
Sie hat kein gutes Image und wir tun alles, um sie zu vermeiden. Bloß nicht langweilen! Welche Dosis erholsam ist und wann sie zum Problem wird, erklärt die Soziologin Silke Ohlmeier.

BRIGITTE: Boah, ich musste gerade stundenlang Artikel abheften, das war irre langweilig. Ist Unterforderung genauso stressig wie Überforderung?

SILKE OHLMEIER: Es ist ähnlich schlimm. Langeweile ist im Kern eine Form von Stress, sie geht einher mit Unruhe. Deswegen fühlt sie sich genauso quälend an wie Überforderungsstress.

Trotzdem reden wir viel lieber darüber, dass wir zu viel zu tun haben als zu wenig. Warum ist das so?

Ich bin immer wieder fasziniert, mit welchen starken negativen Emotionen Menschen auf Langeweile reagieren – gerade in Kontexten wie Mutterschaft, Job oder Freizeit. Langeweile wird oft gleichgesetzt mit Faulheit, nichts zu tun haben, und das ist verpönt. Zu sagen, ich bin gestresst, ich stehe kurz vor dem Burn-out, passt besser zu den Idealen unserer Leistungs- und Entertainmentgesellschaft.

Eigentlich paradox: Denn gleichzeitig sehnen sich gerade berufstätige Mütter oft danach, sich mal wieder richtig zu langweilen …

Die meisten Menschen meinen damit: Ich sehne mich nach weniger tun, nichts tun oder Entspannung. Langeweile dagegen ist ein "unangenehmes Gefühl, einer befriedigenden Tätigkeit nachgehen zu wollen, es aber nicht zu können", wie es der Langeweile-Forscher John Eastwood definiert. Nach einem unangenehmen Gefühl sehnt man sich eher selten.

Ist Langeweile immer schlecht?

Es gibt eine milde Form der Langeweile, die ganz schön ist: Man ist entspannt, hat nichts vor, es ist gemütlich, auch wenn eine diffuse Langeweile da ist. Aber man kann sie noch genießen – und das ist durchaus erholsam. Außerdem gibt es die situative Langeweile, zum Beispiel wenn ich im Stau stehe. Sie ist nicht schön, hat aber auch keine negativen Auswirkungen, weil sie vorbeigeht und zum Leben dazugehört. Und dann gibt es die chronische oder existenzielle Langeweile, was bedeutet, dass ich mich in einem ganzen Lebensbereich langweile – in der Elternschaft, in der Partnerschaft, im Job, in der Rente. Studien zeigen, dass sie einhergeht mit erheblichen negativen Folgen: Alkoholkonsum, Drogen- oder Spielsucht, Einsamkeit, Essstörungen, Depressionen. Langeweile kann hier den positiven Impuls geben, seine Situation zu verändern. Wenn das nicht passiert, ist sie destruktiv und erzeugt Hypostress, das heißt, der Körper erzeugt gar nicht mehr genug Energie, um die Situation zu bewältigen.

Als Mutter mag man ja eher nicht zugeben, dass es langweilig ist, mit Legosteinen zu spielen …

Dann wird daraus ein doppeltes Leiden: an der Langeweile an sich und an dem Stigma. Mit mir ist was falsch, so darf ich mich nicht fühlen; ich habe erwartet, ich bekomme ein Kind und bin glücklich. Als Mutter ist es sehr schwer zuzugeben, dass ich mich langweile. Dabei gibt es viele Mütter, denen es so geht. Häufig fühlen die sich mit ihrem Problem jedoch ziemlich allein.

Sollte Langeweile also raus aus der Tabuzone?

Chronische Langeweile ist was Negatives, klar, aber wir brauchen einen entspannteren Umgang damit. Deswegen ist es wichtig, sich gerade in Übergangssituationen wie zur Mutterschaft, zur Rente, in der Arbeitslosigkeit langweilen zu dürfen und offen darüber sprechen zu können. Dann kann man einen besseren Umgang damit finden.

Vom Job kann ich mich befreien, von einer Mutterschaft nicht.

Langeweile hat viel mit Privilegien zu tun, sie ist politisch. Für manche Menschen ist es gar nicht so einfach, sich aus einem langweiligen Job zu befreien. Wenn man sich das Thema Mutterschaft anschaut, ist ein Teil des Problems, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Frauen hauptverantwortlich für Care-Arbeit und oft ein Jahr zu Hause sind. Dann steckt da drin, dass Frauen oft weniger verdienen als Männer. Es gibt wenig Kita-Plätze. Wenn die Care-Arbeit gleichberechtigter verteilt wäre zwischen den Partner:innen und es mehr Kinderbetreuungsangebote gäbe, gäbe es auch mehr Möglichkeiten, damit umzugehen. Das würde das Problem lösen, weil es mehr selbstbestimmte Zeit für Mütter ermöglichen würde. Keine Lösung wäre es, einen weiteren Mutter-Kind-Kurs zu machen.

Das machen aber viele: noch mehr Aktivität, um sich abzulenken und sich bloß nicht zu langweilen.

Stimmt. Deswegen ist es wichtig, sich den Unterschied bewusst zu machen: Was mache ich wirklich gerne? Und was ist einfach nur Ablenkung von der Langeweile, die mich aber weiter in der Situation hält? Zu schauen, wo gibt es Stellschrauben, was kann ich ändern. Steckt da zum Beispiel ein Ideal von guter Mutterschaft dahinter, mit dem ich mich kritisch auseinandersetzen kann? Kann ich nicht eine gute Mutter sein, obwohl ich mal wütend und gelangweilt bin? Aber nicht alle Situationen sind lösbar, und da hilft es, das Gefühl zu enttabuisieren, sodass Menschen offen über ihre Langeweile sprechen können und sich verstanden fühlen. Mit Akzeptanz löst sich viel.

Ich beobachte an mir auch, dass ich mich ständig ablenke: Wenn ich gestresst von der Arbeit komme, räume ich hektisch auf, scrolle durch die sozialen Netzwerke. Das Handy lädt dazu ja förmlich ein.

Ja, das ist schwierig. Wenn man in einer chronischen Langeweile steckt – also gelangweilt ist von Partnerschaft oder Arbeit –, dann hilft es nicht, ständig das Handy rauszuholen oder eine Serie anzuschauen. Bei mir ist es so: Wenn mein Sohn abends im Bett ist und ich endlich machen könnte, was ich wollte, bin ich oft erschöpft und gelangweilt. Langeweile ist ja auch immer ein Konzentrationsproblem. Ich kann mich dann nicht mehr konzentrieren auf ein Buch, bin auf Instagram unterwegs und gehe gelangweilt ins Bett. An meinen guten Tagen merke ich aber, dass die Langeweile eine Folge der Erschöpfung ist und ich jetzt nicht noch mehr Aktivität draufpacken muss, sondern dass es darum geht, erst mal wieder in einen passiveren Modus und eine Entspannung zu kommen. Und da hilft es mir, Yoga zu machen, ein Bad zu nehmen, Musik zu hören. Wenn es gut läuft, komme ich runter und kann dann vielleicht doch noch ein Buch lesen.

Haben wir verlernt, uns zu erholen?

Wenn ich auf mich gucke, dann merke ich schon und beobachte es auch in meinem Umfeld, dass es schwer ist, aus dem Stress rauszukommen und nicht dem Ideal, aktiv zu sein, ständig zu entsprechen. Die Erzählung, dass wir immer etwas tun müssen, um eine gute Zeit zu haben, hält unser Hamsterrad aufrecht. Langeweile ist nicht Erholung, aber vielleicht müssen wir sie mal in Kauf nehmen, um ein weniger verplantes Leben zu führen. Vielleicht langweilt man sich dann mal, aber man hat auch die Chance sich zu fragen, was brauche ich jetzt eigentlich gerade. Nichtstun ist nicht Langweile, aber Erholung ist auch nicht gleich Nichtstun. Ich merke oft, dass ich zwischen den Polen "Zu viel" und "Zu wenig" pendele, aber mich dann auf dem Sofa auch nicht erhole. Es geht darum zu schauen, wozu möchte ich einen Beitrag leisten, aber gleichzeitig eine Balance aus Aktivität und Passivität hinzubekommen. Wie man Erholung findet, ist dann individuell – ob man alleine spazieren geht oder ein Buch liest.

Langweilen Sie sich heute anders?

Ich habe verstanden, dass Langeweile oft ein Konzentrationsproblem ist und bei mir aus Erschöpfung entsteht und es dann nicht "mehr" sein muss, sondern "weniger", um das zu lösen. Wenn ich mich als Mutter langweile, versuche ich nicht, noch mehr Beschäftigung zu suchen, sondern eine:n Babysitter:in zu finden oder die Zeit mit meinem Mann anders zu verhandeln. Und trotzdem langweile ich mich ab und zu, gerade abends, wenn ich mich zu nichts aufraffen kann – und das ist dann auch okay.

Langeweile also als eine Art Weckruf, genauer hinzuschauen, was ich eigentlich brauche?

Genau. Es geht nicht darum, die Langeweile die ganze Zeit zu vermeiden, sondern in der Situation hinzuschauen: Was brauche ich. Aber auch zu akzeptieren, dass das Bedürfnis, etwas Befriedigendes tun zu wollen, mit anderen Bedürfnissen konkurrieren kann – mit Sicherheit zum Beispiel. Sicherheit ist eine Langeweilequelle. Jemand, der verbeamtet ist, Ende 50, und seinen Job öde findet – sollte der wirklich kündigen? Nicht zwangsläufig.

Sondern?

Man kann der Situation einen anderen Sinn geben. Langeweile ist besonders quälend, wenn das Ziel Glücksmaximierung ist. Ich kann aber auch sagen, mein Ziel ist nicht möglichst viel Erfüllung im Job, sondern meiner Familie einen guten Lebensstandard zu ermöglichen. Und das ist gerade wichtiger. Das trägt zumindest ein bisschen.

Die Soziologin Silke Ohlmeier, 37, arbeitet an der Universität des Saarlandes und hat ihre Dissertation über Langeweile geschrieben. Ihr Buch heißt "Langeweile ist politisch" (192 S., 23 Euro, Leykam Verlag).
Die Soziologin Silke Ohlmeier, 37, arbeitet an der Universität des Saarlandes und hat ihre Dissertation über Langeweile geschrieben. Ihr Buch heißt "Langeweile ist politisch" (192 S., 23 Euro, Leykam Verlag).
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Brigitte

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